10

 

Zum Mittag bestellten sie Lachstaschen, die im Bildband als Spezialität des Merihovi gepriesen wurden. Es war gerösteter Lachs in Butterteig, dazu gab es Wurzelgemüse, in Weißwein mariniert, und Butter.

»Das schmeckt wirklich gut«, lobte Hermanni Heiskari und verzichtete dabei auf das »nu denn«.

Hermanni erzählte, dass er in jungen Jahren in der mechanischen Werkstatt der Pajusaari-Fabrik, die zum Kemi-Konzern gehörte, gearbeitet hatte. Damals hatte sich ein gewöhnlicher Arbeiter nicht mal im Traum vorstellen können, je im Merihovi zu essen, weil ihm dazu das Geld und die Krawatte gefehlt hatten. Ragnar fragte verwundert, wieso Herr Heiskari in der Werkstatt einer Holzmassefabrik gearbeitet hatte, wurde dort nicht eigentlich Masse produziert? Und außerdem war ja Herr Heiskari ein fliegender Holzfäller und kein Mechaniker.

Hermanni klärte ihn dahingehend auf, dass in jeder Holzmasse- und Papierfabrik eine eigene Werkstatt gebraucht wurde, in der Ersatzteile gefertigt und sämtliche bei Erweiterungsmaßnahmen anfallenden Metallarbeiten durchgeführt wurden. Um den Job zu bekommen, hatte er sich eines damals üblichen Tricks bedient.

»Während ich in der Schlange anstand, ließ ich verlauten, dass ich fünf Jahre Ausbildung in der Lokomotivwerkstatt von Vaasa hinter mir hatte, und sofort wurde ich eingestellt.«

»Verlangte man denn keine Zeugnisse?«

»Ich versprach, sie am nächsten Tag vorzulegen, aber kein Mensch fragte mehr danach.«

Hermanni hatte sich allerdings sputen müssen, die Arbeit in der Werkstatt zu erlernen. Nachts las er die einschlägigen Lehrbücher, aber die Terminologie musste er sich dadurch aneignen, dass er den Gesprächen der älteren Arbeiter lauschte. Ungefähr ein Jahr lang war Hermanni in der Werkstatt beschäftigt, und in dieser Zeit wurde er firm im Beruf. Er prahlte Ragnar gegenüber, dass er auch heute noch imstande wäre, etwa einen Automotor zu bauen, wenn er die entsprechenden Werkzeuge und das Zubehör bekäme, eine Drehbank, eine Fräsmaschine, Aluminium, Stahl und Lager. Hätte er damals nicht zur Armee gemusst, wäre er vielleicht noch länger in der Werkstatt geblieben.

Ragnar Lundmark fragte, ob Herr Heiskari die Touristenhotels Lapplands von West nach Ost oder in umgekehrter Richtung kennenlernen wollte. Hermanni entschied sich, die Reise im östlichen Winkel zu beginnen. Ragnar besorgte Fahrkarten für den Nachtzug aus Helsinki, und so fuhren sie also nach Kemijärvi.

Während der ganzen Nacht prasselte Regen gegen das Fenster des Schlafwagenabteils.

Dieser Juli war feucht, ständig regnete es. Das Heu verfaulte auf den Feldern, die Partei der Landleute schimpfte auf die Regierung wegen ihres Beitritts zur EU, und die Urlauber klagten über die kühle Witterung. Aber Hermanni Heiskari drehte sich in seinem Schlafwagen erster Klasse zufrieden auf die andere Seite und dachte bei sich, dass es draußen ruhig regnen mochte. Hier lag einer, dem das Wetter nichts anhaben konnte.

Im Traum geisterte durch seinen Kopf der schwache Gedanke, dass er in diesen Himmel der Genüsse quasi am Schenkel einer in Not befindlichen Frau emporgeklettert war bildlich gesehen –, ganz wie ein gieriger Gigolo. Aber der Gedanke machte ihm kein schlechtes Gewissen, es war ein eher angenehmer Traum, und ein Albtraum war es ganz sicher nicht.

Gegen Morgen stoppte der Zug irgendwo östlich von Rovaniemi, als wäre eine Wand vor ihm aufgetaucht. Die Notbremsung war so abrupt, dass die Reisenden das Gefühl hatten, als wäre der ganze Wagen aus dem Gleis gesprungen. Gewaltiges Donnern war zu hören, als die pneumatischen Bremsen über die Schienen schrammten. Hermanni und Ragnar lugten aus dem Fenster. Draußen wurde laut gerufen, und bald liefen einige Männer mit einer Trage am Bahndamm entlang. Anscheinend war irgendetwas passiert. Es regnete in Strömen und war fast finster. Hermanni zog sich den Morgenmantel an und verließ das Abteil, er ging zum Ende des Waggons vor, öffnete die Tür und spähte nach vorn zur Lok. Dort wurde eine Leiche auf die Trage gehoben, ein Mann war unter den Zug geraten, sein Körper in der Mitte durchtrennt, eindeutig Selbstmord. Sicher ein bedauernswerter Arbeitsloser, sagten die Leute mitleidig, während sie aus den offenen Türen schauten. Als der Leichnam an Hermannis Tür vorbeigetragen wurde, floss das Blut des unglücklichen Kerls unter der Decke hervor und tropfte auf den Schotter, wo es sich sofort verteilte und zusammen mit dem Regen von der Erde aufgesogen wurde.

Hermanni kamen die Worte in den Sinn, die die Pfarrer bei der Beerdigung zu sagen pflegten: Von der Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden.

Den Zielbahnhof Kemijärvi erreichten sie am Morgen. Sie überlegten, ob sie in der Stadt bleiben oder gleich zum Pyhätunturi oder nach Luosto weiterfahren sollten. Hermanni wollte bleiben, und damit war die Sache entschieden.

Sie fuhren mit dem Taxi durch den Regen zum Hotel Koilliskunta. Unterwegs fragte Ragnar, wie nahe sie jetzt dem Berg Korvatunturi waren. Befand sich das Weihnachtsmannland hier in Kemijärvi oder anderswo? Ragnar Lundmark war nie zuvor in dieser Gegend gewesen.

Hermanni sagte ihm, dass sich der Korvatunturi gut hundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Kemijärvi befand. Es war ein ganz gewöhnlicher Fjäll, und er lag außerdem an der Grenze zwischen Finnland und Russland. Das Weihnachtsmannland oder vielmehr Verkaufsstätten für weihnachtlichen Kitsch gab es in den verschiedensten Gegenden Lapplands, die größten Läden fand man am Polarkreis nördlich von Rovaniemi.

»Vor zwei Jahren besuchte ich einen Kurs für Wildmarkführer in Rovaniemi. Es war eine Arbeitsförderungsmaßnahme. Dort wurde alten Holzfällern beigebracht, wie man ein Lagerfeuer anzündet. Ich wandte die Zaubertricks der alten Lappen an, und schon brannte das Feuer.«

Ragnar wollte mehr über diese Tricks der Einheimischen wissen. Hermanni verriet ihm, dass man trockene Holzscheite zu einem Kegel aufschichtete, fünf Liter Benzin darübergoss und ein brennendes Streichholz hinterherwarf, und da musste es dann schon mit dem Teufel zugehen, wenn der Zauber nicht wirkte.

In dem Kurs war auch der Service am Kunden Thema gewesen. Die Teilnehmer waren darauf vorbereitet worden, als vielseitige Wildmarkführer den Touristen draußen in der Natur ein exotisches Programm zu bieten, im Bedarfsfall sollten sie auch eine lappische Nojde oder, falls Kinder dabei waren, den Weihnachtsmann spielen. An den Abenden hatten die Kursteilnehmer entsprechende kleine Sketche eingeübt, um sich die Inhalte besser zu merken.

Hermanni war an den gemeinsamen Abenden gern als Weihnachtsmann aufgetreten, war er doch der älteste Teilnehmer des Kurses und somit für die Rolle prädestiniert gewesen. Die anderen hatten die übliche Frage nach dem Alter des Weihnachtsmannes gestellt, und Hermanni hatte geantwortet, dass er mittlerweile schon tausend Jahre auf dem Buckel hatte. Nun, und welche Geschenke hatte der Weihnachtsmann in alten Zeiten an die Kinder verteilt?

»Mich ritt der Teufel, und ich fing an, all die Geschenke der Jahrtausende aufzulisten, die die finnischen Kinder erhalten hatten. Ich erklärte, dass der Weihnachtsmann während der Kreuzzüge noch jung gewesen war, und trotzdem waren aus Schweden reichlich westliche Geschenke über das Meer nach Finnland gebracht worden, mehr, als man sich dort gewünscht hatte. Viele Finnen hatten ihren Kopf eingebüßt, ehe das Volk den neuen Glauben und die Weihnachtsbotschaft angenommen hatte.

Hermanni Heiskaris Weihnachtsmann war mit seinen Geschenken auch an den Tagen des großen Unfriedens und vor allem während des Keulenkrieges unterwegs gewesen, als Hunderte Männer wie die Bullen im Schnee abgeschlachtet wurden. Und erst die internationalen Weihnachtsfeste im Dreißigjährigen Krieg mit all den dazugehörigen Geschenken! Der finnische Weihnachtsmann war mittendrin gewesen, als durch das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch Intrigen gesponnen und Land geraubt wurde, und auch in den hundert Jahren unter russischer Herrschaft war er aktiv gewesen. Es gab Jahre des Todes, in denen der Weihnachtsmann zum Fest mit der Sense erschien. Dann im zwanzigsten Jahrhundert erlebte er den roten Aufstand und den weißen Terror, die Pferderevolte, die Revolte von Mäntsälä, die Fettrevolte …, und schließlich folgten der Winterkrieg, der Fortsetzungskrieg, die Gebietsabtretungen, die Evakuierungen, die Reparationen, der große Frieden und die Sprachlosigkeit der Kekkonen-Ära.

»Ich forderte die anderen sogar noch auf: Kommt, singt ein Lied für den Weihnachtsmann! Und ich stimmte an: Morgen, Kinder, wird's was geben Aber es kam keine richtige Weihnachtsstimmung auf.«

Man hatte Hermanni die Weihnachtsmannmaske heruntergerissen und ihn aufgefordert, den Mund zu halten. Im Abschlusszeugnis des Kurses waren seine Leistungen in den Fächern Kooperationsfähigkeit und künstlerisches Einfühlungsvermögen nicht sehr positiv bewertet worden. Zum Mittag aßen die beiden Männer in einem Restaurant in Kemijärvi die »Botschaft der vier Winde«: Man servierte ihnen eine große ovale Schale, darin lag an einem Ende gerösteter Lachs, es folgten zur Mitte hin mehrere Schneehühner, daneben Bratenstücke vom Rentier und schließlich am anderen Ende noch ein halbes Dutzend Fleischbällchen vom Bären.

Ragnar Lundmark wählte zum Appetitanregen einen Koskenkorva, obwohl, wie er fand, auch ein dänischer Aquavit, zum Beispiel Aalborger, ausgezeichnet gepasst hätte. Die Wahl des Getränkes zum Essen war problematischer, denn in Kemijärvi gab es keine besonders große Auswahl an kräftigen aber nicht zu schweren Rotweinen. Ragnar hätte liebend gern einen Rotwein aus der Region Medoc getrunken, speziell Château Lafite-Rothschild, der nach seinen Erfahrungen wirklich vorzüglich war. Wie dem auch sei, er akzeptierte den vom Restaurant empfohlenen Bordeaux, einen Château St.-Emilion von 1993. Hermanni Heiskari kostete den Wein und erzählte aus jener Zeit.

»Ich weiß nicht mehr genau, ob es 1993 oder später war …, da gab es oben in der Kessimark einen Riesenknatsch in Sachen Naturschutz. Ich arbeitete dort beim Straßenbau, wir bauten eine Brücke über den Paatsjoki. Da rannten am Ende mehr Fernsehfritzen als Bauarbeiter rum.«

Junge Naturschützer hatten sich an die Bagger gekettet, und es war zu etlichen Auseinandersetzungen mit deren Fahrern gekommen. Einer der Baggerfahrer war tätlich geworden gegen die schmächtigen Verteidiger der Ödwälder, die sich ihrerseits hartnäckig an die Maschinen geklammert hatten.

»Na gut, wir flößten einem der übelsten Baggerfahrer schließlich so viel Schnaps ein, dass er sternhagelvoll war. Koskenkorva, den benutzten auch wir damals, und es floss eine ganze Menge davon, ehe der Mann reif war. In der Nacht trugen wir ihn zum Bagger und ketteten ihn ebenfalls an, zufällig direkt neben einem Mädchen. Morgens brachten wir den beiden Wasser und Butterbrote.«

Der Baggerfahrer war morgens erwacht und hatte notgedrungen mit dem Mädchen reden müssen, über Naturschutz, versteht sich. Und als schließlich gegen Mittag die Polizei die Ketten durchtrennt hatte, waren die beiden Arm in Arm in die Baubaracke gegangen, um zu schlafen.

Dieser Fahrer wurde nachher ein ganz verbissener Naturschützer. Heute reist er von einer Versammlung der Grünen zur anderen und hält große Vorträge. Die beiden haben geheiratet und sogar zwei Kinder gekriegt. Neuerdings fährt die Frau den Bagger, macht angeblich zwei Schichten hintereinander und stillt dabei sogar noch das Baby. Aber ihr neugrüner Kerl rennt nur noch zu Versammlungen und propagiert feurig den Schutz der lappischen Wildnis.«