9.

Ich komme jetzt häufiger an Einfahrten und Zufahrtswegen vorbei, gelegentlich an einer Farm. Ich sehe noch immer keine Menschenseele, bin allein mit den Kameras. Uns wurde gesagt, die Show würde eine große Sache – etwas noch nie Dagewesenes –, aber dennoch, der Riesenaufwand dieser Produktion ist wirklich unglaublich.

Es war nie die Rede davon, dass wir durch bewohnte, wenn auch ländliche Gegenden kommen würden.

Uns wurde so einiges nicht gesagt.

Bewegung am Rande meines Gesichtsfeldes. Ich weiß sofort, dass es ein Tier ist. Ich wende den Kopf und sehe ein kleines weißes Haus, das von Laubbäumen verdeckt wird. Ein verschwommener bräunlicher Fleck verschwindet um eine Ecke des Hauses. Ich sollte weitergehen. Ich sollte nicht nachsehen, aber irgendwie hat mich mein gestriger Fund wagemutig gemacht. Oder leichtsinnig.

Ich schleiche die Einfahrt entlang und auf den Rasen vor dem Haus, biege dann um die Ecke und blinzele.

Drei Katzen weichen fauchend vor mir zurück. Eine gefleckte, eine weiße und eine fast rein schwarze. Ich glaube, die weiße trägt ein Halsband – ich sehe etwas Pinkes an ihrem Hals. Ich gehe näher ran. Die gefleckte springt durch ein offenes Seitenfenster ins Haus. Die anderen beiden flitzen nach hinten in den Garten.

Aus Neugier gehe ich zu dem Fenster und spähe hinein. Ein pistaziengrün gestrichenes Schlafzimmer. Farbenfrohe Kleidung und ein paar Plüschtiere verteilt auf einem milchweißen Teppichboden. Ich kann die Details der vielen Poster an den Wänden nicht genau sehen, aber zwei sind anscheinend von Bands, und ein drittes erkenne ich in groben Zügen als das Plakat eines Werwolf-Fantasy-Films, der letztes Jahr lief.

Die Katze springt hinter dem Bett hervor auf die zerknitterte Steppdecke. Sie beobachtet mich, wie ich sie beobachte. Dann schleicht sie ein paar Schritte übers Bett und senkt den Kopf. Der Kopf hebt sich wieder, senkt sich dann erneut. Es sieht aus, als würde die Katze fressen. Ich blinzele ein paarmal, um schärfer sehen zu können. Die Katze frisst eindeutig. Nach einem Moment kann ich erkennen, an was sie da knabbert: an einer bleichen, aufgedunsenen Hand mit dunklen Fingernägeln. Die Katze beißt in das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger und reißt ein kleines Stück ab, das nicht blutet.

Ein paar Sekunden lang bin ich wie erstarrt.

Das ist keine Hand. Das ist keine Hand, ich weiß, dass das keine Hand ist, aber ich bin es satt, mir das Offensichtliche klarmachen zu müssen. Ich bin es satt, dass es sich nicht offensichtlich anfühlt.

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Ich muss aufhören, mich von ihnen schocken zu lassen.

Ich öffne die Augen und drehe mich um. Ich gehe los. Als ich einige Minuten später wieder eine Bewegung registriere, schaue ich nicht hin. Ich sehe bloß die verschwommene Straße, und ich folge ihr um eine Kurve und in den Wald hinein.

Stunden später wird es Zeit, das Lager aufzuschlagen. Ich baue meinen Unterschlupf und sammele Feuerholz. Ich ziehe etwas Rinde ab, die ich als Zunder verwenden will, und greife nach der Schlaufe am Gürtel.

Sie ist leer.

Mich durchläuft es kalt. Meine Hand ballt sich zur Faust.

Der Feueranzünder hängt noch an meiner alten Hose, die ich in der Toilette des Outdoor-Shops liegen gelassen habe.

Mir wird schummrig von dem Verlust. Ich schwanke rückwärts und setze mich; die Welt schwankt mit mir. Ich kann nicht zurück. Ich kann nicht noch einmal durch den Ort. Ich kann nicht zwei weitere Tage verlieren; das hier ist ein Wettlauf, und ich liege bereits zurück. Mein Hals ist so zugeschnürt, dass ich kaum atmen kann. Ich hebe die Hände vor Mund und Nase, stütze das Kinn mit den Daumen. So dicht vor den Augen sehen die Finger durchscheinend aus. Der zerkrümelte Zunder fühlt sich auf meiner Haut weich und rau zugleich an. Das Schlimmste ist, dass dieser Verlust ganz allein mein Fehler ist – keine misslungene Challenge, reine Dummheit.

Ich hätte nie gedacht, dass es so sein würde. Sie haben kein Wort von einer vorgetäuschten Epidemie gesagt oder von Attrappen, die aussehen wie Leichen. Von mechanischen Kojoten oder verwilderten Katzen. Von entvölkerten Ortschaften und verlassenen Kindern. Sie haben kein Wort davon gesagt, dass ich so lange so allein sein würde.

Ich werde ihnen nicht die Genugtuung geben, mich heulen zu sehen.

Drei Worte, und es ist vorbei.

Ich massiere mir mit den Fingerspitzen den knöchernen Rand der Augenhöhlen. Meine Haut verschiebt sich unter dem Druck, gleitet über den Stirnknochen.

Ich dachte, die Show würde Spaß machen.

Ad tenebras dedi. Ich kann es nicht aussprechen. Ich werde es nicht aussprechen. Die Sache ist nur dann zu hart, wenn ich zu weich bin. Ich will nicht zu weich sein. Ich will nicht hart sein. Ich weiß nicht, was ich sein will. Ich habe die Nachtwanderung überstanden. Ich habe die Felswand überstanden. Ich habe die blaue Hütte und die Puppe überstanden. Ich habe den Kojoten überstanden. Das hier wird nicht der Moment sein, der mich zerbricht. Ich werde nicht aufgeben, auf gar keinen Fall. Ich kann eine Nacht ohne Feuer überstehen. Garantiert. Und morgen? Ich habe das Multitool. Mit einem seiner Werkzeuge kann ich einen Funken erzeugen. Ich muss nicht darauf zurückgreifen, verzweifelt Stöckchen zu reiben. Mein katastrophaler Fehler ist nicht das Ende. Tag für Tag, Schritt für Schritt. Ich werde es nach Hause schaffen.

Ich krieche in meinen Unterschlupf, ohne etwas zu essen, und halte mein Brillenglas fest in der Hand. Mein Magen ist völlig verkrampft. Ich schlafe unruhig und träume von einem Baby, unserem Baby, das endlos schreit.

Am nächsten Morgen breche ich in einen Tankstellenshop ein. Er ist gut sortiert und attrappenfrei. Ich decke mich mit Wasser, Trockenfleisch und Studentenfutter ein. Ein paar Suppendosen mit Aufreißdeckel. Ich stecke auch eine Packung Binden ein; ich müsste bald meine Periode bekommen. Kurz bevor ich den Laden verlasse, nehme ich mir noch eine Schachtel Minz-Schokolinsen. Während ich mich von der Tankstelle entferne, schüttele ich die Schachtel wie eine Rumbarassel. Die Straße macht eine Biegung. Ich spiele »La Cucaracha«.

Ich versuche, mich aufzumuntern, aber es haut nicht hin. Die Musik, die ich improvisiere, erinnert mich bloß daran, was ich alles zurückgelassen habe. Mich unbeschwert fühlen, mich einen Moment entspannen – das fehlt mir. Und ich vermisse richtiges Essen. Rezepte nach meinem Geschmack abzuwandeln. Fünf Zehen Knoblauch kleinzuhacken statt drei, einen Schuss Wein mehr zu nehmen, getrocknete durch frische Kräuter zu ersetzen. Ich vermisse das Aroma von dünstenden Zwiebeln und gegrilltem Hähnchenfleisch. Den köstlichen Duft einer heißen Linsensuppe. Ich vermisse selbstgemachte Bruschetta mit geröstetem Baguette, reifen Tomaten vom Markt und einer Handvoll violettem und Thai-Basilikum aus meinem Kräutergarten.

»Miss.«

Ich vermisse Latte macchiatos. Einmal die Woche in die Stadt zu fahren und in einem guten Café den perfekten Milchschaum zu genießen. Kinder mit iPhones am Tisch nebenan, während ihre Eltern Espresso schlürfen und so tun, als wären Muffins gesund. Deplatzierte Hipster, die Kinderwagen nach draußen schieben; an Stuhlbeine gebundene Schoßhündchen, die kläffen und schwänzeln.

»Miss.«

Ich vermisse Yoga. Kickboxen und Spinning. Bewegung, die Muskelkraft mit sich brachte, nicht diese Verkrampfung, die ich von Kopf bis Fuß spüre. Ich vermisse den gesprächigen Grundschullehrer, der seine Matte immer links von mir hinlegte, und die Anwältin im mittleren Alter, die hinter mir ihre Verrenkungen machte. Sie sagte mir oft, ich würde allmählich zu dünn; jetzt bin ich so mager wie nie. Ich frage mich, ob sie vor dem Fernseher sitzen und mir zuschauen, ob sie mich vermissen.

»Miss.«

Ich vermisse die dunklen Augen und das helle Lachen meines Mannes. Seine schwarzen Bartstoppeln, am Kinn weiß gesprenkelt. Pinguinfärbung nennen wir es; unrichtig, aber lustig. Ich vermisse unsere Scherze. Ich vermisse ihn. Ich vermisse uns.

»Hey, Miss!«

Die Worte brechen durch meine Gedanken. Tatsächlich gesprochene Worte und nicht aus meinem Mund. Ich bleibe stehen und höre nur mein hämmerndes Herz und das leise Schwappen von Wasser. Dann Schritte hinter mir. Ich drehe mich um.

Ein junger Schwarzer in einem roten Sweatshirt und Jeans steht nur zwei Meter von mir entfernt. Er ist kleiner als ich, schlank, mit kurzgeschorenen Haaren. Das Weiße in seinen Augen ist riesig. Davon abgesehen kann ich nicht viel mehr erkennen, als dass sein Haar Haar ist, seine Haut Haut und dass sich der Schriftzug auf seinem Sweatshirt im Rhythmus seiner Atmung hebt und senkt. Er ist schön, weil er wirklich lebendig ist und weil er etwas repräsentiert: das Ende von allein. Drei Schläge lang sagt mein Herz ja, ja, ja. Ich möchte diesen Fremden umarmen und sagen: ›Ich habe dich vermisst.‹

Meine Lippen öffnen sich einen Spalt. Ich will etwas flüstern, kann es aber nicht. Es ist nicht für diesen Mann bestimmt. Ich blinzele einmal, langsam, und rufe meinem Herzen das Spiel in Erinnerung. Ich trete einen Schritt zurück. Er ist aus einem bestimmten Grund hier, sage ich mir. Vielleicht, um zu helfen.

»Was willst du?«, frage ich. Meine Stimme krächzt, weil ich sie lange nicht benutzt habe.

»Ich …« Er wirkt nervös. Seine Stimme ist sanft und nicht sehr tief. Überhaupt nicht tief. Er ist höchstens achtzehn und ein Spätentwickler noch dazu. Weiße Lettern quer über seiner Brust: AUGERS? Ich kneife die Augen zusammen. Nein, RUTGERS UNIVERSITY. Er ist Student – genau wie Josh, der auch sehr jung wirkte.

»Ich hab einfach schon ewig keinen Menschen mehr gesehen«, sagt er. Er starrt mich an, als wollte er mir damit beweisen, dass er die Wahrheit sagt.

Ich kann ihm nicht trauen.

»Such dir jemand anders«, sage ich, drehe mich um und gehe weiter.

»Wo gehst du hin?«

Er läuft neben mir her. Als ich nicht antworte, fragt er: »Kann ich einen Schluck Wasser haben?«

Ich zwinge mich, großherzig zu sein. »Hinter der Straßenbiegung ist eine Tankstelle mit Shop. Hol dir selbst welches.«

»Wartest du auf mich?«

Ich bleibe stehen und blicke ihn wieder mit blinzelnden Augen an. Es war bestimmt nicht leicht, ihn zu casten.

»Klar«, sage ich. »Ich warte.«

Seine Augen weiten sich übertrieben vor Gefühl – ich glaube, es soll wie Freude aussehen. »Hinter der Straßenbiegung?«, fragt er.

»Genau.«

»Und du wartest hier?«

Ich nicke.

Er trabt los, wirft alle paar Schritte einen Blick über die Schulter. Er verwandelt sich in einen verschwommenen roten Fleck und verschwindet um die Kurve. Ich stelle mir vor, wie er zu dem Shop sprintet, um sich mit Verpflegung einzudecken, seine Rolle ernst nimmt.

Ich warte ein paar Sekunden, dann verschwinde ich in den Wald. Ich gebe mir alle Mühe, keine Spuren zu hinterlassen, aber jeder halbwegs geübte Fährtenleser könnte erkennen, wo ich durch das hohe Gras gegangen bin. Der Junge macht zwar nicht den Eindruck, als könnte er Fährten lesen, aber möglicherweise hat er Zugriff auf die Kameras. Ein Funkgerät und GPS. Ich bewege mich langsam, aber es nützt nichts. Ich bin zu schwer beladen, um lautlos zu sein, und ich trete immer wieder auf trockenes Reisig und raschelndes Laub, was sich einfach nicht vermeiden lässt. Ein Blinder könnte mich ausfindig machen. Vielleicht sollte ich mich lieber gar nicht mehr bewegen, aber dann würde ich Zeit verlieren, ich säße hier fest und –

Ein gequälter wortloser Schrei gellt durch den Wald.

Ich bleibe so abrupt stehen, dass mir die Wasserflasche gegen die Hüfte schlägt. Ich höre einen weiteren Schrei, und die Intonation verrät mir, dass dieser Schrei Worte enthält, obwohl ich sie nicht verstehen kann. Ich sage mir, ich sollte nicht zurückgehen, und tue es dann doch. Ich verlasse den Wald. Sobald ich zwischen den Bäumen hervortrete, sehe ich ihn. Die Straße verläuft hier gerade, und ich bin nicht weit gegangen. Er rennt auf mich zu, wird schärfer, als er näher kommt.

»Du hast gesagt, du würdest warten«, ruft er. Seine Augen sind rot, und seine schmutzigen Wangen sehen aus wie Flussdeltas in Miniatur.

Er ist ein besserer Schauspieler, als ich dachte.

»Hier bin ich«, sage ich. »Wo ist dein Zeug?«

»Ich hab alles fallen lassen«, sagt er. »Als ich gesehen hab, dass du weg warst.«

Ich gehe mit ihm zurück, um seinen Proviant zu holen. Er hatte ihn in Plastiktüten gepackt, die er wohl hinter der Ladentheke gefunden hat, und nun liegen Flaschen und Dosen und längliche Packungen verstreut auf der Straße. Manche Dosen rollen noch immer.

»Hast du keinen Rucksack?«

»Hatte ich mal, hab ihn aber verloren.«

Ich mag ihn nicht. Die Figur, die er gibt, ist nicht besonders helle. Während wir seine Vorräte in die Tüten packen – ebenso viel Limo wie Wasser und überwiegend Süßigkeiten –, fragt er, wie ich heiße. Im ersten Moment kann ich mich nicht erinnern, und dann lüge ich.

»Mae«, sage ich. Der Name gefällt mir. Irgendwie fand ich immer, dass diese A- und E-Kombination etwas Weises hat.

Er blickt mich an. Vielleicht weiß er, dass ich lüge. Vielleicht haben sie ihm meinen Namen gesagt. Schließlich sagt er: »Ich bin Brennan.«

Ich habe noch nie einen Brennan gekannt. Ich bezweifele, dass es sein richtiger Name ist. Und es ist mir auch egal. Mein Blick fällt kurz auf sein Sweatshirt.

Ich gehe los. Der Junge folgt mir, Plastiktüten in den Händen, und löchert mich mit Fragen. Er will allerhand über mich wissen: woher ich bin, wie ich hierhergekommen bin, wohin ich will, wo ich war, »als es losging«. Warum, warum, warum. Ich rechne schon fast damit, dass er mir ein zweites Flugblatt in die Hand drückt. Ich spiele ein Spiel und tische ihm für jede Wahrheit zwei Lügen auf. Ich sei aus Raleigh, sei beim Wildwasserrafting von meinen Freunden getrennt worden und seitdem allein unterwegs, ich wolle nach Hause. Bald ist alles gelogen, was ich ihm erzähle. Ich käme aus einer großen Familie, sei Anwältin für Umweltrecht, äße für mein Leben gern Erdnussbutter. Meine Antworten sind unstimmig, aber er scheint es nicht zu merken. Ich glaube, er fragt, um meine Stimme zu hören und um dem Cutter auch was anderes zum Schneiden zu liefern als immer bloß Aufnahmen von meinem Fußmarsch. Ich frage mich, wie sie wohl mit meinen Lügen umgehen werden; ob sie mich beiseitenehmen werden, damit ich mich via Videobeichte erkläre. Meine letzte war nach meinem Streit mit Heather.

Der Junge sagt nichts zu meinem langsamen Tempo, und ich erzähle ihm weder von meiner kaputten Brille noch, dass ich ihn nur wie durch einen Schleier sehe, sobald er weiter als drei Meter von mir entfernt ist. Gegen Mittag unterbricht er seine Fragerei und stöhnt: »Ich bin müde, Mae.« Er ist auch hungrig und will sich ausruhen. Ich mache mir bewusst, dass ich seit gestern nichts mehr gegessen habe, und prompt wird mir schwindelig. Ich setze mich auf die Straßenböschung. Er setzt sich neben mich, zu nah. Ich rutsche ein Stückchen von ihm weg, trinke etwas Wasser und nehme das Trockenfleisch aus meinem Rucksack. Er holt ein Snickers und eine Packung Skittles aus einer seiner Plastiktüten. Nach dem Zuckerrausch wird er schnell schlappmachen, denke ich. Ich will ihm schon ein Stück Trockenfleisch anbieten, doch dann kommt mir der Gedanke, dass ich ihn zurücklassen kann, wenn er eine Rast einlegen muss. Er schüttelt ein paar Skittles in seine Hand und wirft sie sich in den Mund.

Ich erinnere mich an meine Schokolinsen. Wo sind die geblieben? Ich taste meine Jackentaschen ab, suche in meinem Rucksack. Ich kann sie nicht finden. Ich kann mich nicht erinnern, sie fallen gelassen oder gegessen zu haben, ich weiß nur noch, dass ich die Packung geschüttelt habe. Eigentlich müsste ich sie noch in der Hand haben. Vielleicht habe ich sie gedankenlos in eine seiner Tüten gesteckt, als wir seine Sachen von der Straße aufgelesen haben? Es beunruhigt mich, dass ich es nicht weiß, aber fragen will ich ihn auch nicht. Ich kaue schweigend mein Trockenfleisch.

Trotz seiner Zuckermahlzeit hält der Junge den ganzen Nachmittag mit mir Schritt. Anscheinend haben seine Jugend und meine schlechte Sehkraft die Nachteile seiner Ernährung aufgehoben. Als die Sonne nur noch wenige Handbreit über dem Horizont steht, biege ich von der Straße ab.

»Wo willst du hin, Mae?«, fragt er.

»Ein Plätzchen für die Nacht suchen.«

»Hier sind überall leere Häuser«, sagt er. »Wir finden bestimmt irgendwo Betten.«

Ich gehe weiter. Ich wünschte, ich könnte schneller gehen, ohne einen Sturz zu riskieren.

»Mae, komm schon. Das ist doch nicht dein Ernst?«

»Such du dir ein Bett, ich schlafe hier.«

Er lässt den Abstand zwischen uns nicht größer als ein paar Schritte werden, ehe er mir folgt.

Ich baue mir einen Unterschlupf mit einem niedrigen Ast als Hauptstütze. Der Junge beobachtet mich, und nach ein paar Minuten fängt er an, einen Unterschlupf für sich zu bauen. Der Ast, den er nimmt, ist zu lang, hat fast Schulterhöhe. Er verteilt obendrauf nur eine dünne Schicht Laub und lässt beide Enden offen, was die Konstruktion eher zu einem Windkanal macht als zu einem Wetterschutz. Ich sage nichts; soll er doch frieren.

Ich erinnere mich vage, dass Quarz angeblich gut als Feuerstein geeignet ist, deshalb sammele ich nicht nur Feuerholz, sondern auch Steine, die glitzern. Sobald mein Zunder bereitliegt, nehme ich den größten Stein und wische mit meinem Shirt den Schmutz von der scharfen Kante.

»Was machst du da, Mae? Machst du Feuer?«

Ich nehme den Leatherman und klappe ein paar der Werkzeuge aus. Ich weiß nicht, mit welchem sich am besten ein Funken erzeugen lässt, aber der Feueranzünder hatte einen glatten Rand und einen gebogenen, daher beschließe ich, es mit dem Schaft des Schraubenziehers zu versuchen. Ich halte das Werkzeug in der linken und den Stein in der rechten Hand. Wahrscheinlich werde ich mir weh tun. Ich frage mich, ob eine warme Mahlzeit an einem warmen Abend die Mühe wert ist.

»Kannst du echt ohne Streichhölzer Feuer machen?«

Mir wird schlecht. Tankstellenshops haben immer Feuerzeuge oder Streichhölzer an der Ladentheke. Und ich hab nicht mal nachgesehen. Wie konnte ich nur so blöd sein – schon wieder? Wütend schlage ich Feuerstein und Stahl in einer Abwärtsbewegung zusammen. Kein Funken, aber meine Finger sind noch alle dran. Ich versuche es erneut, dann noch mal. Das schmutzige Pflaster auf meinem rechten Handrücken löst sich langsam ab. Der Stein splittert. Ich nehme einen neuen und wechsele vom Schraubenzieher zur kürzesten Messerklinge. Ich hätte den blöden Drillbogen mitnehmen sollen, den sie uns für die Solo-Challenge gegeben haben. Ich habe nie Glut zustande gebracht, noch nicht mal Rauch, aber ich hätte mit dem Ding eine bessere Chance als mit diesem Höhlenmenschgehämmer.

»Du machst das wohl zum ersten Mal, was?«

Ich kann sein Gesicht in der zunehmenden Dunkelheit kaum sehen. Mir tun die Hände weh.

»Soll ich mal?«

Ich reiche ihm den Leatherman und einen Stein. Er schafft gut dreißig Sekunden keinen einzigen Funken, dann zuckt er zurück. »Aua!« Er hat die Werkzeuge fallen lassen, hält sich die linke Hand an den Mund und lutscht am Knöchel seines Zeigefingers.

Bei meinem nächsten Schlag springt ein einsamer Funke von der Klinge und schwebt in Richtung Zunder – ich schaue mit angehaltenem Atem zu. Der Funke landet und verglimmt. Zu spät beuge ich mich dicht über den Boden und puste.

»Mach das noch mal«, sagt er. Diesmal kann ich nicht anders, als ihn wütend anzustarren. »Entschuldigung«, sagt er.

Vier Schläge später landet wieder ein Funke. Diesmal bin ich bereit. Ich puste vorsichtig, und winzige Flämmchen flackern auf. Der Junge jubelt, und ich muss unwillkürlich lächeln. Nach wenigen Minuten prasselt vor uns ein richtiges Lagerfeuer. Es kommt mir vor wie meine größte Leistung seit Wochen, vielleicht überhaupt. Ich schiele zu dem Jungen hinüber, der sich die Hände über den Flammen wärmt. Ich sehe angetrocknetes Blut auf seinem Knöchel. Sofort verschlechtert sich meine Laune. Er ist nicht der Mensch, mit dem ich diesen Moment teilen möchte.

Ich bringe Wasser zum Kochen, um eine Packung Rinderragout zu rehydrieren, und hole den Göffel hervor, den ich nun doch behalten habe. Der Junge beäugt mein Essen, während er an einem bröseligen Butterfinger-Riegel knabbert.

»Hast du außer Süßigkeiten auch noch was anderes mitgenommen?«, frage ich.

»Chips.« Er holt eine Tüte Kartoffelchips hervor, und seine Augen gleiten wieder zu dem Ragout.

Ich habe meine Vorräte ganz bewusst ausgewählt. Ich kann ihm nichts davon abgeben.

Einige Minuten später hustet er, drückt sich eine Hand auf die Brust. Er trinkt einen Schluck Wasser und hustet wieder. Als er sieht, dass ich ihn anblicke, krächzt er eine Erklärung: »Hab einen Krümel verschluckt.«

Trotz allem tut er mir leid. »Sollen wir tauschen?«, frage ich. »Ich gebe dir eine Packung Rindfleisch mit Brokkoli für die Chips.«

Er ist prompt einverstanden. Ich will die Chips gar nicht, und sie nehmen zu viel Platz ein. Ich reiße die Packung auf, drücke die überschüssige Luft raus und rolle sie klein zusammen. Dann stopfe ich sie in meinen Rucksack.

Der Junge gießt heißes Wasser in den Beutel Rindfleisch mit Brokkoli und hält ihn zu. »Wie lange?«, fragt er.

Ich nehme einen Bissen von meinem Essen. Er blickt mich an, während ich kaue. Nach einem Moment antworte ich: »Zehn Minuten.«

Er schielt wieder nach meinem Ragout, aber ich habe ihm schon genug gegeben. Als er nur wenige Minuten später kräftig zulangt, höre ich nicht aufgesogenes Wasser in seiner Tüte schwappen und jeden Bissen zwischen seinen Zähnen knirschen. Er hält inne, um sich das Gesicht mit dem Ärmel abzuwischen. Der Feuerschein spiegelt sich glitzernd an seinem Handgelenk. Ein Armband, denke ich, und dann kneife ich die Augen so lange zusammen, bis ich einigermaßen scharf sehe und etwas Ovales erkenne, das sich farblich und von der Textur her abhebt.

Es ist kein Armband – es ist eine Uhr.

Die Regeln haben uns jede Form von Elektronik verboten. Wir durften weder Handys mitbringen noch GPS-Geräte noch Armbanduhren noch Taschenuhren noch irgendeine andere Art von Zeitmesser. Mein Mann und ich lachten über die Liste, und er fragte: »Wer hat denn noch eine Taschenuhr?«

Dieser Junge jedenfalls nicht. Er hat eine Armbanduhr. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend starre ich die Uhr an, und dann fällt der Groschen – deshalb ist er hier.

Er ist der Kameramann.

Er hat eine Kamera in der Armbanduhr, und wer weiß, wo sonst noch alles – in der Gürtelschnalle, versteckt in der Aufschrift seines Sweatshirts. Und Mikros. Er ist das Gegenteil von Wallaby – gesprächig und aufdringlich, was bedeutet, dass er nicht nur hier ist, um zu filmen, er ist auch eine Challenge. Er soll jung und hilflos rüberkommen, aber das ist er nicht. Jede Handlung, jedes Wort ist Teil der Welt, die die Macher der Show kreieren. Und er ist mehr als ein Kameramann: Sie haben ihm einen Namen zugestanden.

Nach dem Essen stehe ich auf und gehe pinkeln. Als ich wiederkomme, ragen Brennans Füße samt Sneaker aus seinem nutzlosen Unterschlupf. Er schnarcht, und ich hasse ihn dafür. Ich trete auf einen dünnen Zweig. Er knackt, aber Brennan wird nicht wach. Ich denke an die Taschenlampe in meinem Rucksack. Ich könnte einfach abhauen. Ich würde nicht mal weit gehen müssen, eine Stunde oder zwei, und er würde mich niemals wiederfinden. Aber nein – das hier ist anders als das, was Randy gemacht hat; sie würden ihm helfen. Brennan ist eine Figur, kein Mitspieler, und anscheinend wollen sie, dass er bei mir bleibt. Trotzdem reizt es mich, bloß um ihnen die Arbeit zu erschweren, um diesen Jungen einen Bruchteil dessen durchmachen zu lassen, was ich durchgemacht habe. Letzten Endes jedoch befinde ich, dass Schlaf wichtiger ist als kleinliche Rache. Ich krieche in meinen Unterschlupf und ziehe meinen Rucksack herein. Ich bin so müde, dass ich trotz Brennans Geschnarche und Geschnaufe einschlafe.

Ein Schrei weckt mich mitten in der Nacht. Ein Baby, ein wildes Tier, meine Ängste springen mich an. Ich wehre mich mit Händen und Füßen gegen sie, aber nach ein paar panischen Sekunden merke ich, dass ich gar nicht angegriffen werde. Das Geräusch ist weg. Mit pochendem Herzen krieche ich nach draußen. Ich sehe Brennan zittern, die Knie an die Brust gezogen. Er schreit auf, kurz und schrill. Der Schrei kam von ihm, und er schläft noch oder stellt sich schlafend.

Solo-Challenge-Hindernis Nummer eintausendsiebenunddreißig: die Albträume eines Fremden ertragen. Na toll.

Mein Adrenalinpegel macht Schlaf unmöglich. Ich setze mich an das erloschene Feuer, stochere mit einem Stock in der Asche herum, während ich die Nacht betrachte. Eine Fledermaus schwirrt über den Himmel, und ich denke an meine Flitterwochen. Ich denke an die warme Umarmung meines Mannes, als wir vor drei Jahren zusammen auf dem Balkon eines kleinen Hotels am See saßen und den Fledermäusen in der Abenddämmerung zuschauten. Ich denke daran, wie er unauffällig die Hand hob und dann plötzlich in mein Haar griff. Ich denke daran, wie ich übertrieben aufkreischte und hochsprang – nimm das Vieh weg –, und ich denke daran, wie ich wieder in seine Arme zurückkehrte, und an das, was folgte. Am nächsten Tag gingen wir im See schwimmen, und als wir aus Versehen auf die Sandburg eines kleinen Mädchens traten, bückte mein Mann sich sofort und half der Kleinen, den Schaden zu reparieren. Ich dagegen blieb instinktiv einfach nur stehen und dachte: O nein.

Der Balkon. Die Fledermäuse. Die Hand meines Mannes in meinem Haar. Wenn er jetzt hier wäre, würde er mit den Fingern nicht durch die verfilzten Strähnen kommen. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und starre auf die Asche, halb blind. Ich würde alles dafür geben, wieder dort zu sein, mit ihm. Ich würde alles dafür tun.

Alles außer aufgeben.

Am nächsten Morgen ist Brennan putzmunter, fast fröhlich. Nachdem er mir gestern ein Loch in den Bauch gefragt hat, spricht er heute umso mehr über sich. Beim Gehen erzählt er mir von seiner Familie, seinem Haustier – einem Kampffisch –, seiner Schule, seinem Basketballteam. Ich frage ihn nicht nach seinem Sweatshirt; ich frage ihn gar nichts, und trotzdem redet er fast den ganzen Tag, plappert wie ein kleines Kind, das gerade sprechen gelernt hat. Er wirft Sprüche ein wie »Bevor alle krank wurden« und »Ein Arzt im Fernsehen hat gesagt …« Als er davon anfängt, über Ebola als Kampfstoff zu sprechen, platzt mir fast der Kragen, schreie ich ihn fast so an, wie ich Heather angeschrien habe. Das ist sein Job, beschwöre ich mich. Deshalb ist er hier, um zu filmen und mich zu reizen. Ich darf ihn nicht an mich ranlassen. Ich blende ihn aus, so gut ich kann, und trotte weiter.

In der Nacht werde ich wieder von seinen Schreien geweckt, und ich denke, dass mir ein ganzes Rudel angriffslustiger Roboter-Kojoten lieber wäre als das. Aber ich muss mich damit abfinden, mit allem, weil er der Kameramann ist.