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Ragnar Lundmarks betrügerische Botschaft schockierte und ärgerte die Nichte. Die verflixten Kerle hatten sich mal wieder in Schwierigkeiten gebracht, jetzt hockten sie da am Ende der Welt und weinten um Hilfe. Sie hätte die beiden Halunken nie allein so weit weg fahren lassen dürfen. Ein finnischer Mann braucht auf seinen Reisen die Frau und Mutter, die sich um alles kümmert und die Verstand hat. Besorgt schickte Lena Geld nach Tahiti, damit die vom Schicksal gebeutelten aufständischen Guerillaführer sich gesund pflegen lassen konnten.
In Finnland fiel Schneeregen, aber in der Südsee ging der Frühling in den heißen Sommer über, in dem nur der Wind, der vom Ozean her wehte, Kühlung spendete. Die beiden Vagabunden, denen nichts fehlte, nicht mal mehr Geld, hatten es so gut wie nie zuvor. Hermanni sehnte sich zwar nach seiner Verlobten, manchmal sogar sehr, aber er beruhigte sich, wenn Ragnar ihn an die alltägliche Seite der Ehe erinnerte. In dem bald beginnenden Bündnis stünde Hermanni eine bis ans Ende seines Lebens dauernde gemeinsame Wegstrecke mit dieser zielstrebigen Frau bevor. Mindestens zwanzig Jahre Liebe wollten abgearbeitet sein. Dieser Gedanke kühlte die sehnsüchtigen Gefühle so weit herunter, dass sich der Bräutigam wieder auf Segeln, Golf, Kaninchenjagd und Polo konzentrieren konnte, in der letztgenannten Disziplin schlug allerdings Ragnar als Oberst, der er war, stets sämtliche Gegner. In dieser Hinsicht war es ein Glück, dass sein linker Unterschenkel nicht gebrochen war. Ein Einbeiniger spielt kein Polo.
Diese glückseligen Zeiten hätten womöglich fortgedauert, hätte nicht Ragnar Lundmark in seiner Gier der Nichte vorgelogen, dass die Genesung länger dauerte, als angenommen. Er faxte auf die Ålandinseln eine wehleidige Jeremiade, der zufolge sich herausgestellt hatte, dass Hermannis Malaria eine durch Bilharz-Larven verursachte Muskelerkrankung war, und sein eigenes Bein wiederum hatte sich entzündet und musste demnächst operiert werden.
»Somit können wir nicht mehr in diesem Jahr nach Europa zurückkehren, sondern erst in ein, zwei Monaten. Es zerreißt mir das Herz, dir diese Tatsachen erzählen zu müssen, aber wir haben hier in Tahiti niemanden, keinen einzigen Landsmann, dem wir uns anvertrauen könnten, du bist die Einzige, an die wir uns in unserem Kummer wenden können.«
Dieses letzte Fax las er Hermanni nicht vor, sondern erwähnte nur, dass er Lena über die Tatsache unterrichtet habe, dass ihrer beider körperliche Beschwerden die weitere medizinische Behandlung in Tahiti erforderlich machten.
Hoffnungsvoll rechnete Ragnar sich aus, dass sie ihren Urlaub in Tahiti um weitere Monate verlängern könnten. Sein Gewissen protestierte kaum gegen diese Lügen. Eine mögliche Erklärung war, dass sich das Opfer des Betrugs weit weg, auf der anderen Seite des Erdballs, befand, was die Gewissensbisse fast gänzlich verstummen ließ. Vielleicht also machte es die riesige Entfernung zwischen Täter und Opfer, vielleicht auch der große Zeitunterschied, jetlag, criminal lag.
Ragnar hätte nicht zu sehr nach dem Zauber Tahitis gieren dürfen. Lena Lundmark erschrak bis ins tiefste Herz, als sie den jüngsten Bericht ihres Onkels las. Sie rief auf der Stelle ihren Leibarzt Doktor Seppo Sorjonen an. Die aufgeregte Braut bat den Doktor, unverzüglich nach Tahiti zu fliegen und sich um Hermanni Heiskaris und Ragnar Lundmarks Gesundheit zu kümmern. Lena vertraute der polynesisch-französischen Medizinkunst nicht, zumal sich die Beschwerden der beiden Herren trotz eingeleiteter Behandlung nur zu verschlimmern schienen.
Doktor Sorjonen gab zu, dass er stets von einer Reise in die Südsee geträumt hatte, nur leider hatte er bereits zugesagt, in zwei Wochen auf dem internationalen Orthopädenkongress in Lissabon einen Vortrag zu halten. Er hatte also nicht die Zeit, ein anspruchsvolles Referat vorzubereiten und gleichzeitig auf die andere Seite des Erdballs zu reisen, um eine Unterschenkeloperation zu überwachen und sich um die Bilharziose eines fliegenden Holzfällers zu kümmern. Die Berufsbezeichnung des Letzteren nannte er freilich nicht laut. Er forderte Frau Lundmark auf, sich an einen willigeren Kollegen zu wenden. Es gab ja sogar unter den Arbeitslosen Ärzte.
»Aber Sie sind nun mal in meinen Augen der beste Orthopäde der Welt«, seufzte Lena.
Doktor Sorjonen musste zugeben, dass seine Patientin recht hatte. Und außerdem, eine überraschende Reise nach Tahiti würde ihm bestimmt nicht schaden. Sie vereinbarten, dass der Doktor das Material seines Vortrags mitnehmen und gleich am nächsten Morgen auf die andere Seite des Erdballs fliegen würde.
Womöglich erkältete sich Doktor Sorjonen in Singapur, als er dort zu nächtlicher Stunde umherstreifte, denn als er vierundzwanzig Stunden später und nach vielen Zwischenlandungen in Tahiti ankam, hatte er hohes Fieber, vor seinen Augen tanzten Sterne, die Glieder schmerzten gnadenlos, und sein Atem rasselte wie der eines Sterbenden. Zum Glück konnte er sich als Fachmann selbst verarzten, auch war er ja ohnehin auf dem Weg ins Krankenhaus. Mit dem Blumenkranz um den Hals bestieg er auf dem Flugplatz ein Taxi und fuhr im Gewitterregen in die Stadt. Der Donner grollte und Blitze zuckten, sowohl draußen als auch im Schädel des Doktors.
Im Krankenhaus von Papeete gab es keine finnischen Patienten. Äußerst merkwürdig, dachte Sorjonen in seinem Fieber. Waren die beiden inzwischen gestorben? Es gab in der Stadt noch eine zweite Klinik, eine private, aber auch dort kannte man die Messieurs Lundmark und Heiskari nicht, und sie hatten sich dort auch nie aufgehalten. Blieb noch das französische Marinehospital, in das sich Sorjonen mit letzter Kraft schleppte. Auch hier hatte man weder einen finnischen Oberst noch seinen Begleiter als Patienten … böse Geschichte.
Der französische Oberstabsarzt, mit dem Sorjonen in der Sache sprach, schlug ihm vor, gleich selbst zur Behandlung dazubleiben. So schickte man ihn also unter die Dusche, brachte ihn anschließend in einem Privatzimmer für zwei Personen unter, und kurz darauf war auch schon der Tropf angeschlossen. Erschöpft schlief der Doktor mit dem Gedanken ein, dass er seinen Auftrag schlecht erledigt hatte, da er seine beiden in Not geratenen Landsleute nicht hatte finden können.
In den frühen Morgenstunden wurde ein zweiter Patient ins Zimmer gebracht, ein junger und aufgeregter neuseeländischer Seemann, der in sehr schlechter Verfassung war, er war über und über mit schwarzem Öl beschmiert und brabbelte die ganze Zeit eine unverständliche Geschichte von Zigtausend Schafen, die im Ozean ertrunken waren. Sorjonen glaubte zunächst, Fieberträume zu haben, aber als der Bursche seine Geschichte wieder und wieder erzählte, musste er notgedrungen aufwachen. Mit dem Schlaf war es für diese Nacht vorbei. Gegen fünf Uhr erschien ein Sanitäter der französischen Marine, um den Körper des brabbelnden Patienten von der Ölschicht zu befreien. Ein strenger Geruch nach Lösungsmitteln und schwerem Heizöl verbreitete sich im Raum.
Doktor Sorjonen gewann den Eindruck, dass besagter Patient vor einiger Zeit auf einem philippinischen Viehtransportschiff als Decksmann angeheuert hatte. In Auckland war das Schiff mit achtzigtausend Schlachtlämmern beladen worden, die nach Jordanien gebracht werden sollten. Nach zweitägiger Fahrt war das Schiff schon mitten im Stillen Ozean gewesen, und alles hatte bis dahin gut geklappt, lediglich zweihundert Schafe waren in den Verschlägen eingegangen. Die Kadaver hatte man ohne viel Federlesens über Bord geworfen. Dann war im Maschinenraum ein Feuer ausgebrochen, und viele philippinische Maschinisten waren im siedenden Öl verbrutzelt.
Der Rest der Mannschaft hatte eine Weile überlegt, was mit den armen Viechern zu tun sei. Der Kapitän hatte erklärt, dass Schafe seines Wissens nicht schwimmen konnten, auf jeden Fall aber nicht in der Lage wären, Tausende Kilometer bis ans Festland zu paddeln. Und sie zu töten war ein hoffnungsloses Unterfangen, es gab nicht genügend Beile oder Pistolen, auch war nicht die Zeit, auf einem brennenden Schiff achtzigtausend Schafe zu schlachten. Nichts zu machen, jetzt ging es um das Leben der Mannschaft, sie musste das Schiff verlassen.
Jener Patient in Sorjonens Nachbarbett hatte immerhin noch aus Barmherzigkeit hundert Schafe geschlachtet, ehe auch er einsehen musste, dass sein eigenes Leben wichtiger war als das Schicksal der Schafe. Das Schiff hatte bereits starke Schlagseite gehabt, und so war er am Fallreep hinuntergeklettert, um sich schwimmend zu retten, und im Meer hatte er sich dann über und über mit Öl beschmiert. Sechzehn Stunden später hatte ein indisches Frachtschiff die Mannschaft aufgenommen. Ein Teil der Leute war anschließend zur medizinischen Behandlung auf die Cookinsel Rarotonga geflogen worden, einzig ihn, den Neuseeländer, hatte eine Maschine der französischen Luftwaffe an Bord genommen.
Um den Mann zu beruhigen, erzählte Doktor Sorjonen ihm seine eigene Geschichte, die kürzer und nicht ganz so dramatisch war. Gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass ein tüchtiger Drink gut täte, wenn nur erst der Morgen käme. Der schwer gebeutelte Seemann wurde allerdings noch vor dem Morgen zu weiteren Untersuchungen abgeholt.
Alarmiert durch ein Fax von Lena, begaben sich Hermanni und Ragnar am nächsten Morgen ängstlich zum Flugplatz, um Sorjonen abzuholen, aber er tauchte nicht auf. War der Doktor vielleicht schon vergangene Nacht angekommen, als eine frühere Maschine aus Südostasien gelandet war? So blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Kliniken von Papeete zu durchkämmen. Sie fragten im allgemeinen örtlichen Krankenhaus, ob ein Finne dort aufgetaucht sei. Nein, aber es war jemand gekommen und hatte nach Finnen gefragt. Auch im Privatkrankenhaus hatte man Sorjonen nicht gesehen, das Personal fragte allerdings verwundert, was die Finnen eigentlich für Leute waren, da sie sich gegenseitig in Krankenhäusern suchten. War es in Finnland üblich, sich in Kliniken zu verabreden?
Im Hospital der französischen Marine wurden sie fündig, Doktor Seppo Sorjonen lag allein für sich in einem Zimmer, schläfrig und an den Tropf angeschlossen. Auf dem Nachtschrank stand ein französisches Frühstück bereit: Kaffee und Croissants sowie ein Glas Calvados. Der Mann, der da im Bett lag, war in den Vierzigern, er hatte blondes Haar und einen blonden Bart und sah so finnisch aus, dass Hermanni Heiskari ihm ohne zu zögern die Hand reichte und fragte:
»Doktor Sorjonen, nehme ich an?«