7.

Ich säubere meine Hand und klebe mir ein Pflaster aus dem kleinen Erste-Hilfe-Set, das ich zu Beginn der Show bekommen habe, auf die Wunde. Dann gehe ich los. Mir fehlt ein Schuh, und ich bin sauer. Jeder Ast, den ich streife, ist eine geflüsterte Erinnerung an das wütende Knurren des Kojoten. Wenn ich versuche, irgendetwas ein paar Schritte vor mir klar zu sehen, muss ich blinzeln, was auch nicht viel nützt und mir Kopfschmerzen verursacht. Also lasse ich es bleiben. Ich gehe ziellos und im Schneckentempo weiter. Und während ich die Steine und Zweige unter meinem schuhlosen linken Fuß spüre, lässt meine eingeschränkte Sicht die Umgebung weich und flaumig wirken. Objekte verschmelzen miteinander. Der Waldboden ist ein riesiger Teppich, mal grün, mal braun, mit einem Mutter-Natur-Motiv.

Beim Gehen halte ich das noch intakte Glas meiner Brille in der Jackentasche fest und reibe mit dem Daumen über die Wölbung. Das Glas ist mein Sorgenstein geworden – mehr als das, mein Wutstein, mein Denkstein, mein Ich-schaffe-das-Stein.

Der Kojote kann nicht echt gewesen sein. Unmöglich. Jetzt, wo ich mich nach der Panik des Augenblicks wieder beruhigt habe, kommt mir der Angriff weit weg vor, als hätte ich ihn nur geträumt. Es war so dunkel, und es ging alles so schnell. Ich konzentriere mich, suche in der Erinnerung nach Fehlern. Ich meine mich daran zu erinnern, dass der Kojote sich irgendwie unnatürlich mechanisch bewegt hat, vielleicht habe ich im Mondlicht auch kurz glänzendes Metall gesehen. Ich erinnere mich genau, dass das Weinen der Puppe von einem elektronischen Surren begleitet wurde und dadurch unecht wirkte, wie eine Tonkonserve; vielleicht hat das Knurren des Kojoten dieses Geräusch ja übertönt. Ich hatte eine Wahnsinnsangst, ich konnte nichts erkennen, und es ging alles so schnell, wie soll ich mir da sicher sein?

Ad tenebras dedi. Drei Worte, und es ist vorbei. Ich muss mir bloß meine Niederlage eingestehen. Wenn ich während der Attacke klar hätte denken können, hätte ich es vielleicht getan, aber jetzt ist der Moment vorbei, und mein Stolz erlaubt mir einfach nicht, aufzugeben.

Stolz, denke ich, während ich durch die abstrakte Weichzeichnung meiner Umgebung trotte. Ich habe nur ein paar Erinnerungen an den Katechismusunterricht, in den mich meine Mutter während meiner gesamten Grundschulzeit schickte, aber ich erinnere mich, was ich über die Sünde des Stolzes gelernt hatte. Ich weiß noch, wie die alte Mrs Soundso mit ihren rotgefärbten Haaren und dem sackartigen Blümchenkleid auf den Opalanhänger um meinen Hals zeigte, als wir wie immer zu sechst an ihrem Küchentisch saßen.

»Stolz ist, wenn man sich hübscher vorkommt als andere Mädchen«, sagte sie. »Wenn man zu viel Schmuck trägt und ständig in den Spiegel schaut. Wenn man Make-up und kurze Röcke trägt. Und Stolz ist eine der sieben Todsünden.«

Ich weiß noch, dass ich an dem Tisch saß und innerlich kochte vor Wut. Ich hasste es, als Beispiel missbraucht zu werden, zumal das Beispiel völlig unzutreffend war. Der Anhänger hatte meiner Großmutter gehört, die einige Monate zuvor gestorben war. Ich trug ihn nicht deshalb, weil ich hübscher sein wollte als andere Mädchen, sondern weil er mich an eine Frau erinnerte, die ich liebgehabt hatte und die ich vermisste und betrauerte. Außerdem war ich ein richtiger Wildfang und hatte bis dahin noch nicht mal versucht, Make-up zu tragen.

An dem Tag stand ein Teller mit Vollkornkeksen als Snack für uns auf dem Tisch, und als ich mir einen zweiten nehmen wollte, wurde ich vor Völlerei gewarnt. Diese spezielle Erinnerung lässt ein verbittertes Lachen aus meiner Kehle steigen, während ich dahintrotte.

Was noch?

Ich erinnere mich, wie ich in einer Kirchenbank kniete und die Lehrerin uns immer wieder eine einzige Frage stellte. Mir schwirrte schon der Kopf, und ich fragte mich, wieso niemand antwortete. Zögerlich äußerte ich einen Gedanken und wurde prompt laut angeherrscht. Ich erinnere mich weder an die Frage, die ich nicht beantworten durfte, noch an die Antwort, die ich nicht geben durfte, aber ich erinnere mich an meine Scham. Ich lernte an dem Tag, dass jemand noch so oft etwas fragen kann, in einem noch so fordernden Ton, und die Antwort trotzdem nicht hören will.

Ich erinnere mich auch, dass ich meine Mutter Wochen oder Monate später angefleht habe, mich nicht mehr in den Katechismusunterricht zu schicken. Nicht weil der Unterricht mich langweilte oder mir Angst einjagte, sondern weil ich schon in diesem jungen Alter wusste, dass da irgendetwas nicht stimmte. Obwohl ich damals mit dem Wort scheinheilig ebenso wenig anfangen konnte wie mit dem Wort rhetorisch, verstand ich deren Bedeutung auch so. Ich spürte den Stolz meiner Lehrerin. Ich hatte als Kind viel Phantasie und stellte mir beim Spielen gern vor, dass es in einem Haus spukte oder dass Fußspuren im Schlamm von einem Bigfoot stammten, doch auch wenn ich mich noch so sehr in einer Spielwelt verlor, ich vergaß nie, dass es ein Spiel war. Ich wusste, dass es nicht real war. Wenn ich in einem Zeichentrickfilm sah, wie Adam und Eva auf das alberne Geflüster einer Schlange reinfielen und dann von Gott aus ihrer Heimat verjagt wurden, war mir immer klar, dass das nicht die wahrheitsgemäße Darstellung eines historischen Ereignisses war. Schon als Zehnjährige stieß mich dieser Gedanke ab. Als ich einige Jahre später in der Schule die Gedanken von Charles Darwin und Gregor Mendel kennenlernte, war das für mich fast so etwas wie eine spirituelle Offenbarung. Ich erkannte, was Wahrheit war.

Und diese Wahrheit hat mein Leben bestimmt. Mir fehlt die Begabung für höhere Wissenschaften und Mathematik – das erkannte ich auf dem College –, aber ich bin einigermaßen intelligent. Jedenfalls intelligent genug, um auf Platituden verzichten zu können. Ich habe Gläubige sagen hören, wie kalt doch die Wissenschaft und wie warm ihr Glaube sei. Aber auch in meinem Leben gibt es Wärme, und ich glaube. Ich glaube an die Liebe und an die inhärente Schönheit einer Welt, die von allein entstanden ist. Als der Kojote meinen Fuß schnappte, lief mein Leben nicht vor meinem inneren Auge ab; ich sah nur die Welt. Die Erhabenheit von Atomen und von allem, was sie geworden sind.

Auch wenn diese Erfahrung der schrecklichen Phantasie eines Produktionsteams entsprungen ist und auch wenn ich einige der Entscheidungen bedauere, die mich hierhergeführt haben, es waren immerhin meine Entscheidungen. Und selbst wenn ich Fehler gemacht habe, ändert das nichts daran, dass die Welt selbst schön ist. Die geschuppten Spiralen eines Tannenzapfens, die Wasserströmung in einer Flussbiegung, die unaufhörlich am Ufer nagt, der orange Tupfen auf den Flügeln eines Schmetterlings, der Beutegreifer vor einem bitteren Geschmack warnt. Das ist Ordnung im Chaos. Das ist Schönheit, und es ist umso schöner, als es sich selbst gestaltet hat.

Ich trete aus dem Wald; die Straße erstreckt sich vor mir wie Rauch.

Ich hätte nicht mit dem Angriff rechnen können, und doch hätte ich mit irgendwas in der Art rechnen sollen. Eine Farce. Je länger ich drüber nachdenke, desto klarer wird die Wahrheit. Der Kojote war eine mechanische Attrappe. Er war zu groß, um echt zu sein; er hat sich zu steif bewegt. Er hat nicht geblinzelt, und die Glasaugen blieben völlig starr. Ich glaube nicht mal mehr, dass sich sein Maul geöffnet und geschlossen hat, nur die Lefzen haben sich vielleicht ein wenig bewegt. Er hat mir nicht in den Fuß gebissen; die haben mir eine Falle über den Schuh geschoben, als ich schlief. Ich war überrascht und panisch. Es war dunkel, und ich hatte keine Brille auf. Deshalb kam mir die Attrappe lebendig vor.

Die Welt, in der ich mich jetzt bewege, ist eine sorgsam durchdachte Pervertierung der Schönheit der Natur. Das darf ich nicht vergessen. Das muss ich akzeptieren. Das habe ich akzeptiert.

Meine eingeschränkte Sicht, der fehlende Schuh und mein wunder, steifer Körper zwingen mich nach höchstens einer Viertelmeile dazu, mich auszuruhen. Es ist noch früher Morgen, ich habe Zeit für eine kurze Rast. Ich setze mich, lehne den Rücken gegen die Leitplanke und schließe die Augen. Immer wieder höre ich schlurfende Schritte im Wald, aber ich weiß, dass da nichts ist. Ich weigere mich, die Augen zu öffnen, um mich zu vergewissern.

Mein Durst weckt mich, eine endlose, den ganzen Mund erfassende Trockenheit. Ich taste nach meinem Rucksack, finde eine halbvolle Wasserflasche und trinke sie gierig leer.

In dem Moment fällt mir auf, dass die Sonne auf der falschen Seite am Himmel steht. Panik durchfährt mich – die Welt ist verkehrt –, und dann setzt mein Verstand ein, und mir wird klar, dass die Sonne untergeht. Ich habe den ganzen Tag geschlafen. Das ist mir noch nie passiert. Aber ich fühle mich besser. Ich habe einen klaren Kopf, kann freier atmen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie furchtbar ich mich zuvor gefühlt haben muss. Meine Blase drückt, und ich bin ausgehungert, mein Magen knurrt fordernd. Vor lauter Hunger hole ich die Erdnussbutter hervor und stopfe mir etliche Löffel voll in den Mund, versuche, nicht darauf zu achten, wie widerlich das Zeug schmeckt und sich anfühlt. Ich klettere über die Leitplanke und hocke mich zwischen den Bäumen hin. Mein Urin ist tiefgelb, zu dunkel. Ich hole meine zweite Wasserflasche heraus und trinke ein paar Schlucke. Ich bin dehydriert, aber das muss genügen; ohne Brille kann ich nachts unmöglich weitergehen.

Während ich Holz für meinen Unterschlupf sammele, entdecke ich einen kleinen Wassermolch. Ich halte ihn in den hohlen Händen, gehe tief in die Knie, falls er mir entwischt. Ich bestaune die orangerote Haut, die schwarzgeränderten Kreise, mit denen der schlanke Rücken der Amphibie gesprenkelt ist. Ich habe Wassermolche schon immer gemocht. Als Kind habe ich sie Feuermolche genannt. Erst zu einem peinlich späten Zeitpunkt meines Lebens – als ich schon fast ein Jahr lang als Wildnispädagogin arbeitete – erfuhr ich, dass der Wassermolch sein leuchtendes Orangerot nur in jungen Jahren trägt, ehe er sich zu einem langweiligen grünlich braunen Erwachsenen entwickelt.

Der Molch gewöhnt sich an meine Haut und kriecht watschelnd über meine Handflächen.

Ich frage mich, wie viele Kalorien mir sein Verzehr wohl bringen würde.

Leuchtend orangerote Haut, also toxisch. Ich weiß nicht, wie giftig diese Wassermolche für den Menschen sind, aber das Risiko will ich nicht eingehen. Ich senke die Hände zu einem bemoosten Stein, lasse den Molch runtergleiten und baue meinen Unterschlupf fertig.

In der Nacht träume ich von Erdbeben und animierten kleinen Kindern mit Speeren. Am Morgen breche ich mein Lager ab und schleppe mich in östlicher Richtung die rauchige Straße entlang. Ich kann zwar nicht klar sehen, aber meine Gedanken sind klar. Ich brauche Ausrüstung und Vorräte. Einen neuen Rucksack, Schuhe und Nahrung – alles, nur keine Erdnussbutter. Außerdem bin ich besorgt wegen meines Wassers. Es ist, als wäre ich in der Zeit zurückgegangen – wie viele Tage, drei, vier? Es kommt mir vor wie Wochen; bis kurz nach der blauen Hütte, nachdem ich krank war, als ich wieder weitergehen konnte, aber bevor ich den Minimarkt fand. Ich habe nichts zu essen, praktisch kein Wasser mehr, und ich gehe nach Osten, um einen Clue zu suchen, von dem ich allmählich fürchte, dass es ihn gar nicht gibt. Es ist genau wie vorher, nur dass ich jetzt kaum sehen kann und nur noch einen Schuh anhabe.

Ich gehe langsam, zu langsam. Aber jedes Mal, wenn ich meine Schritte beschleunige, stolpere ich oder rutsche aus oder trete auf irgendetwas Spitzes. Meine linke Fußsohle fühlt sich an wie ein einziger großer Bluterguss unter einer einzigen großen Blase.

Der Morgen ist kühl und nimmt kein Ende. Das hier, diese verschwommene Monotonie, ist schlimmer als die Kojoten-Attrappe, fast so schlimm wie die Puppe. Wenn sie mich brechen wollen, dann ist das genau die richtige Methode: mich endlos weitergehen lassen, ohne Brille, ohne mit jemandem reden zu können. Keine Challenges zu gewinnen oder zu verlieren. Der Ausstiegsspruch schleicht sich in meinen Kopf, setzt mir zu. Zum ersten Mal wünsche ich, ich wäre nicht ganz so stur. Dass ich wie Amy sein könnte – einfach mit den Achseln zucken und zugeben, dass es mir reicht. Dass das Ganze einfach zu beschissen ist, um es sich noch länger zuzumuten.

Was wäre, wenn – was wäre, wenn ich schneller gehen würde, obwohl ich schlecht sehe? Vielleicht würde ich richtig ins Stolpern geraten und mir weh tun. Vielleicht würde ich umknicken, schlimmer als Ethan, mir eine schwere Verstauchung oder vielleicht sogar einen gebrochenen Knöchel zuziehen. Oder was wäre, wenn ich unvorsichtig mit meinem Messer hantieren würde? Vielleicht würde es mir wegrutschen, und ich würde mir in die Hand schneiden, gerade so tief, dass ich die Wunde nicht mehr einfach mit dem Erste-Hilfe-Set verarzten könnte. Die Umstände würden mich daran hindern, weiterzumachen. Ich wäre gezwungen, abzubrechen, und alle würden sagen: »Du kannst nichts dafür.« Mein Mann würde den Verband küssen und mein Pech bedauern und mir unablässig versichern, wie glücklich er ist, mich wieder zu Hause zu haben.

Der Gedanke ist durchaus verlockend. Ich meine nicht, mich absichtlich zu verletzen – das auf keinen Fall –, aber mir die Gelegenheit zu einem Missgeschick zu geben. Mit jedem Schritt erscheint mir der Gedanke weniger absurd, und dann sehe ich verschwommen weiter vor mir ein Gebäude. Nach ein paar vorsichtigen Schritten kann ich eine Tankstelle erkennen, an deren Zapfsäulen ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift KEIN BENZIN hängt, so groß, dass ich es sogar ohne Brille auf gut dreißig Schritt Entfernung lesen kann. Sofort bin ich wieder ganz bei der Sache, und Beklommenheit schnürt mir die Brust zusammen. Als ich mich der Tankstelle nähere, bemerke ich eine Reihe von Gebäuden an einer zweiten Straße zu meiner Linken.

Farbflecken säumen die Straßenkreuzung. Mit zusammengekniffenen Augen gehe ich näher ran und erkenne, dass es verschiedene Schilder mit Ankündigungen und Reklame sind. Ich sehe die Einladung zu einem Baseballprobetraining für Kinder und ein paar dümmliche Sprüche für das Recht auf freien Waffenbesitz. Auf einem Schild steht einfach bloß BEREUE! Ganz hinten ist eines übersät mit Aufklebern – mindestens einem Dutzend, und am auffälligsten ist einer mit einem blauen Pfeil, der nach links zeigt.

Der Farbton stimmt nicht ganz, ist dunkler als das Blau, das mir zugeteilt wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob der Pfeil für mich gedacht ist, vielleicht liege ich ja falsch, aber ich brauche dringend Vorräte, und Emery hat gesagt, die Clues würden einem nicht immer ins Auge springen. Was kann es schon schaden, wenn ich dem Pfeil folge, nur ein kurzes Stück? Wenn ich mich irre, lassen sie mich schon nicht zu weit von der Route abkommen, glaube ich jedenfalls.

Ich wende mich nach links, bewege mich angespannt und wachsam, aber mir fällt nichts Ungewöhnliches auf, bis auf die Stille. Das erste Gebäude, das ich erreiche, ist eine Genossenschaftsbank; sie scheint geschlossen. Vielleicht haben wir Sonntag, oder vielleicht verstecken sich die Angestellten, bis ich vorbei bin. Ich sehe nichts Blaues. Einige Minuten später gelange ich zu einem zweiten Gebäude, das ein Stück von der Straße zurückgesetzt liegt. Ich überquere den kleinen leeren Parkplatz, um es genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich sehe Gestalten in Schaufenstern. Menschen? Aber sie scheinen sich nicht zu bewegen. Als ich näher komme, erkenne ich, dass es Schaufensterpuppen sind, die um ein Zelt herumstehen. Ich entziffere mit zusammengekniffenen Augen das Schild über der Tür. OUTDOOR-SHOP. Ich denke an meinen kaputten Rucksack, meinen fehlenden Schuh.

Die Tür ist abgeschlossen. Das ist neu. Ich stehe auf den Eingangsstufen und überlege. Die Regeln lauteten, kein Verkehrsmittel zu benutzen, niemandem auf den Kopf oder in die Genitalien zu schlagen und keine Waffen irgendwelcher Art einzusetzen. Von einem Verbot, in Gebäude einzubrechen, war jedenfalls nicht die Rede, soweit ich mich erinnern kann. Sie erlaubten sogar ausdrücklich, jede Möglichkeit zu nutzen, um Schutz zu suchen oder sich mit Proviant einzudecken.

Eine der weiblichen Schaufensterpuppen trägt eine blaue Weste und eine flauschige blaue Mütze. Hellblau, mein Blau.

Ich schlage mit dem Ellbogen die unterste Scheibe in der Tür ein. Das Glas splittert, und der Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in den letzten Tagen empfunden habe. Ich greife durch die zerbrochene Scheibe und entriegele die Tür von innen. Ich nehme meinen Rucksack ab und ziehe meine Jacke aus, schüttele sie kräftig, um eventuelle Glassplitter aus dem Ärmel zu entfernen. Ich binde mir die Jacke um den linken Fuß. Als ich den Laden betrete, mache ich vorsichtige Schritte, damit mein provisorischer Slipper nicht von einer Scherbe durchbohrt wird. Glas knirscht unter meiner rechten Schuhsohle, und ich sehe ein gefaltetes Blatt Papier auf dem Boden liegen. Ich hebe es auf, denke, es könnte ein Clue sein. Ich falte es auseinander und sehe, dass es ein Flugblatt ist:

PERSONEN, DIE AN SICH SYMPTOME FESTSTELLEN WIE LETHARGIE, HALSSCHMERZEN, ÜBELKEIT, ERBRECHEN, SCHWINDEL, HUSTEN, HABEN SICH UNVERZÜGLICH IM OLD-MILL-GEMEINDEZENTRUM IN QUARANTÄNE ZU BEGEBEN.

Ich starre das Blatt verständnislos an. Und dann, nach einem Moment, als würden Dominosteine fallen, verstehe ich. Ich verstehe alles. Der Abzug meines Kameramannes, die Hütte, das sorgsame Entfernen jeglichen menschlichen Lebens von meiner Route – sie verändern die Story. Ich denke daran, wie ich mir vor meiner Abreise bei Google Maps die Gegend angesehen habe, wo wir drehen würden. Ich erinnere mich an eine Grünfläche in der Nähe: Worlds End State Park. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil mir der Name gefiel, obwohl mich der fehlende Apostroph störte. Aber wahrscheinlich ist es nicht bloß ein Name, sondern auch eine Botschaft. Vielleicht war die Nähe des Parks zu unserem Ausgangsort kein Zufall. Vielleicht war es sogar unser Ausgangsort.

Diese durchtriebenen Arschlöcher.

Ich lasse das Flugblatt zu Boden fallen. Es ist ein Clue, ganz klar, aber er sagt mir nicht, wohin ich gehen soll, sondern wo ich bin. Erzählt mir die Story hinter den Attrappen, die sie deponiert haben.

Ich kann mich in diesem Laden nach Herzenslust bedienen.

Als Erstes greife ich mir die flauschige blaue Mütze im Schaufenster. Ich nehme sie vom Plastikkopf der Puppe und ziehe sie über mein verfilztes Haar. Dann gehe ich in Richtung Kasse, wo ich eine Kühlvitrine mit Getränken stehen sehe, von Coca-Cola gesponsert. Ein Dutzend Flaschen Wasser mindestens. Ich nehme mir eine, trinke sie gierig aus. Fülle meine Trinkflaschen, nehme den Rest. Ich gehe weiter zu einem Drehständer mit Energieriegeln: KIND und LUNA und Lärabar und Clif und ein halbes Dutzend andere Marken. Ich stopfe mir die Taschen voll mit den Geschmackssorten, die ich kenne, und dann esse ich einen Riegel: Zitrone. Zuckersüß, aber egal; ich verschlinge den ganzen Riegel und gleich noch einen zweiten. Danach höre ich auf, um meinen Magen nicht zu überlasten. Vierhundert Kalorien, das reinste Festmahl.

Als Nächstes spaziere ich genüsslich durch die Gänge, streiche mit den Fingern über Kleidungsstücke und Taschenlampen und Campingkocher. Das hier, so wird mir klar, ist die Belohnung dafür, dass ich die Kojoten-Challenge überstanden habe. Ich hatte vergessen, dass es eine Belohnung geben würde.

An der Wand mit Schuhwerk sehe ich die albernen Zehenschuhe, die Cooper trägt. Hatte er es bei seiner letzten Challenge auch mit einem Kojoten zu tun? Vielleicht hat jeder von uns eine andere bekommen, eine, die auf unsere jeweiligen Fähigkeiten zugeschnitten ist. Bei Cooper war es bestimmt ein Bär, und er – keine Ahnung, wie er damit fertig geworden ist, aber er war perfekt, keine Frage; wenn er aussteigt, dann nicht aus Panik. Falls Heather noch dabei ist, war es für sie eine Fledermaus oder eine Spinne. Aber höchstwahrscheinlich hat sie nicht so lange durchgehalten. Sie hätte schon am zweiten Abend aufgegeben, wenn wir sie allein hätten gehen lassen. Bei dem asiatischen Typen – seinen Namen hab ich vergessen – wird es ein Waschbär oder ein Fuchs gewesen sein, irgendwas Kleineres als ein Kojote, aber clever. Bei Randy natürlich ein Eichhörnchen; oder nein, jede Menge Eichhörnchen – eine ganze Eichhörnchenkolonie.

Ganz gleich, was für Challenges sie hatten, ich hoffe, auch sie haben um Hilfe geschrien. Ich hoffe, alle außer mir konnten sich an den Ausstiegsspruch erinnern und haben ihn laut gebrüllt.

Ich hoffe, es ist ihnen nichts passiert.

Ich finde einen Wanderschuh, der mir gefällt – leicht und wasserdicht –, und gehe mit dem Schildchen des ausgestellten Exemplars zu einer Tür links von den Schuhregalen, hinter der ich den Lagerraum vermute. Der Raum ist dunkel, fensterlos. Nur spärliches Licht fällt durch die offene Tür hinein. Ich rieche nichts Unangenehmes.

Ich gehe zurück in den Laden, suche mir eine Taschenlampe und dazu passende Mignonbatterien. Mit meinen steifen Fingern kriege ich die Verpackung nicht auf, und mein Messer ist auch keine große Hilfe, daher gehe ich zu den Schweizer Messern und Leathermans. Ich zögere kurz – keine Waffen erlaubt –, doch als ich einen Leatherman aussuche, der gut in der Hand liegt, und die längste Klinge ausklappe, sage ich mir, dass die Dinger Multitools genannt werden und nicht gefährlicher sind als das Messer, das sie mir zu meiner Ausrüstung gegeben haben. Ich schneide die Batterieverpackung auf. Allmählich fühle ich mich wie auf einer Schnitzeljagd. Oder wie bei einem Videospiel. Finde Objekt A, um zu Objekt B zu gelangen, finde Objekt C, um Objekt A zu öffnen. Das Erfolgsgefühl, als ich die Batterien in die Taschenlampe schiebe, ist seltsam intensiv und weckt gleichzeitig mein Misstrauen. Sie wollen mich in Sicherheit wiegen. Bald wird irgendetwas passieren. Irgendetwas wartet in dem Lagerraum auf mich.

Aber als ich mit der Taschenlampe hineinleuchte, sehe ich bloß Warenbestände. Die Regale mit den Schuhen nehmen eine ganze Wand ein. Ich finde die Schuhe, die mir gefallen, in meiner Größe. Sie passen so gut, als hätte ich sie bereits eingelaufen.

Als Nächstes gehe ich in die Abteilung für Damenbekleidung. Ich trage seit mindestens zwei Wochen dieselben Klamotten, und sie sind völlig verdreckt. Wenn ich am Stoff meiner Hose zupfe, knistert es, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Staubwölkchen aufwirbelt. Ich suche mir Funktionsunterwäsche aus, dann einen Stapel Tops und Hosen. Ich habe schon fast gute Laune, als ich mit den Sachen in eine Umkleidekabine gehe. Eigentlich weiß ich nicht, warum ich mir die Mühe mit der Umkleidekabine mache. Wahrscheinlich haben sie hier, wie auch überall sonst, Kameras montiert, und von meiner Intimsphäre ist schon längst nichts mehr übrig. Inzwischen haben sie mich nicht nur beim Verrichten meiner Notdurft gefilmt, sie könnten eine ganze Folge ausschließlich über meine Körperfunktionen senden.

Ich schließe die Tür der Umkleidekabine. Sie hat keine Decke; trübes Licht dringt von oben herein wie Abenddämmerung. Ich lege den Armvoll Klamotten auf eine Bank, drehe mich dann um – und schnappe nach Luft, stolpere in nackter Panik rückwärts. Einen Moment lang bin ich überzeugt, von einer ausgemergelten Landstreicherin attackiert zu werden.

Ein Spiegel. Als hätte ich vergessen, dass es sie gibt. Aber es gibt sie, und ich sehe entgeistert, wie stark ich mich verändert habe. Ich trete dicht an den Spiegel heran, um mein Gesicht zu betrachten. Unter der leuchtend hellblauen Mütze sind die Wangen eingefallen. Riesige Tränensäcke hängen unter den Augen. Ich bin noch nie so mager gewesen. Ich bin noch nie so dreckig gewesen. Als ich meine Shirts ausziehe, sehe ich die Rippen unter dem BH hervorstehen. Mein Bauch wölbt sich nach innen. Ich glaube nicht, dass das so sein soll. Ich ziehe den Bauch ein und verschwinde fast. Friere ich deshalb ständig? Ich trete zurück, und mein Spiegelbild wird zu einer schmutzigen Schliere.

Meine Prioritäten verschieben sich.

Ich lasse die Kleidung, die ich ausgewählt habe, in der Umkleidekabine liegen und mache mich im Laden auf die Suche nach Seife, Reinigungstüchern, nach allem, was ich finde, um mich von der Dreckschicht auf meiner Haut zu befreien. Ich habe ein paarmal gebadet, so halbwegs, und ich habe meine Unterwäsche turnusmäßig gewechselt. Ich wasche sie zwischendurch aus, so gut ich kann, aber ich trage jetzt schon seit Tagen denselben Slip, und beide sind schmutzig und riechen.

Ich entdecke die Toilette hinter einer Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL. Im Licht einer Campinglampe drehe ich den Wasserhahn auf. Nichts. Hätte mich auch gewundert. Ich hebe den Deckel vom Spülkasten der Toilette und fülle eine Faltschüssel mit dem Wasser. Ich ziehe mich komplett aus und wasche mich so gründlich, wie ich kann, dezimiere dabei ein Stück Biohanfseife und verdrecke drei Reisehandtücher. Mit dem restlichen Wasser aus dem Spülkasten spüle ich mich ab. Danach spüre ich noch immer eine glatte Schicht Seifenreste an meinen Beinen und Füßen. Es ist kein unangenehmes Gefühl. Meine Haare sind nach wie vor schauderhaft, aber der Rest von mir fühlt sich fast sauber an.

Ich blicke auf die dreckige Hose und den schmuddeligen BH auf dem Fußboden und sehe den Taschensender fürs Mikro zwischen den Falten. Er ist klein und leicht, und ich hatte ihn ganz vergessen, weil ich mich so an ihn gewöhnt hatte. Der Akku ist leer, schon eine ganze Weile. Aber der Laden hier ist garantiert bespickt mit Mikros, und auch der Kojote wird eins getragen haben.

Ich nehme den Sender – er muss teuer sein, und ich wette, irgendeine Klausel im Vertrag verlangt, dass die Kandidaten ihn stets tragen müssen – und gehe nackt mit dem Ding in einer Hand und der blauen Mütze in der anderen zur Umkleidekabine. Ich ziehe mir frische Unterwäsche und einen dünnen Sport-BH mit blauen und grünen Streifen an. Das erste Shirt, das ich anprobiere, ist ein Sack. Die Hose fühlt sich an, als würde sie mir beim ersten Schritt runterrutschen. Ich habe nicht mehr Größe M. Ich gehe zurück zu den Ständern mit Damenkleidung, und kurze Zeit später bin ich vollständig angezogen – alles in Größe S. Jedes Kleidungsstück ist mir zu weit, aber es rutscht nicht.

Ich wusste, dass ich während des Drehs an Gewicht verlieren würde. Insgeheim sah ich das als zusätzlichen Bonus. Aber dieser gewaltige Gewichtsverlust macht mir Angst. Bei meinem Anblick fällt es mir schwer, mir selbst zu beteuern, dass ich stark bin. Meine letzte Periode hatte ich etwa eine Woche vor Beginn der Show; ich frage mich, ob dieser ausgezehrte Körper imstande ist, je wieder eine zu bekommen.

Ich suche mir eine neue Jacke aus, eine dunkelgrüne mit fleecegefütterter Kapuze. Sie hat Reißverschlüsse unter den Achseln, daher werde ich sie nicht so oft aus- und anziehen müssen. Ich verstaue das verbliebene Brillenglas in der Jackentasche. Dann einen Rucksack, den ich mit Vorräten fülle: zusätzliche Unterwäsche, meine zweite Wasserflasche, ein paar Packungen Wasserentkeimungstropfen, biologisch abbaubare Reinigungstücher, eine kleine Flasche Flüssigseife, die Taschenlampe, Ersatzbatterien, ein zusammengefalteter Regenponcho, mein stumpfes Messer und der Leatherman, mit dem ich die Batterieverpackung geöffnet habe. Dann meine zerbeulte Metalltasse, ein neues Erste-Hilfe-Set als Ersatz für mein angebrochenes, zwei Dutzend Proteinriegel verschiedener Marken und verschiedener Geschmackssorten, etwas Müsli, Trockenfleisch und Müllsäcke, die ich hinter der Theke gefunden habe. Es zieht mich unwillkürlich in Richtung überflüssige Ausrüstung: ein BPA-freier Plastikgöffel, also Gabel und Löffel in einem, ein Fernglas, eine kleine Klappschaufel, Deo. Von derlei Luxusartikeln gönne ich mir lediglich einen Faltbecher und eine Packung Kräutertee. Ich sollte mich jetzt nicht unnötig schwer beladen. Zum Schluss schiebe ich den Sender in die Handytasche oben am Rucksack.

Ich bin bereit, weiterzuziehen, aber die Sonne geht unter. Es wäre unklug, jetzt noch aufzubrechen.

Es ist ein Laden, kein Wohnhaus. Vielleicht spricht nichts dagegen, hier zu übernachten. Vielleicht soll ich das ja. Ich blicke auf das Zelt im Schaufenster. Vielleicht gehört das ja noch zu meiner Belohnung.

Ich schleife das Zelt durch die Gänge und stelle es zwischen der Schuhauslage und einem Ständer mit Darn-Tough-Socken auf. Ich stapele einige Isomatten auf dem Zeltboden und lege zwei Schlafsäcke übereinander, werfe dann einen Armvoll kleiner Campingkissen hinein. Ich beleuchte mein Indoor-Lager mit batteriebetriebenen Laternen, dann der ultimative Luxus: Ich zünde einen Campingkocher an und gehe zu dem Regal mit Fertiggerichten, die nur noch mit Wasser aufgegossen werden müssen. Alle Sorten klingen köstlich. Ich nehme drei – Hähnchen-Cashew-Curry, Rinderragout, Hähnchen-Teriyaki mit Reis – und lege sie auf den Boden. Ich schließe die Augen und schiebe die Packungen hin und her, wähle dann eine aus, ohne hinzugucken. Hähnchen-Cashew-Curry. Ich bringe Wasser zum Kochen und gieße es in die Tüte. Nach dem gefühlten Ablauf der verlangten dreizehn Minuten verschlinge ich das rehydrierte Essen mit dem Göffel, von dem ich mir immer noch einrede, dass ich ihn nicht behalten werde. Es ist nicht ganz gar; die Ministückchen Hähnchenfleisch sind zäh, und die grünen Fitzelchen – Sellerie? – haben mächtig Biss. Aber es ist köstlich – würzig und leicht süß. Die eingeweichten Cashewnüsse sind eine wunderbare Abwechslung zum Studentenfutter. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir fast einbilden, eine frisch zubereitete Mahlzeit vor mir zu haben. Nach dem Essen stopfe ich fünf von den Gerichten in meinen neuen Rucksack. Mehr passt nicht rein.

Wenige Minuten später krieche ich in das Zelt. Ich bin an das Piksen von Piniennadeln gewöhnt, an das Knirschen von welkem Laub, an das gelegentliche schmerzhafte Drücken von Steinen und Pinienzapfen. Der Zeltboden ist gleichmäßig eben. Das ist seltsam, und ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Außerdem ist es hier drin wärmer, als ich es gewohnt bin. Ich löse die Schnürsenkel meiner neuen Schuhe und lege mich auf die Schlafsäcke, starre dann in den Nylonhimmel, während meine Muskeln sich entspannen. Gar nicht so übel, denke ich. Ich könnte mich dran gewöhnen.

Am nächsten Morgen bin ich klüger. Ich brenne darauf, mich wieder auf den Weg zu machen. Ich erinnere mich undeutlich, letzte Nacht in einem unangenehmen Dämmerzustand aufgewacht zu sein. Wie oft, kann ich nicht sagen, aber mehr als einmal. Mein verkrampfter Kiefer und eine nachklingende Furcht verraten mir, dass ich Albträume hatte, und obgleich ich mich an nichts Genaues erinnern kann, glaube ich, dass Kojoten drin vorkamen. Ja, ein geschmeidiges Rudel Kojoten, die wie Wassertropfen verschmolzen, während sie lautlos durch den Wald liefen.

Ich schüttele das Gefühl ab, umzingelt zu sein. Ich war zu lange in einem geschlossenen Raum, und nach dem Schlafen auf der zu weichen Polsterung habe ich Muskelkater. Ich muss weiter, mich bewegen. Ich gieße ein Omelett mit Schinken und Käse zum Frühstück auf, und dann breche ich auf, kehre auf meine Straße zurück und marschiere an der Tankstelle vorbei Richtung Osten.