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Ragnar Lundmark stellte ein Portugal-Programm zusammen. Seiner Meinung nach hatte sich Hermanni Heiskari die Manieren eines Gentlemans vollständig zu eigen gemacht und benötigte keine weitere Ausbildung auf diesem Gebiet. Zeit also für die Phase der praktischen Anwendung. Sie würden durchs Land reisen und gentlemanlike leben. Wohnen und speisen würden sie in sogenannten Pousadas, vom Staat unterhaltene Luxushotels. Diese befanden sich in alten Königsschlössern, Klöstern oder prunkvollen Adelssitzen. Ragnar buchte im Reisebüro eine ausgiebige Rundtour durch die Provinz und informierte natürlich auch seine Nichte Lena Lundmark in Maarianhamina über das Vorhaben.
Lena faxte umgehend zurück, dass der Gedanke an eine Rundreise durch Portugal, von Kloster zu Kloster und von Schloss zu Schloss, auch ihr so gut gefiel, dass sie sich anzuschließen gedachte. Sie berichtete, dass sie die Aktien ihrer Reederei realisiert und so die letzten Reste ihres Vermögens gerettet hatte. Die Speditionsfirma hatte neuerdings eine eigene Verwaltung, sodass sie, Lena, ungebunden war und ebenfalls in der Welt herumreisen konnte. Außerdem wollte sie gern mit Hermanni das Hochzeitsarrangement persönlich besprechen, sofern er denn noch zu der Sache stand.
Hermanni fand diese Lösung hervorragend, hatte er doch schon länger Sehnsucht nach seiner Braut. Es ist nun mal so, dass nicht mal ein fliegender Holzfäller auf lange Sicht ohne eine Frau an seiner Seite sein mag. Da hilft es auch nicht, wenn er einen fachkundigen Butler, einen alten Schwulen im Rang eines Oberst, bei sich hat.
Ragnar war bestürzt über Lenas Absichten. Als Hermanni sich darüber verwundert zeigte, knurrte der Oberst:
»Hast du vergessen, dass mein linkes Schienbein gebrochen sein müsste?«
Zweifellos würde Ragnars Bein zu einem Problem werden, da es nicht gebrochen und nicht mal eingegipst war. Lena würde eventuell ein höllisches Theater machen, wenn sie bemerkte, dass sie getäuscht worden war. Also musste rasch eine Lösung her, denn Lena hatte mitgeteilt, dass sie in zwei, drei Tagen in Lissabon eintreffen würde.
»Vielleicht sollte ich dein Bein durchbrechen«, bot Hermanni sich bereitwillig an, aber Ragnar fand das gar nicht lustig. Dann kamen sie auf die Idee, dass Doktor Sorjonen das Bein eingipsen könnte, für ihn, den erfahrenen Orthopäden, wäre das ein Kinderspiel. Lena würde den Betrug nicht merken, und die Männer brauchten keine Rache zu befürchten.
Am Abend, als Sorjonen von seiner Konferenz ins Hotel zurückkam, erzählten sie ihm, dass Lena Lundmark nach Portugal kommen wollte und es gäbe eine Katastrophe, wenn Ragnars Schwindel auffliegen würde. Die beiden konfrontierten den Doktor mit ihrem Rettungsplan: Wie wäre es, wenn er Ragnars Bein eingipste?
Darauf sagte Sorjonen, dass er bisher noch nie in die Verlegenheit gekommen war, nicht vorhandene Krankheiten zu heilen oder heile Gliedmaßen in Gips zu gießen, aber da er sich bereits in Tahiti auf den Schwindel der beiden eingelassen hatte, musste er wohl den Weg bis zu Ende gehen. Er notierte auf einem Zettel das erforderliche Zubehör – nicht ohne die Krücken zu vergessen – und schickte die beiden in die Apotheke. Dort kauften der Patient und sein Kumpan eine beträchtliche Menge Gips, Verbände und anderes, holten aus einem Geschäft für orthopädischen Bedarf vernickelte Krücken und begaben sich wieder ins Hotel und in Doktor Sorjonens Sprechstunde.
Der Doktor wies Ragnar an, die Hose auszuziehen und sich mit dem Rasierapparat die Wade zu rasieren. Eine Weile überlegten sie, welchen Unterschenkel er sich damals in Tahiti gebrochen hatte. Sie wählten den linken, ja, der war es gewesen. Sorjonen zog zunächst einen elastischen Strumpf über das Bein, befeuchtete die Gipsrollen und produzierte eine gewaltige Röhre, die von der Hüfte bis zu den Zehen reichte. Er verpackte das Bein zu einem dicken, unförmigen Klumpen, so wurde sichergestellt, dass der Knochen wieder richtig zusammenwuchs, erklärte er. Bei derart ernsten Frakturen durfte man nicht pfuschen, es war wichtig, die Verletzung richtig zu behandeln, zumal es sich um einen älteren Patienten handelte.
Hermanni Heiskari war derselben Meinung. Obwohl Ragnar an dem Gips wahrscheinlich schwer zu schleppen hätte, dürfte er nicht klagen.
»Die Gesundheit geht vor.«
Doktor Sorjonen erklärte, dass der Gips innerhalb einer halben Stunde trocknen würde, und danach dürfte Ragnar sich wieder bewegen. Als Sorjonen gegangen war, um auf der Konferenz seinen Vortrag zu halten, fing Ragnar an, mit den Krücken zu üben. Es war äußerst beschwerlich und wollte im Gedränge auf den Lissabonner Straßen nicht so recht klappen. So stieg er mit Hermanni denn am Nachmittag in den Bus, und gemeinsam fuhren sie in den am Nordrand der Stadt gelegenen weitläufigen Park, der dem Marquis Pombal gewidmet war und in dem Ragnar genug Platz hatte, die Rolle des Invaliden zu üben.
Auf dem Sportplatz am anderen Ende des großen Geländes wurde gerade mit viel Getöse ein chinesischer Zirkus aufgebaut, dort standen Trucks und Wohnwagen und viele riesige Zelte.
Hermanni vermutete, dass die auftretenden Künstler nicht wirklich Chinesen waren, aber auf entsprechende Nachfrage hieß es, doch, das seien sie, sie stammten ursprünglich aus Macao, das nach wie vor eine portugiesische Kolonie war und weit weg an der chinesischen Küste, am Gelben Meer, lag. Die Zirkusleute sprachen Portugiesisch, beherrschten aber auch Englisch.
Ragnar erzählte ihnen, dass er einst als Kind in Tammisaari beim Aufbau von Zirkuszelten geholfen habe, aber jetzt sei ihm das nicht möglich, da er sich das linke Schienbein gebrochen habe.
Neben dem Zirkus stand ein Restaurantpavillon, in dem Fischgerichte angeboten wurden. Vor den Gehübungen genossen die beiden Männer eine Hummermahlzeit, dazu wählte Ragnar einen portugiesischen Vinho Verde, einen grünen Wein. Er wusste zu berichten, dass eben dieser frische Wein eigentlich eine Art Champagner des einfachen Mannes war und nur in Portugal hergestellt wurde. Den spritzigen Säuregeschmack erreichte man, indem man die Trauben halb reif erntete, sodass sie beim Gärungsprozess mehr Kohlensäure als üblich entwickelten.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit lernte Ragnar mit seinen Krücken einigermaßen zügig zu gehen. Die beiden hatten dem Vinho Verde so reichlich zugesprochen, dass der betagte Patient ohne seine Krücken vermutlich hingefallen wäre.
In den Zelten des chinesischen Zirkus wurden farbige Lichter angeknipst, und auch die Laternen im Park begannen die schöne Anlage zu beleuchten. Die beiden Gefährten wankten aufs Zirkusgelände. Die Chinesen reagierten freundlich. Hier und dort werkelten Arbeiter herum, legten letzte Hand an die Aufbauten, strafften Seile und Trossen, verteilten Sägemehl auf dem Boden der runden Manege. Ragnar und Hermanni saßen im Zuschauerraum und verfolgten die Proben des Orchesters. Hoch oben unter der Kuppel blinkten die dicken Seile und zwei Trapezbretter. Ragnar erzählte, dass sein Großvater einst aufgrund einer Wette auf ein Zirkustrapez geklettert war und beim anschließenden Sprung aufs Trampolin zwei Salti gemacht hatte. Er hatte die Wette gewonnen.
Die Musiker packten ihre Instrumente ein und begaben sich zur Nachtruhe in ihre Wohnwagen. Hermanni und Ragnar blieben allein in dem riesigen Zelt zurück. Vielleicht war es die Wirkung des Vinho Verde, jedenfalls kam Hermanni jetzt auf die Idee, aufs Trapez zu klettern. Das ging auch ganz flott, obwohl der Holzfäller im chinesischen Zirkus Debütant war. Hermanni stellte sich aufs Brett, stieß sich ab und schaukelte nach Herzenslust.
Ragnar konnte der Versuchung nicht widerstehen, er humpelte zum zweiten Trapez, ließ die Krücken fallen und kletterte ebenfalls hinauf. Es war recht mühevoll, der schwere und steife Gips erschwerte die Zirkusambitionen des Mannes, aber obwohl er betagt und schwer invalidisiert war, schaffte er es. Er gelangte nach oben bis auf die höchste Ebene und begann zu schaukeln wie Hermanni. Sie holten beide gleichzeitig Schwung und pendelten durch die Luft wie die Profis.
War das lustig! Der leere Zuschauerraum flimmerte vorbei, wenn die beiden kühnen und eifrigen Mannsbilder hoch oben unter der Zirkuskuppel hin und her schwangen. Sie bedauerten, dass das Orchester schon weg war, nun mussten sie selbst den Takt und die Hintergrundmusik johlen. Ragnar war so fasziniert von den herrlichen Luftschwüngen, dass er beschloss, auch eine Fahrt zu wagen und sich zu Hermannis Trapez hinüberzuwerfen, wie es die richtigen Akrobaten machten. Die beiden Männer pendelten im selben Takt, sodass sie sich am höchsten Punkt der Schwungbewegung die Hand reichen konnten, hallo, grüß dich! Und dann ging Ragnar das höchste Risiko ein, er löste die Hände vom Seil und warf sich durch die Luft mit dem Ziel, in Hermannis Armen zu landen.
»Fang mich!«
Aber es misslang, und Ragnar Lundmark fuhr wie der Wind ins Leere. Er fiel auf das unten aufgespannte Trampolin, dessen elastische Haut wie von einem Kanonenschuss knallte und den Invaliden wieder in die Höhe beförderte. Der zerbrochene Gips verursachte eine riesige weiße Staubwolke, die bald die ganze Manege füllte. Viele Male fiel Ragnar hinunter und sauste wieder nach oben, bis die Bewegung langsam abebbte und er auf dem Gummituch liegen blieb. Sein Gips war in tausend Stücke zerbrochen, und als Hermanni herunterkam, stellte er fest, dass Ragnars linker Unterschenkel seltsam verrenkt war. Er war gebrochen.