12
Nach ein paar Tagen reisten die beiden nach Luosto weiter, wo sie wieder Schneehuhn speisten – diesmal Schneehuhnbrust in Kognak-Wild-Soße. Die Soße war, außer mit Kognak, nur mit ein paar Wacholderbeeren und Rosmarin gewürzt, zusätzlich wurde in einem gesonderten kleinen Schälchen Ebereschengelee gereicht. Diesmal nahmen sie vorweg keinen Schnaps, sondern tranken zum Essen einen leichten Chablis aus Burgund.
Zur Nachspeise, einem Parfait mit Moltebeerengelee, genossen sie einen Moltebeerenlikör, und schließlich beendeten sie die Mahlzeit mit schwarzem Kaffee und ein paar Kognaks.
Es war bereits später Abend, draußen fiel leiser Regen. Vor dem dunklen Hintergrund des Waldes zeichneten sich die grauen Gestalten zweier Rentiere ab. Sie standen durchnässt und mit hängenden Köpfen hinter dem Parkplatz, Insekten hatten sie den ganzen Sommer hindurch geplagt, trotz des regnerischen Wetters. Hermanni erzählte, dass nach dem Tode eines alten Holzfällers dessen Seele in einem Rentier weiterlebte.
»Wer mögen die armen Viecher drüben am Waldrand sein? Eines von ihnen ist vielleicht Kurko, der König der Wälder. Ein Quartalssäufer erster Güte, im nüchternen Zustand verrückt nach Arbeit, und betrunken nur verrückt.«
Ragnar meinte, dass das zweite Rentier der legendäre Schmucke Jussi sein könnte, aber Hermanni war der Meinung, dass der nicht mal nach seinem Tod so jämmerlich aussehen würde. Eher wäre er ein prächtiger wilder Bock. Dann fiel ihm ein, dass der Schmucke Jussi als Folge der Kinderlähmung ein verkrüppeltes Bein gehabt hatte und dass er auch sonst recht hässlich gewesen war. Falls der Schmucke Jussi im Augenblick seines Todes zu einem wilden Ren geworden war, so hatte das unter Umständen ein verkürztes Hinterbein.
Die beiden Männer saßen an einem Seitentisch des Restaurants, die Nachbartische waren leer. Ragnar Lundmark kam jetzt auf den Volksaufstand zu sprechen, den Hermanni unlängst erwähnt hatte, und fragte geradeheraus, ob diese Revolte der Arbeitslosen ein Scherz und damit der humorvolle Abschluss eines angenehmen Abends gewesen war.
»Für mich ist der Gedanke durchaus nicht zum Lachen. Ich plane diesen Krieg schon seit einigen Jahren, und er ist alles andere als ein Scherz.«
Ragnar fand die Idee bedenklich. Hatte denn die finnische Arbeiterklasse gar nichts aus den Ereignissen von 1918 gelernt? Musste das Volk erneut zu einem blutigen Bürgerkrieg angestachelt werden?
Darauf erklärte Hermanni, dass es diesmal nicht um die Arbeiterklasse ging, sondern, im Gegenteil, um die Klasse der Arbeitslosen. Ein Blutvergießen wünschte auch er sich nicht, aber andererseits war es unmöglich, einen Krieg oder auch nur einen Aufstand zu planen, der unblutig wäre.
»Das ist es ja gerade. Man müsste mit blauen Flecken davonkommen und auch noch den Sieg einfahren«, sinnierte Hermanni Heiskari über seinen Krieg.
Bei einem Glas Kognak ließen sich leicht Kriegspläne schmieden. Wie viele Kriege waren wohl durch das inspirierende Aroma des Kognaks initiiert worden? In Ragnars und Hermannis Gläsern blinkte französischer Courvoisier, eigentlich norwegischer, wie Ragnar erwähnte, denn die Norweger hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die Destillationsanlage und die Marke gekauft. Natürlich wurde der Courvoisier nach wie vor in Frankreich hergestellt, denn im hohen Norden gedieh die Traube ja nicht. Courvoisier war, soweit sich Ragnar erinnerte, Napoleons Lieblingsgetränk gewesen, er hatte sich einen Vorrat auf dem Schiff mitgenommen, mit dem er ins Exil fuhr. Das Getränk hatte also eine ausgeprägte militärische Vergangenheit.
Hermanni war der Meinung, dass den Arbeitslosen eine wirkliche Beschäftigung geboten werden musste, und die brachte ein Aufstand stets mit sich. Die Leute mussten anderes zu bedenken haben als die ewige Geldknappheit und das Gefühl des eigenen Versagens.
»Ist ein Krieg nicht dennoch ein zu starkes Mittel gegen das Versagen? Im Krieg wird mehr als nur die Zeit totgeschlagen«, gab Ragnar Lundmark zu bedenken.
»Für einen Oberst sind Sie ziemlich sentimental. Ich hatte gedacht, dass Sie sich mit mehr Eifer an der Planung beteiligen.«
»Nicht alle Oberste sind kriegswütig.«
»Aber bedenken Sie, nach einem geglückten Aufstand würden Sie ohne Weiteres General!«
Ragnar fragte, ob sich Herr Heiskari zum Diktator Finnlands einsetzen lassen würde, falls der irrsinnige Plan gelingen würde. Hermanni verneinte den Gedanken. Auf gar keinen Fall.
»Warum planen Sie dann den Volksaufstand?«
»Als Arbeitsloser hat man jede Menge Zeit, so konnte ich diese Vorbereitungen treffen, damit wir dann im Ernstfall gewappnet sind. Spontane Revolten enden immer mit einer Niederlage, nur die gut geplanten sind erfolgreich.«
Ragnar Lundmark fragte sich, ob Hermanni Heiskari vielleicht nur ein einfacher Mann aus dem Volk war, der sich an einem wahnwitzigen Gedanken ergötzte, um ihn, Ragnar, zum Besten zu halten. Aber egal, warum sollte er sich nicht an diesem Spiel beteiligen, solange es nur ein Tischgespräch zwischen ihnen beiden blieb.
Hermanni erzählte, dass die Arbeitslosen nach bewährter Revolutionsmanier kleine voneinander getrennte Zellen bilden könnten, die drei oder höchstens vier Mitglieder und keinen Kontakt zu den anderen Zellen hätten, sondern von außen gelenkt würden. Die heutige Druck- und Datentechnik eigne sich vorzüglich für revolutionäre Aktivitäten. Sogar das Internet konnte man nutzen, und die Druckkosten wären nicht hoch. Handys, Radiosender, sogar die Fernsehwerbung und die Presse ließen sich unter bestimmten Voraussetzungen für die Verbreitung der Idee einspannen.
»Unter den Arbeitslosen gibt es gut ausgebildete Spitzenkräfte aus allen wichtigen Branchen, speziell Computerfachleute und Journalisten in rauen Mengen. An Offizieren herrscht allerdings Mangel, sodass Sie als Oberst jetzt die Chance Ihres Lebens erhalten.«
Ragnar Lundmark wand sich, als er spürte, wie die ihm übertragene Verantwortung weiter wuchs.
»Ich bin ja bereits aus dem aktiven Dienst ausgeschieden.«
»Umso besser, dann ist der Posten kein Hindernis, wenn die Kanonen in Stellung gebracht werden.«
Hermanni Heiskari erläuterte seine Pläne weiter:
»Den revolutionären Zellen der Arbeitslosen werden sofort interessante Aufgaben übertragen. Sie müssen natürlich ideologische und militärische Selbsterziehung betreiben, außerdem sollen sie ganz praktisch dazu verpflichtet werden, den Feind zu beobachten und über dessen Aktivitäten zu berichten.«
Unter den Feinden, also den Gegnern des Volksaufstandes, waren laut Hermanni natürlich die Arbeitgeber zu verstehen, all jene Unternehmer, die ihre Fabriken automatisierten und die Arbeiter wegrationalisierten. Das Kapital schafften sie bei jeder passenden Gelegenheit ins Ausland, und das arme Volk ließen sie kaltschnäuzig leiden. Die Arbeitslosen waren überflüssig. Ein Bauer schlachtet seine Kuh, und ein Fabrikant entlässt seinen Angestellten. Es ist dasselbe, beides gleich schlimm.
Die Zellen der Arbeitslosen würden damit beginnen, jene teuflischen Bosse zu beobachten, ganz im Stil der Geheimpolizei in der Zarenzeit. Das wäre spannend und sehr wirkungsvoll. Industrielle, Spekulanten, Erbschleicher, Sanierer und Finanzhaie würden in drei Schichten beobachtet, unablässig, Tag und Nacht. Permanent würde ihnen ein Schatten folgen. Diese grausame und wortlose Bedrohung würde sie binnen Kurzem nervlich ruinieren.
»Man stelle sich vor, so ein feiner Pinkel kommt abends aus dem Büro nach Hause, und hinter dem Gartenzaun der Villa steht im Schneefall ein einsamer verbitterter Arbeitsloser, dessen Zigarette in der Dunkelheit glüht. In der Nacht wird der Bewacher ausgetauscht, und morgens, wenn der Ausbeuter zur Arbeit fahren will, verraten die Fußspuren im Schnee, dass der Beobachter durchs Fenster ins Haus gelugt hat, die ganze Nacht hindurch.«
Hermanni Heiskari trank erregt von seinem Courvoisier. Er behielt den Kognak lange auf der Zunge, ehe er ihn hinunterschluckte.
Sechs Damen drängten schwatzend ins Restaurant, allesamt sympathisch und offenbar aus demselben Betrieb, da sie einander gut kannten. Sie bestellten sich Kaffee und dazu einen Likör. Als sie das Bestellte erhalten hatten, prosteten sie sich eifrig zu. Hermanni und Ragnar schnappten einzelne Worte und sogar ganze Sätze ihres Gesprächs auf. Die Frauen schienen sich über die Arbeitslosigkeit zu unterhalten, worüber auch sonst. Eine von ihnen äußerte sich verwundert darüber, dass es in Finnland wegen der furchtbaren Massenarbeitslosigkeit noch nicht geknallt hatte. Darauf meinte die Älteste in der Gruppe, dass es zum Aufstand kommen werde, wenn sich nichts ändere.
»Es gibt Krieg, lasst euch das gesagt sein.«
»Ist es nicht schrecklich, wenn anständige Menschen nach Brot anstehen müssen? Genau wie in Russland oder irgendwo in Ruanda. Denkt nur!«
»Darauf trinken wir!«
»Auch Heikki, mein Mann, wurde letzte Woche entlassen. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie wir klarkommen sollen. Aber reden wir nicht mehr davon.«
Ragnar entwickelte ein so reges Interesse an dem Gespräch, dass er zur Toilette ging und auf dem Rückweg bei den Frauen stehen blieb, um ein wenig mit ihnen zu plaudern. Als er wieder Hermanni gegenüber Platz genommen hatte, erzählte er:
»Sie sind Unternehmerinnen aus der Parfümeriebranche, kommen aus dem mittleren Ostbottnien, aus Kokkola und Umgebung, und suchen auf der gemeinsamen Reise nach neuen Impulsen für ihre Führungstätigkeit.«
Als die Frauen das Restaurant verlassen hatten und in ihren Bus gestiegen waren, referierte Hermanni weiter über den Plan für seinen Aufstand.
»Man könnte ohne Weiteres Zigtausend solcher Zellen zum Spionieren einsetzen. In Finnland haben wir fünfzigtausend sogenannter Kasinokapitalisten, also könnte man jedem von ihnen ein eigenes Beschatterteam verpassen, das sein Opfer Tag und Nacht beobachtet.«
Ragnar Lundmark wurde klar, dass das zumindest lange Wartelisten für Magenoperationen zur Folge hätte. Der Katarrh würde Finnlands reiche Herren plagen, bei den Opfern der Bespitzelung würden die Magengeschwüre aufbrechen. Er konnte sich gut vorstellen, welche Wirkung diese Form des Kampfes hätte. Hatten nicht gerade die Nazis in den Dreißigerjahren diese Art von psychischem Terror gegenüber den Juden angewandt? Bald darauf wurden dann die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte eingeschlagen, und die Familien wurden in Viehwaggons gepfercht und in Konzentrationslager transportiert, wo man sie tötete. Noch bedrohlicher war die Geheimpolizei der Sowjetunion gewesen, überall in dem Riesenstaat hatte es nur so von ihren Spitzeln gewimmelt. Kein Wunder, dass dieses Vorgehen zu einem Weltkrieg geführt hatte.
Hermanni Heiskari gab zu, dass seine Idee nicht neu war. Die Methode war lediglich schonender, obwohl es sich natürlich um Psychoterror handelte, sofern man denn dieses hässliche Wort benutzen wollte. Aber wenn man in den Kampf zog, war jedes Mittel erlaubt, oder besser gesagt, man durfte auch zu ungesetzlichen Mitteln greifen.
»Krieg ist hässlich und vulgär. Helden sind nur die, die am Leben bleiben und denen es gelingt, sich aus den Konflikten herauszuhalten«, ließ er verlauten. »Bei meinem Plan wird das ganze System auf den Kopf gestellt. Momentan überwacht uns der große Bruder …, die Armee, die Polizei, der Arbeitgeber, die Kirche, die Rentenanstalt, die Sozialbehörde, das Kapital, das Geld, die Herren …, und ich finde, dass endlich mal die Arbeitslosen an der Reihe sein sollten, den großen Bruder zu überwachen.«
Ragnar gab zu bedenken, dass die »Herren« die Möglichkeit hätten, die Polizei einzuschalten, oder zumindest könnten sie private Sicherheitsleute engagieren, die all die Spione aus ihren Vorgärten verscheuchen und wieder in die Brotschlangen zurückjagen würden.
Hermanni schnaubte, dass die Polizei gegen Hunderttausende Arbeitslose machtlos wäre, selbst wenn der gesamte Polizeiapparat auf die Straße geschickt würde. Und die Sicherheitsleute hätte man so schnell weggefegt wie leichten Staub, wenn erst mal alles richtig liefe. Ein paar Dutzend handfester Arbeitsloser hätten jene bezahlten Leibwächter rasch weichgeklopft, eine reine Aufwärmübung.
»Und Motorradgangs?«
Hermanni fand, dass es zu wenige solcher Gangmitglieder gab, außerdem waren auch die seines Wissens längst arbeitslos und vom Hass auf die Herren durchdrungen.
Ragnar Lundmark ahnte, was das Ergebnis des »Überwachungsterrors« sein würde. Die davon betroffenen »Herren« würden das Land verlassen, und zugleich würde sich das Kapital aus Finnland zurückziehen. Ein unglaubliches Chaos würde entstehen. Aber das war wohl eines der Ziele von Hermannis Plan?
»Die Geldleute und das Kapital würden flüchten, das ist klar. Aber jene, die bleiben würden, wären brave Kerle, und die Arbeitslosen könnten ihnen ihre Bedingungen diktieren. Und garantiert würde sich wieder Arbeit finden. Die Sanierer würden auf einmal erkennen, welche Menge an unerledigter Arbeit es gab.«
Hermanni war der Überzeugung, dass sich anstelle der ehemaligen Herren rasch und mühelos neue finden würden. Es gab genug Interessenten, die herrschaftlich leben wollten, unabhängig davon, ob die Zeiten unruhig waren oder nicht. Das Kapital kehrte stets zurück, es verschwand nicht, sondern machte nur mal einen Ausflug in die Welt, um auf bessere Zeiten zu warten. Wenn sich die Situation änderte, wäre das Geld im Bruchteil einer Sekunde wieder da und würde das Land überschwemmen.
»So einfach sind die Pläne, die ich habe«, resümierte er und starrte nachdenklich in sein Kognakglas.
Ragnar Lundmark musste zugeben, dass Hermannis Pläne tatsächlich einfach waren. Bei näherem Nachdenken wurde ihm kalt ums Herz. Die Zeit, da die Arbeitslosen Abordnungen entsandten, war tatsächlich vorbei. Außerdem war Napoleon Korporal gewesen, Hitler ebenfalls, Stalin ein Priesteranwärter, aber Hermanni war immerhin ein Herr Unteroffizier.
In diesem Augenblick explodierte in der Küche des Restaurants ein Druckkessel, die Fenster flogen in den Regen hinaus, und der entsetzte Koch und seine Gehilfen rannten quer durchs Restaurant ins Freie, gefolgt von einer dicken Rauchwolke. Hermanni Heiskari und Ragnar Lundmark betrachteten also ihre Mahlzeit als beendet. Als sie die Rechnung bezahlt hatten, zogen sie sich gedankenvoll zur Nachtruhe in ihre Zimmer zurück.