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Ragnar Lundmark schickte Hermannis Hemden, Unterwäsche, Handtücher und seinen Morgenmantel an eine Stickerin und bat sie, sämtliche Stücke mit zwei verschnörkelten H zu versehen. Die Stickereien sollten mit Seidenfaden ausgeführt werden, jeweils in derselben Farbe, aber einen Ton dunkler als das entsprechende Textil.
Eine Weile überlegte er, ob er für Hermanni auch Visitenkarten drucken lassen sollte, aber was sollte darauf stehen, der Mann hatte ja weder einen Titel noch eine Adresse. »Hermanni Heiskari, obdach- und arbeitsloser Holzfäller aus Lappland« wirkte als Text nicht gerade überzeugend.
Hermanni war nicht so hinterwäldlerisch, dass er keine Krawatte binden konnte, er beherrschte sogar den doppelten Knoten, aber als es an die Fliege ging, musste er passen. Ragnar führte ihm die Hand, aber Hermanni begriff die Idee trotzdem nicht ganz. So setzte sich Ragnar hin und zeichnete Bilder der einzelnen Phasen, und mit ihrer Hilfe konnte Hermanni endlich die erste Fliege seines Lebens knüpfen. Als sie fertig war, war er in Schweiß gebadet.
Jeder finnische Gentleman beherrscht die Kniffe beim Knüpfen einer Fliege, aber sollte sich unter die Leserschaft tatsächlich irgendein Stümper oder gar ein ungeschlachter Holzfäller verirrt haben, sei hier detailliert beschrieben, wie die Fliege unter den geschickten Fingern des Mannes entsteht. Zunächst werden die Enden der Rosette übereinandergelegt, vom Träger aus gesehen das linke über das rechte, als Nächstes wird der linke Zipfel um den rechten geschlungen, von unten nach oben, und noch ein zweites Mal, dann macht man eine kleine Schlaufe um das linke Ende, und zwar so, dass man die Spitze unter dem von links kommenden Knoten hindurchzieht. Nun wird das nach unten hängende rechte Ende zwei Mal gefaltet und mit dem gefalteten Ende unter den vorher gefertigten Knoten gesteckt. Zum Schluss zieht man nur noch leicht an, und fertig. Wie einfach!
In Ermangelung anderer Möglichkeiten meldete Ragnar seinen Schützling zu einem Anfängerkurs für Golf an, der private Trainer oder Pro war ein gewisser Jari Luusua, die Driving Range oder der Abschlagplatz und die dazugehörigen Bahnen befanden sich nördlich der Stadt in Saarenkylä.
Hermanni mokierte sich ein wenig über dieses Ballspiel, das er für einen bloßen Zeitvertreib von Müßiggängern aus der Oberklasse hielt. Ragnar Lundmark erklärte jedoch leicht indigniert, dass es sich keineswegs um ein Hobby der Oberschicht handelte, jedenfalls ursprünglich nicht. Golf war im schottischen Hochland erfunden worden, dort hatten die Schafhirten zum Zeitvertreib mit ihren Stöcken kleine Steine oder Zapfen durch die Luft geschleudert, und wem es gelang, seine »Bälle« in eine gemeinsam vereinbarte Kuhle zu schlagen, hatte die Runde gewonnen. Hirten haben bei ihrer Arbeit Zeit im Überfluss, und so entwickelten sie das Spiel rasch weiter, sie benutzten mehrere Löcher, ließen die Hirtenstäbe beiseite und schnitzten sich kürzere und wirksamere Schläger. Seither hat sich die Idee des Golfs über die ganze zivilisierte Welt verbreitet. Heutzutage sind die Hirten arbeitslos, und das Spiel, das sie erfunden haben, spielen die Herren.
Der Pro Jari erklärte Hermanni die Anfangsgründe, sprach von den Schlägern und den Regeln des Spiels. Als der Holzfäller mit seiner ganzen Kraft den kleinen Ball hinter den Horizont zu schlagen versuchte, ohne nennenswertes Ergebnis, zeigte ihm der Trainer ganz geduldig, wie man die richtige Position einnahm und wie der richtige Griff oder Grip aussah, danach lehrte er ihn auch alle anderen Grundlagen. Ragnar, dessen Handicap 22 war, bekam schon am zweiten Tag Zweifel, ob Hermanni jemals wenigstens passabel spielen würde, aber als der fliegende Geselle schließlich begriff, um was es ging, nahmen die Bälle Fahrt auf. Am dritten Tag führte Jari seinen Schüler endlich von der Driving Range hinaus auf die Bahn und ließ ihn das eigentliche Spiel ausprobieren. Hermanni, der sich seiner eigenen Meinung nach die Schlagtechnik schon ganz gut angeeignet hatte, spielte das Par Drei mit dem Eisen Sieben direkt ins Green. Mit einem Putt war der Ball im Loch. Ragnar brauchte sechs Schläge, bevor er den Ball dort hatte.
Am Abend hatte Hermanni seinen Platzreifeausweis mit einem eingetragenen Handicap von 35. Kein schlechtes Ergebnis für den Abschluss des Anfängerkurses, bestätigte auch Ragnar.
Es war ein zeitaufwendiges Spiel, fand Hermanni. Er ärgerte sich, dass er Golf nicht früher für sich entdeckt hatte. Im Leben der Holzfäller gab es manchmal lange Leerzeiten, in denen sie die Langeweile plagte und sie nichts zu tun hatten. Hermanni konnte sich gut vorstellen, dass sich die Männer nach Ende der Flößperiode und vor Beginn des winterlichen Waldeinschlags die Zeit damit hätten vertreiben können, trockene, reife Kiefernzapfen oder runde, im Wasser abgeschliffene Steine von einem Maulwurfsloch ins andere zu schlagen. Mit der Methode, Tannenzapfen durch die Gegend zu schleudern, hatten ja die schottischen Hirten seinerzeit das Spiel begonnen.
Bei diesen Überlegungen fiel ihm ein, dass die finnischen Soldaten, die während des Krieges desertiert waren und sich in den Wäldern versteckt hatten, die sogenannten Tannenzapfengardisten, mehr Spaß gehabt hätten, wenn sie zwischendurch Tannenzapfengolf gespielt hätten. Daraus wiederum entwickelte sich der Gedanke, dass sie beide, Ragnar und er als die Initiatoren der Arbeitslosenrevolte, sich eigentlich darum kümmern müssten, wie und wo die Aufständischen untergebracht werden konnten, falls auch sie sich verstecken mussten. Klar war, dass im Falle einer Niederschlagung des Aufstands Tausende Arbeitslose in die Wälder gejagt würden wie Hunde, sofern sie sich nicht dem Kriegsgericht stellten.
Es war bereits August, als Ragnar Lundmark in der Informationsabteilung des Generalstabs anrief und sich erkundigte, wo sich das Denkmal der finnischen Tannenzapfengardisten befand und ob es überhaupt ein solches gab.
Im Generalstab reagierte man kühl auf die Anfrage, aber als Ragnar in seiner korrekten Art erklärte, dass er Oberst a. D. sei, zeigte man mehr Entgegenkommen. Gegen Abend bekam er ein Fax mit der verschwommenen Mitteilung, dass sich irgendwo in Nordfinnland, vermutlich in Kolari, die vom Herrn Oberst angesprochene Gedenkstätte der Deserteure befand.
Ragnar nahm Kontakt zur Gemeinde Kolari auf, und dort gab man ihm den Bescheid, dass am östlichen Rand der Ortschaft, am Venejärvi-See, ein paar Unterstände, die sich die Gardisten in die Erde gegraben hatten, bewahrt worden seien.
Die beiden Gefährten ließen den größten Teil ihres Gepäcks zur Aufbewahrung im Hotel zurück und fuhren mit leichter Ausrüstung abermals in den Norden. Sie beabsichtigten, in der Gegend um Kolari ein paar Ausflüge zu machen, den Venejärvi-See und andere Orte zu besuchen. Außerdem würde sich Hermanni bei der Gelegenheit seinen Pass abholen.
Sie reisten im Schlafwagen erster Klasse. Es war eine angenehme Nacht. Hermanni las in seinem Abteil die Biografie von Aladar Paasonen, geschrieben von dessen Tochter Aino. Oberst Paasonen war im Krieg Chef der Aufklärungsabteilung im Hauptquartier gewesen. Die geheime Aufklärung war ein wesentlicher Teil der Kriegsführung, fand Hermanni. Er dachte mit Genugtuung daran, dass im Nebenabteil ein anderer Oberst, Ragnar Lundmark, auf dem Laptop tippte, ein Mann, der jetzt in Friedenszeiten sein Butler war. Aber bei der Frage, wie lange Finnland in Frieden leben dürfte, hatten Lundmark und in jedem Falle er selbst, Hermanni Heiskari, ein Wörtchen mitzureden.
Ragnar Lundmark tippte an diesem Abend keine Änderungsvorschläge in Hermannis Aufstandsprojekt, sondern entwarf das Inhaltsverzeichnis für einen Picknickkorb, den sie auf ihrer Waldwanderung benötigen würden. Nach einer Stunde hatte er die Liste der erforderlichen Zutaten fertig, schloss den matt schimmernden Bildschirm und zog sich anschließend die Decke über die Ohren. Er murmelte ein unzusammenhängendes Abendgebet, in dem er sich, schon im Halbschlaf, wünschte, dass er mit Hermanni Heiskari, der hinter der Wand schlief, tatsächlich bis zum nächsten Sommer gemeinsam reisen dürfte. Er selbst war ein so armer Mann, dass für ihn auf eigene Kosten höchstens eine Fahrt von Tammisaari nach Inkoo infrage kam.
Geldlosigkeit war ein Zustand, der irgendwie zu Leuten passte, die von Geburt an arm waren, wie Hermanni Heiskari und seinesgleichen, Leuten also, die keine Erfahrung mit dem Leben im Reichtum hatten, aber für ehemals Reiche war Armut eine ungeheure Prüfung. Wenn ein Kind mit nur einer Hand zur Welt kam, dann vermochte es sein Los kaum zu beklagen, denn das Fehlen der Hand tat nicht weh, und das Kind hatte nie mit der Existenz zweier Hände Erfahrung gemacht, aber ganz anders war es, wenn ein zweihändiger gesunder Mensch im reifen Alter eine Hand einbüßte, dann hatte er Probleme. Er konnte sich partout nicht daran gewöhnen, mit der Linken zu schreiben, sofern ihm die Rechte abgenommen worden war, und wie sollte er noch Messer und Gabel benutzen!?
Der Zug ratterte über Parkano nach Norden, vorbei an Oulu und Kemi, und morgens erreichte er Kolari.