10.

Am Morgen versammeln sich die elf verbliebenen Kandidaten vor der Blockhütte und unterhalten sich leise über die fehlende Nummer zwölf. Ein Praktikant tauscht derweil die Akkus in ihren streichholzschachtelgroßen Mikrophon-Taschensendern. Der Moderator kommt hinzu. Er hält genau so einen schwarzen Rucksack hoch, wie jeder Kandidat einen trägt. Zu seiner Rechten steht ein großer Plastikeimer, zu seiner Linken ragt ein langer Holzpfahl gen Himmel.

»Wir haben unseren ersten Verlust zu beklagen«, sagt der Moderator. Er greift in den Rucksack und holt Cheerleaders Messer und das pinke Bandana heraus. Dann rammt er das Messer mit Wucht durch das Bandana mitten in den Pfahl. Einige Sekunden lang herrscht geschocktes Schweigen unter den Kandidaten, dann ist Flüstern zu hören: »Hat er aufgegeben?« »Meint ihr, er hat sich verletzt?« »Schiss vor der Dunkelheit, wette ich.« »Wen juckt’s?«

Der Moderator fordert mit einem gebieterischen Schritt nach vorn die Aufmerksamkeit ein. »Und jetzt kommen wir zur Verteilung seiner Ausrüstung.« Seine Stimme ist locker und fröhlich, ein verblüffender und gewollter Gegensatz zum brutalen Einsatz des Messers. Er zieht Cheerleaders Müllsäcke aus dem Rucksack und gibt Air Force und Black Doctor je einen. Exorzist tritt vor, um den dritten entgegenzunehmen, doch der Moderator wendet sich von ihm ab und den Teilnehmern zu, die in Zoos Team waren.

Er reicht der Kellnerin den gefalteten Müllsack. »Er wollte, dass du den bekommst.«

Die Kellnerin nimmt den schwarzen Plastiksack mit einer Mischung aus Ehrfurcht und schlechtem Gewissen an. Obwohl sie letzte Nacht auf einer Matratze geschlafen hat und heute Morgen duschen konnte, ächzt ihr der Schädel. Sie fühlt sich deutlich besser als gestern. Aber sie weiß nicht genau, was sie von diesem Erbe halten soll. Sie hätte Cheerleader überhaupt nichts gegeben.

Als Nächstes fördert der Moderator eine Wasserflasche aus dem Rucksack zutage. Sie ist voll – das wird unerwähnt bleiben, aber wenn Kandidaten aufgeben, wird man ihre Trinkflaschen jedes Mal mit sauberem Wasser füllen, ehe sie weitergegeben werden. »Und die hier geht an …« Der Moderator lässt den Blick über die Kandidaten wandern, während er ein paar Schritte von links nach rechts geht und wieder zurück, um den Moment in die Länge zu ziehen. Die Kellnerin ist die Einzige, die das Wasser nicht haben will; sie hat schon drei Flaschen, und die sind schwer.

Hier wird nun Cheerleaders Abschlussinterview gesendet, mit Bildern dazwischen, wie er von einem schwarzgekleideten, unauffälligen Guide aus dem Wald geführt wird. »Ob ich gedacht habe, ich würde als Erster die Brocken hinschmeißen?«, sagt er. »Nein, aber wer denkt das schon?« Er sitzt im Fond eines Wagens mit getönten Scheiben. »Ich bedaure es nicht, mitgemacht zu haben, aber genug ist genug. Ich freu mich auf zu Hause. Im Grunde ist mir egal, wer mein Zeug bekommt.«

Der Moderator bleibt vor Black Doctor stehen.

»Doc ist in Ordnung«, sagt Cheerleader. »Und dem ist sauberes Wasser immer total wichtig. Meinetwegen gebt ihm meine Trinkflasche. Bloß nicht Randy.« Seine Gesichtsmuskeln verziehen sich hasserfüllt, so schnell, dass man es kaum mitbekommt. Er schließt die Augen und lehnt sich im Sitz zurück. »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.«

Black Doctor nimmt die Flasche feierlich entgegen, und der Moderator wendet sich wieder an alle.

»Heute kommt unsere zweite Team-Challenge«, sagt er. »Aber zuerst gibt’s eine Solo-Challenge, um die Teams zu bestimmen.« Er deutet mit einem Wink auf den Eimer, und die Fernsehzuschauer bekommen eine Aufnahme von dessen Inhalt zu sehen: braunem Wasser mit nicht identifizierbaren organischen Teilchen. Die Kamera macht einen Schwenk, und ins Bild kommt ein Tisch, auf dem zwei weitere Eimer stehen. Einer enthält Sand, der andere Holzkohle. Neben den Eimern stehen elf Zwei-Liter-Plastikflaschen. Zoo hat die Hand in der Tasche und umfasst ihr hellblaues Bandana mit der Asche von der letzten Filteraktion. Der Moderator gibt genau die Erläuterung, die sie erwartet hat: Mit dem Sand und der Holzkohle auf dem Tisch und den Utensilien, die sie bereits haben, sowie mit allem, was sie sonst noch finden, müssen die Kandidaten Wasser filtern. Sie haben dreißig Minuten Zeit. »Am Ende der Challenge müsst ihr mindestens eine Tasse gefiltert haben, sonst werdet ihr disqualifiziert. Wer das sauberste Wasser hat, gewinnt.«

Die halbstündige Challenge wird vom Cutter auf drei Minuten gekürzt. Ein Großteil dieser drei Minuten wird Zoo zeigen, die sich prompt ans Werk macht, mit dem Messer eine Zwei-Liter-Flasche in der Mitte durchsägt, dann in den Flaschenboden eine Reihe kleinerer Löcher sticht. Sie füllt ihre noch feuchte Asche hinein, drückt sie fest, schichtet Sand obendrauf und zum Abschluss Kieselsteine und Grashalme. Mit Hilfe der oberen Flaschenhälfte schöpft sie schmutziges Wasser aus dem Eimer und gießt es in ihren provisorischen Filter. Sie hält den Filter über ihre Messtasse und wartet. Während Zoos Wasser durchtropft, beginnt Tracker, der gerade genug Holzkohle zu Asche zermahlen hat, seinen Filter zu bauen. Die anderen beobachten die beiden und eifern ihnen mit unterschiedlichem Erfolg nach.

»Gestern fand ich es nobel, dass sie ihr Bandana für die Asche genommen hat«, sagt Schreiner-Girl, die mit einem Stein ihre Holzkohle zerkleinert. »Ich dachte, das Ding kriegt sie nie wieder sauber. Blöd, dass sie die Asche jetzt schon hat, aber sie kann natürlich froh sein. Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, die zu behalten.«

»Clever«, sagt Ingenieur.

»Reines Glück«, sagt die Kellnerin. Sie sticht zögerlich ihr Messer in die Zwei-Liter-Flasche.

Zoos Wasser hat die Tasse gefüllt, ist aber noch gelbbraun gefärbt. »Zehn Minuten«, sagt der Moderator. Sie schöpft den dicksten herausgefilterten Schlier von der obersten Schicht und erneuert das Gras, schüttet dann das einmal gefilterte Wasser wieder hinein.

Bankers Filter ist ein schlammiger Strudel, seine Messtasse trocken.

»Meint ihr, die merken das, wenn ich die Tasse einfach hiermit fülle?«, fragt Black Doctor und hält die Flasche hoch, die er von Cheerleader bekommen hat.

Rancher, Air Force und Ingenieur machen ihre Sache gut. Fast so gut wie Tracker. Wenn Zoo keinen Vorteil gehabt hätte, wäre es ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

»Die Zeit ist um!«

Die Kellnerin und Banker haben so gut wie kein Wasser in ihren Messtassen. Exorzists Tasse ist knapp ein Drittel voll. Alle drei sind raus. Wer von den verbliebenen acht gewonnen hat, liegt auf der Hand. Zoos Wasser ist nicht klar, aber es ist deutlich weniger gelb als das der anderen. Bios Tasse sieht aus, als hätte sie direkt aus dem Eimer mit schmutzigem Wasser geschöpft.

»Glückwunsch«, sagt der Moderator zu Zoo. »Zur Belohnung darfst du die Teams für unsere nächste Challenge zusammenstellen. Vier Zweierteams und ein Dreier wegen der … krummen Teilnehmerzahl.« Den Produzenten gefällt das nicht. Er wird den Satz später noch einmal aufnehmen müssen, ohne die Erklärung.

»Erfahre ich irgendwas über die Challenge, bevor ich die Teams auswähle?«, fragt Zoo.

»Nein. Wen möchtest du als Partner?«

Ingenieur versucht, nicht zu lächeln: Sie wird ihn nehmen, garantiert – sie haben schließlich zusammen einen Fisch gefangen.

Zoo nennt ohne Zögern Tracker. Ingenieur ist insgeheim am Boden zerstört. Zoo macht ihn zum Partner von Schreiner-Girl, weil sie glaubt, dass die beiden gut zusammenarbeiten werden. Als Nächstes reißt sie die junge Allianz auseinander, indem sie Air Force mit Bio und Black Doctor mit Banker kombiniert. Damit bleiben Rancher, die Kellnerin und Exorzist für das Dreierteam.

Der Moderator signalisiert allen, ihm zu folgen. Er führt sie nach Westen, in Richtung der Wiese von gestern. Der folgende Marsch wird übersprungen – zack, sie sind angekommen! Sie stehen an der südlichen Felswand, da, wo Bio und Exorzist während der Challenge am Abend zuvor gelandet sind. An der Felswand hängt jetzt ein lachsfarbenes Seil, das oben an zwei Baumstümpfen und einem kleinen Felsen befestigt ist.

Banker lächelt. »Super«, sagt er. Als er Black Doctors fragenden Blick sieht, fügt er hinzu: »Das schaffen wir.«

»No way«, sagt die Kellnerin. Der Cutter beschließt, das zu ihrem Motto zu machen. »No way. Ich hab Höhenangst.«

Exorzist sieht sie herablassend an. »Das sind höchstens zehn Meter.«

Rancher betrachtet die Felswand, das Seil. »Da sollen wir hochklettern?«, fragt er. Es ist nicht klar, wer mehr Angst hat – er oder die Kellnerin.

Der Moderator geht am Fuß der Felswand in Position. Er zieht mit einer Hand an dem baumelnden Ende des Seils. »Felsklettern«, sagt er. »Ist vielleicht keine unerlässliche Fertigkeit, um in der Wildnis zu überleben, kann einem aber mitunter aus einer schwierigen Lage helfen. Und außerdem« – er lässt ein weißes Strahlelächeln aufblitzen – »macht es Spaß. Der erste Teil dieser Challenge besteht darin, dass ein Mitglied jedes Teams so schnell wie möglich nach oben klettert. Eure Zeit wird gestoppt und entscheidet über die Reihenfolge, in der die Teams mit der nächsten Phase beginnen.« Er sieht Zoo an. »Welches Team soll den Anfang machen?«

Zoo, die Bankers selbstbewusste Bemerkung zu seinem Partner nicht gehört hat, fragt sich, ob hier einer klettern kann. Sie war ein paarmal mit Freunden in einer Kletterhalle, ist aber noch nie an einer richtigen Felswand geklettert. Nach kurzem Nachdenken sagt sie, dass Bio und Air Force anfangen sollen.

»Bist du schon mal geklettert?«, fragt Air Force seine Teampartnerin.

Bio schüttelt den Kopf.

»Wer von euch macht’s?«, fragt der Moderator.

»Ich«, antwortet Air Force.

Ein Zeitsprung: Air Force und Bio tragen beide Helm und Gurte. Von der Kamera unbeobachtet haben alle Kandidaten in einer kurzen Unterweisung gelernt, wie man den kletternden Partner am Seil sichert – Banker spottet über die Ausrüstung. »Mit einem Grigri kann doch jeder sichern«, aber er hilft Black Doctor, als der nicht weiterweiß – und ein Guide, der nie von einer Kamera erfasst werden wird, geht hinter Bio in Position, um ihr notfalls zu helfen. Air Force wird eingegurtet, und das Sicherungsgerät wird an Bios Gurt befestigt. Die Beinschlaufen umrahmen ihr Gesäß, heben beide Pobacken an, und der enge Hüftgurt sitzt nur wenige Zentimeter unter ihren Brüsten, die dadurch betont werden. Die Kamera verweilt schamlos auf ihr.

»Ich bin schon mal Holzwände hochgeklettert, aber noch nie eine Felswand«, sagt Air Force. Sein kurzes Haar ist fettig, und seine Haut glänzt vor Schweiß. Am Hals hat er eine Schmierspur, wo er an einem Mückenstich gekratzt hat. Er und Black Doctor sind die beiden Einzigen, die nach der nächtlichen Challenge nicht duschen konnten. »Mal sehen, wie’s klappt.« Er stockt. »Mein Knöchel? Dem geht’s besser. Der wird wieder.«

»Und los!«, sagt der Moderator.

Air Force hat nicht genug Erfahrung, um die Felswand im Handumdrehen zu bezwingen, und das weiß er auch. Er überlegt, wo der beste Einstieg ist. Jeder Freikletterer vor den Bildschirmen wird wissen, was Banker bereits weiß: Diese Wand ist eine 5,5-Route – im Höchstfall eine leichte 5,6 –, glatt mit Henkelgriffen. Diese Challenge ist eher eine mentale als eine körperliche Herausforderung.

Air Force hält sich an dem Felsen über seinem Kopf fest und steigt auf eine kniehohe Kante. Er steht nicht mehr auf der Erde. Bio zieht das schlaffe Seil durch das Grigri straff. Sie ist nervös; sie glaubt wirklich, dass sie das Leben eines Menschen in den Händen hält. Hinter ihr hat der Guide eine Bremshand am Seil. Air Force bewegt sich aufwärts, die Hände fest an den Griffen, den Körper dicht am Felsen. Er verlässt sich zu sehr auf seine Arme. Schon bald sind seine Unterarme überanstrengt, und die Finger schmerzen. Er ist auf halber Höhe. Er verschnauft, drückt eine Wange an die kühle Felswand und schaut nach unten. Die Höhe macht ihm keine Angst; er ist zwar außerhalb seiner Komfortzone, aber er bleibt ruhig. Er schüttelt nacheinander die Hände aus und schiebt seine Finger dann hoch zum nächsten Griff.

Nach fünf Minuten und vier Sekunden klatscht er seine schmutzige Handfläche auf das weiße Klebestreifen-X oben an der Wand. Bio zieht das Seil mit einem letzten Ruck straff, dann lehnt Air Force sich zurück und lässt die Wand los. Bio löst die Bremse, und ihr Partner spaziert förmlich die Felswand hinunter. Bio hält die Luft an, bis er wieder auf sicherem Boden ist.

»Welches Team ist als Nächstes dran?«, fragt der Moderator Zoo.

Sie zeigt auf das Trio.

»Und ich werde zum Himmel aufsteigen«, sagt Exorzist.

Er lässt die Fingerknöchel knacken, springt dann in die Felswand und huscht sie hoch wie ein Äffchen. Die Kellnerin nimmt eine Auszeit; Rancher hat Mühe, das Seil schnell genug einzuziehen. Die Bewegung ist ungewohnt, und er kommt kaum mit.

Doch dann rutscht Exorzist ab. Er rudert mit Händen und Füßen, während er nach unten saust. Die Kellnerin kreischt auf. Auf halber Höhe wird Exorzist jäh abgebremst, Rancher wird auf die Zehenspitzen gehoben und nach vorn gerissen, beide Hände unterhalb der Taille fest am Seil. Seine Sicherung hält. Exorzist schwingt nach links, dreht sich um die eigene Achse und prallt mit der Schulter gegen den Felsen. Als das Seil endlich zur Ruhe kommt, baumelt er locker in den Gurten. Er hat Blut im Gesicht und an den Händen.

Die Fernsehzuschauer werden Exorzist nun von oben sehen, weil die Kameradrohne aus unsichtbarer Höhe herabschießt und auf sein bleiches, verschwitztes Gesicht zoomt. Das von seinen aufgeschürften Fingerkuppen auf der Stirn und der linken Wange verschmierte Blut sieht aus wie eine Kriegsbemalung. Seine Mundpartie ist verkrampft, die mandelbraunen Augen sind weit aufgerissen.

»Kannst du weitermachen?«, ruft der Moderator.

Exorzist nickt steif. Sein Draufgängertum zeigt Risse. Zum ersten Mal seit Beginn des Drehs ist er sichtlich verängstigt. Durch seine Furcht wirkt er realer, wie ein Mensch statt wie eine Karikatur. Die Produzenten sind beunruhigt; dafür wurde er nicht gecastet. Aber sie überlassen es dem Cutter, was er daraus macht. Auch sie sind neugierig, wie es weitergeht.

Eine volle Minute verstreicht – für die Fernsehzuschauer nur wenige Sekunden –, während Exorzist sich zusammenreißt. Als er wieder losklettert, bewegt er sich mit ungewohnter Vorsicht.

»Wow«, sagt Schreiner-Girl. »Er hat Mumm.«

Ingenieur nickt; er glaubt nicht, dass er nach einem solchen Sturz einen neuen Versuch starten könnte.

Insgesamt steigt Exorzist im Ansehen der übrigen Kandidaten, wenn auch nur minimal – von null auf eins auf einer noch offenen Skala.

Exorzist gelangt nach neun Minuten und zweiunddreißig Sekunden ans Ziel.

Banker und Black Doctor sind als Nächste dran. Schon Bankers erste Bewegungen verraten, dass er ein erfahrener Kletterer ist. Er gleitet die Wand mit einer effizienten Geschmeidigkeit hoch. Sein Aufstieg wird mit einer Videobeichte zusammengeschnitten werden: »Im Sommer bin ich an den meisten Wochenenden in den Shawangunk Moutains, und letztes Jahr bin ich den El Capitan hoch. Diese Challenge ist ideal für mich. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Erster werde.« Er schlägt nach nur einer Minute und vierundvierzig Sekunden auf das weiße X. Er ist nicht mal aus der Puste. Black Doctor stößt einen Freudenschrei aus und lässt seinen Partner herunter. Exorzist kneift die Augen zusammen.

»Wow«, sagt Zoo. »Nicht schlecht.« Sie wendet sich an Ingenieur und Schreiner-Girl. »Ihr seid dran. Viel Glück.«

Zum ersten Mal wird eine Frau für die Kletterpartie eingegurtet. »Also«, sagt Schreiner-Girl via Videointerview, »ich hatte eigentlich noch nie Höhenangst. Irgendwie mag ich’s sogar. Die besten Tage in meinem Job sind die, wo ich auf Dächern zu tun habe. Ich freu mich auf die Challenge.«

Schreiner-Girl ist klein, was ihre Reichweite einschränkt, aber sie ist auch leicht und äußerst gelenkig – ein Überbleibsel aus der Kindheit, als sie leidenschaftlich geturnt hat. Und obwohl es bei ihr nicht so mühelos aussieht wie bei Banker, klettert sie mit einer lockeren Leichtigkeit. Sie schlägt nach vier Minuten und dreizehn Sekunden auf das X, womit sie und Ingenieur den zweiten Platz belegen.

Zoo und Tracker sind an der Reihe. »Irgendwie hab ich das Gefühl, ich hätte den Kletterpart übernehmen sollen«, sagt Zoo in einer Videobeichte, während Tracker sich eingurtet. »Als sollte ich einfach alles machen, egal, wie beängstigend oder schwierig es ist. Aber man muss auch strategisch vorgehen, und in diesem Fall ist offensichtlich, dass mein Partner besser klettern kann als ich. Ich meine, habt ihr neulich gesehen, wie er den Baum hoch ist? Wie ein Affe. Oder eine Katze.« Sie lacht. »Eine Affenkatze. Klingt niedlich, oder?« Das wird im Internet einen Sturm von Rassismusvorwürfen auslösen – Zoo wäre entsetzt, wenn sie das wüsste. Sie wollte damit bloß sagen, dass er gut klettern kann.

An der Felswand fehlt es Tracker an Bankers Erfahrung, aber er kann sich gut bewegen, und er kennt seinen Körper. Er nähert sich flink und geschmeidig dem Ziel. Die Stoppuhr tickt. »Eine Minute um«, sagt der Moderator. Tracker hat gerade die erste Hälfte der Wand geschafft. Er hat noch dreiundvierzig Sekunden, wenn er Banker schlagen will. Er will ihn schlagen – aber er kennt auch seine Grenzen. Seine Finger erkunden den Felsen, seine Augen und sein Verstand kooperieren perfekt bei der frühzeitigen Einschätzung der besten Griffe. »Eine Minute dreißig!« Er ist dem weißen X ganz nahe, aber ist er nah genug? Black Doctor packt Bankers Schulter.

»Eine Minute vierundvierzig«, sagt der Moderator.

Black Doctor und Banker klatschen einander ab.

Vierzehn Sekunden später erreicht Tracker das X. Er und Zoo belegen Platz zwei.

Mit allen Verzögerungen und Überleitungen hat die Challenge Stunden gedauert. Das Obst in der Blockhütte ist längst verzehrt. Rancher hat noch einen Burger im Rucksack und Banker ein paar schlaffe Spargelstangen. Tracker hat den Rest der gegrillten Hähnchenbrust heute Morgen gegessen, er hat Kalorien lieber sofort als später. »Ich hab Kohldampf«, sagt Ingenieur. Bio hat nur noch ein paar Proteinriegel übrig, und sie gibt keine mehr ab.

Der Moderator hatte zum Frühstück Eier und Wurst. Für Lunch war keine Zeit, aber er hat zwischen den Kletterpartien der Teams ein Snickers gegessen und eine Cola Zero getrunken, mit dem Rücken zu den Kandidaten. Er freut sich schon drauf, sie auf die nächste Etappe der Challenge zu schicken, damit er ein Sandwich essen kann. Aber zuerst heißt es wieder warten. Die Kandidaten stehen herum, würden gern wissen, wie es weitergeht. Nach einigen Minuten kommt ein Praktikant angehetzt und ruft: »Sorry, sorry!« Er ist pummelig, Anfang zwanzig. Er trägt eine große Sporttasche, die er dem Moderator bringt.

»Na endlich«, sagt der Moderator, während die Kandidaten aufgefordert werden, sich in einer Reihe vor ihm aufzustellen.

In der Sporttasche sind fünf zusammengerollte Landkarten, eine für jedes Team. Der Moderator schwenkt eine der Rollen. »Die nächste Phase dieser Challenge ist härter als alle bisherigen. Und länger. In eurer Karte liegt ein Zettel mit einem Clue, der euch zu einem Wegpunkt führt, wo ihr einen weiteren Clue findet. Der dritte und letzte Clue führt euch ans Ziel der Challenge.« Er stockt. »Ihr werdet heute nicht fertig.« Einige Kandidaten murren leise, was die Worte des Moderators untermalt, als er fortfährt: »Die Reihenfolge, in der ihr zur nächsten Etappe aufbrecht, richtet sich danach, wie eure Teams beim Kletterpart abgeschnitten haben.« Er reicht Banker eine der Kartenrollen. »Ihr zwei startet als Erste, die anderen folgen in Abständen von zehn Minuten. Eure Zeit läuft ab jetzt.«

Banker und Black Doctor sammeln hastig ihre Ausrüstung ein, laufen dann gut zwanzig Schritte weit weg, ehe sie ihre Karte entrollen. Die anderen stehen herum, und die Kellnerin setzt sich hin, lehnt den Rücken an einen Baum und schließt die Augen.

Die neue Landkarte ist topographisch und deckt wesentlich mehr Quadratmeilen ab als die Karten, die den Kandidaten bisher in die Hand gegeben wurden. Abgerundete, nie ganz konzentrische Linien und die Windungen fließender Gewässer verraten die Geländebeschaffenheit. Ein Ihr-Standort-Punkt befindet sich links unten in der Ecke. In diesem Maßstab sieht die unbefestigte Straße von gestern Nacht ganz nah aus. Auf dem Zettel, der in der Karte steckt, steht:

Ein Felsen sonnt sich an der Biegung eines Flusses. Im Laufe des Nachmittags wirft die höchste Erhebung der Gegend einen langen Schatten. Im dunkelsten Dunkel versteckt wartet euer nächster Clue.

»Okay«, sagt Black Doctor. »Das ist ja wohl eindeutig, oder? Wir müssen einen Felsen an einem Fluss östlich des höchsten Berges finden. Wo ist der?«

Banker fährt mit dem Zeigefinger über die Karte, sieht sich die Höhenlinien an. »Da«, sagt er. »Der da ist der höchste.«

»Und da ist eine blaue Linie«, sagt Black Doctor. »Aber ich sehe keinen Felsen.«

Banker unterdrückt ein Lachen, weil er nicht unhöflich sein will. Black Doctor sieht sein Lächeln nicht, die Fernsehzuschauer dagegen schon. »Ich glaube nicht, dass die den Felsen hier direkt einzeichnen«, sagt Banker. »Nicht bei diesem Maßstab. Wir müssen nach der Flussbiegung suchen.«

»Ach ja, stimmt. Das müsste dann … die sein?« Black Doctor stößt den Zeigefinger auf die Karte.

Es wird einen unerwarteten Thread zu diesem Thema geben – Black Doctors dicke Finger. Wie kann er denn mit den Fingern ein Skalpell führen?, wird eine Userin fragen. Ein anderer: Ich würde mich von so haarigen Wurstfingern nicht operieren lassen! Eine einsame Stimme der Vernunft wird sich mit dem Hinweis zu Wort melden, dass das Aussehen der Finger eines Menschen nicht auf dessen Kunstfertigkeit schließen lasse, und außerdem wisse doch keiner, was für ein Arzt Black Doctor überhaupt ist. Und das stimmt: Black Doctor ist kein Chirurg. Er ist Radiologe, und seine dicken Finger sind bei seinem Job kein Hindernis.

»Sieht ganz danach aus«, sagt Banker. »Und wie kommen wir am besten dahin?«

Sie tippen abwechselnd auf die Karte, überlegen hin und her und einigen sich schließlich auf eine Route, die die meiste Zeit Wasserläufen stromaufwärts folgt. Beide schauen auf ihren Kompass und ziehen dann los in den Wald.

Als Zoo und Tracker vier Minuten später ihre Karte bekommen, machen sie das Ziel auf Anhieb aus, und Tracker bemerkt östlich des Bergflusses etwas, das Black Doctor und Banker entgangen ist: den breiten weißen Streifen, der das üppige Grün der Karte durchschneidet. »Ich schlage vor, wir folgen dieser Schneise nach Norden und machen an ihrem Ende eine Peilung Richtung Flussbiegung«, sagt er.

»Klingt super«, sagt Zoo lachend. »Aber verrätst du mir auch, was genau du mit ›eine Peilung machen‹ meinst?«

Tracker versteht nicht, warum sie lacht. Weder ihre Frage noch ihre Unkenntnis ist lustig. Aber sie sind im Moment nun mal ein Team, und deshalb antwortet er: »Ich meine, mit Hilfe des Kompasses die Richtung zu bestimmen, in die man gehen sollte, um dann seiner Peilung von Orientierungspunkt zu Orientierungspunkt zu folgen, vor allem in einer Gegend, in der man sonst sehr leicht die Orientierung verlieren würde.«

»Ach so!«, sagt Zoo. »So ähnlich haben wir das letzte Nacht schon gemacht.«

Tracker blinzelt, holt dann seinen Kompass hervor und legt ihn auf die ausgebreitete Karte auf dem Boden. Er dreht die Karte leicht, um ihren Norden mit dem seines Kompasses auszurichten, dreht dann die Kompassdose, bis die Nadel mit der Nordmarkierung übereinstimmt. »Achtunddreißig Grad«, sagt er eher zu sich selbst. »So kommen wir zu der Wiese. Obwohl …« Seine Augen schweifen über den Rand der Karte.

»Wonach suchst du?«, fragt Zoo.

»Nach der Deklination«, sagt Tracker. Es gibt kleingedruckte Erläuterungen, aber offenbar nicht die Erläuterungen, die er sucht. »Da steht nichts. Hier in der Gegend muss die Abweichung mindestens fünf Grad betragen. Also sagen wir dreiundvierzig Grad. Das ist unsere Marschrichtung.«

Zoo stellt ihren Kompass auf dreiundvierzig Grad ein, hält ihn sich dann flach vor die Brust. Tracker faltet die Karte so, dass ihr aktueller Standort obenauf liegt.

»Der abgestorbene Baum da hinten?«, fragt Zoo. Eine vermoderte, umgestürzte Birke liegt so einigermaßen auf ihrer Route.

»Von mir aus«, sagt Tracker.

Sie gehen los.

»Du hast eben was von Deklination gesagt, aber ich muss gestehen, ich hab keine Ahnung, was das genau ist«, sagt Zoo.

Tracker antwortet nicht. Er hat schon mehr geredet, als ihm lieb ist.

Zoo gönnt ihm ein paar Schritte Schweigen, dann hakt sie nach: »Also, was genau ist Deklination?«

Tracker gibt nach. »Das ist der Unterschied zwischen dem geographischen und dem magnetischen Norden.« Zoos neugieriger Blick spornt ihn zu einer weiteren Erläuterung an. »Landkarten sind auf den geographischen Norden – den Nordpol – ausgerichtet, und Kompasse auf den magnetischen Norden. Die Deklination korrigiert diesen Unterschied.«

»Aha.« Zoo versucht vergeblich, sich so leise und geschmeidig zu bewegen wie Tracker. Ein Zweig knackt unter ihrem Fuß, und sie verzieht das Gesicht. Der Kameramann, der ihnen folgt, ist sogar noch lauter als sie. Er stolpert und fällt beinahe hin. Zoo will ihn schon fragen, ob er sich weh getan hat, verkneift sich dann aber die Nettigkeit. Er ist gar nicht da, ruft sie sich in Erinnerung. Und dann lacht sie schon wieder, weil sie sich fragt: Wenn ein Kameramann im Wald hinfällt und keiner sich nach ihm umdreht, hat er dann ein Geräusch gemacht?

Tracker krümmt leicht den Rücken, und seine Mundwinkel zucken unmerklich.

Schreiner-Girl und Ingenieur erhalten als nächstes Team ihre Landkarte. Augenblicke später sind sie schon unterwegs, ebenso wie Air Force und Bio, sobald sie ihre Karte haben.

Die letzte Gruppe – das Trio – tut sich dagegen schwer. Rancher ist von der Karte dermaßen verwirrt, dass er kaum zuhört, als die Kellnerin den Zettel vorliest. In seiner Heimat kennt er sich aus, aber dort ist die Landschaft wie ein langgezogener weicher Vokal. Das Land hier ist wie eine Reihe scharfer Konsonanten. Unverständliche Linien durchpflügen sein Gesichtsfeld. Auch die Kellnerin ist völlig überfordert. Aber das größte Problem des Teams ist Exorzist. Von dem Absturz an der Felswand tun ihm noch immer Hände und Schulter weh, und auch sein Stolz ist verletzt. Seiner Meinung nach steht der Clue ihm zu, ihm allein – er ist schließlich für sein Team geklettert und ins Seil gestürzt. Er kocht innerlich und würde der Kellnerin am liebsten den Zettel aus den Händen reißen. Er ist voller gehässiger Gedanken – sexistischer Gedanken, rassistischer Gedanken. Durch den Absturz, der ihn menschlicher gemacht hat, ist sein monströses Ego aufgeflammt.

Exorzist ist sich dieses monströsen Egos durchaus bewusst, obwohl er es lieber nicht hätte. Er würde es vertreiben, wenn er könnte. Jedes Mal, wenn er eine verschmähte Mutter oder einen misshandelten Jungen davon überzeugt, dass der Hass, den sie in sich spüren, ein Eindringling von außen ist, hilft das. Den Hass eines anderen in einen Dämon zu verwandeln und auszutreiben ermöglicht es ihm, seinen eigenen zu ertragen. Aber hier ist niemand, dem er einen Dämon austreiben könnte. Hier ist bloß Wildnis. Somit kann Exorzist nur auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen, um wieder innere Ruhe zu finden. Er sagt: »Ich kannte mal eine Frau in Boulder, Colorado. Sie hat mich um Hilfe bei einem speziellen Problem gebeten.«

»Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt«, sagt die Kellnerin.

Exorzist redet unbeirrt weiter. Er kann nicht anders. »Sie hatte keinen echten Dämon, den haben nur wenige. Aber ich konnte ihr trotzdem helfen. Ich hab gesagt: ›Ja, Sie sind besessen.‹ Und diese Frau hatte schon so lange immer nur ›nein‹ gehört, dass es ihr schon besserging, als sie endlich mal ein Ja hörte. Ehrlich, fast im selben Moment nahmen ihre Augen einen friedlichen Ausdruck an.«

»Wir müssen diesen Clue hier kapieren«, sagt die Kellnerin.

Exorzist fingert an der Karte herum, knickt eine Ecke. »Danach brauchte sie bloß ein bisschen Händchenhalten und Beten. Ein Kinderspiel.«

»Wie lautet der Clue noch mal?«, fragt Rancher.

Die Kellnerin hat ihn schon zweimal laut und deutlich vorgelesen. »Da«, sagt sie und reicht ihm den Zettel.

»Nicht alle sind so einfach«, sagt Exorzist. »Die meisten kosten wesentlich mehr Mühe. Aber dieser Fall war irgendwie richtig nett. Dankbar sind sie immer, aber diese Frau war besonders dankbar. Und ich meine nicht sexuell – das kommt vor, hat aber meist mit der Besessenheit zu tun.«

»Würdest du dich jetzt bitte konzentrieren?«, sagt die Kellnerin. »Weiß einer von euch, wie man solche Karten liest?«

»Die Biegung eines Flusses«, murmelt Rancher. »Also, blau ist Wasser, richtig? Und ein Fluss ist eine Linie, also wo biegt sich eine blaue Linie?« Er beugt sich über die Karte. Seinen Hut hat er in der Hand, und sein meliertes Haar fällt ihm von beiden Seiten übers Gesicht wie ein sich schließender Vorhang.

»Da sind jede Menge«, sagt die Kellnerin. »Und wie finden wir die höchste Erhebung?«

»Ich glaube, das da sind Höhenlinien«, sagt Rancher.

Exorzist schweigt. Er denkt noch immer an die dankbare Frau. Sie war eine der wenigen, vielleicht die Einzige, die es verstand. Beim Abschied hatte sie ganz fest seine Hand gedrückt und gesagt: »Ich weiß, dass es keine richtige Dämonenaustreibung war. Aber was immer Sie auch gemacht haben, es war ungemein real. Es hat mir geholfen. Danke.« Sie war nicht die Sorte Frau, die ein Wort wie »ungemein« benutzen würde, aber so hat er es in Erinnerung, obwohl er manchmal denkt, dass sie vielleicht bloß seine Hand gedrückt und gar nichts gesagt hat.

»Das da ist die höchste, oder?«, sagt die Kellnerin.

»Scheint so«, sagt Rancher. Die Kellnerin macht ihn verlegen, wie sie da so hockt, bauchfrei. Er findet, Frauen sollten etwas züchtiger sein. Dennoch fällt es ihm schwer, nicht ab und an einen heimlichen Blick zu riskieren. Er ist verheiratet, liebt seine Frau aber nicht mehr. Er war mal bis über beide Ohren verliebt, was er sich gar nicht mehr vorstellen kann. Seine Kinder liebt er dagegen sehr: zwei Jungs und ein Mädchen im Alter von fünfzehn, zwölf und elf.

»Also eine Flussbiegung in der Nähe dieser Erhebung«, sagt Rancher. Es ist nicht heiß, aber er schwitzt. Er spürt die Kameras auf sich.

»Auf beiden Seiten fließt ein Fluss«, sagt die Kellnerin. »Beide haben Biegungen. Wie sollen wir wissen, welche gemeint ist?«

»Vielleicht an dem Hinweis mit dem Schatten am Nachmittag?«, mutmaßt Rancher.

»Ja klar!« Die Kellnerin klatscht in die Hände und lächelt. »Norden … Osten … Süden … Westen!« Bei jedem Wort tippt sie mit dem Finger auf die vier Himmelsrichtungen der Karte. »Westen. Die Sonne geht im Westen unter, dann ist es die Biegung auf der linken Seite hier.« Ihr Selbstbewusstsein wächst sprunghaft. Sie ist mächtig stolz auf sich, weil sie ganz allein dahintergekommen ist. Rancher bemerkt ihren Fehler nicht. Den meisten Zuschauern wird es ebenso ergehen.

Nun kommen stundenlange Fußmärsche; wer hat die Geduld, sich so was anzuschauen? Es ist nicht sendbar. Fünf Teams, und jedes läuft mindestens vier Meilen. Manche machen unnötige Umwege, und eines steuert auf einen Punkt zu, der fast drei Meilen abseits vom eigentlichen Ziel liegt. Die Marschiererei, die ganze Mühsal wird komprimiert zu einem Untertitel: STUNDEN SPÄTER.

Stunden später gehen Tracker und Zoo an einer langen Wiese mit Wildblumen entlang und wenden sich dann nach Westen. Stunden später wanken Banker und Black Doctor über Steine, um einen kleinen Fluss zu überqueren. Stunden später biegt Schreiner-Girl einen Ast aus dem Weg, der hinter ihr zurückschnellt und Ingenieur gegen die Brust klatscht. Stunden später humpelt Air Force stur dahin; sein Knöchel bräuchte dringend eine Pause. Bio will sie ihm geben, aber Air Force will sie nicht haben. Stunden später hat Exorzist sich wieder gefangen und sagt: »Zeigt mal die Karte.«

Die Kellnerin gibt sie ihm.

»Wo wollen wir hin?«

Sie zeigt es ihm. Er liest den Clue auf dem Zettel, studiert die Karte. Runzelt nachdenklich die Stirn. Er wirft wieder einen Blick auf den Clue.

»Das stimmt nicht«, sagt er.

»Was soll das heißen: ›Das stimmt nicht‹?« Die Kellnerin nimmt eine offensive Haltung an, wie sie Fans von Reality-TV vertraut ist. Sie hat eine Hand auf eine angewinkelte Hüfte gestemmt, den Kopf nach hinten gezogen und das Kinn leicht gesenkt, fordert ihn provokant heraus, weiterzureden. Rancher späht Exorzist über die Schulter.

»Im Laufe des Nachmittags wirft die höchste Erhebung des Landes einen langen Schatten«, zitiert Exorzist. Er schnippt auf den Berg auf der Karte. »Wenn der am Nachmittag einen Schatten wirft, fällt der Schatten nach Osten.«

»Nein«, sagt die Kellnerin. »Die Sonne geht im Westen unter.« Sie verdreht die Augen. Gleich wird sie ihn der üblen Nachrede beschuldigen.

»Er hat recht«, sagt Rancher, und die Kellnerin dreht sich ruckartig zu ihm um. »Überleg doch mal. Wenn du links von einem Gegenstand Licht hast« – Rancher hebt den rechten Arm vors Gesicht, tippt dann mehrfach mit der linken Hand dagegen –, »fällt der Schatten auf die gegenüberliegende Seite.«

Jetzt ist ihr Fehler offensichtlich, für alle. Die Kellnerin wird rot. Sie vermisst ihr altes Team: die mageren Asiaten und die herrische Blondine.

Exorzist lacht. »Du hättest Lehrer werden sollen«, sagt er und schlägt Rancher auf die Schulter. Er wird schnell wieder ernst, als er erneut auf die Karte schaut. »Wir sind weit vom Kurs abgekommen«, sagt er. »Wir müssen nach Osten.«

Meilenweit weg sind Tracker und Zoo nicht vom Kurs abgekommen. Sie sind auf Kurs, dem bestmöglichen Kurs.

»Da ist er!«, ruft Zoo und zeigt auf einen etwa zwei Meter hohen Felsbrocken am Ufer eines kleinen Flusses. Die Flussbiegung ist auf der Karte deutlich, in natura dagegen leicht zu übersehen. Die Zuschauer werden eine Luftaufnahme geliefert bekommen, die bestätigt, dass die Stelle der Beschreibung im Clue entspricht.

Zoo trabt voraus, und Tracker hebt eine Augenbraue angesichts ihrer Begeisterung. Bis Sonnenuntergang sind es nur noch zwei Stunden, und das Gelände liegt größtenteils im Schatten. »Im dunkelsten Dunkel versteckt«, sagt Zoo, als sie an dem Felsen ankommt. »Im dunkelsten Dunkel.« Sie sucht unten am Felsen nach einem Loch. Nach acht Sekunden findet sie es. Es werden alle acht Sekunden gesendet werden, und die Zuschauer werden dabei das Gefühl haben, dass sie versagt, dass sie ewig braucht, weil sie solche Szenen nur gekürzt gewohnt sind. Aus Zoos und Trackers Perspektive betrachtet, findet sie das Metallkästchen im Handumdrehen.

Sie zieht das Kästchen aus seinem Versteck und entriegelt es. Tracker steht jetzt neben ihr. Als Zoo das Kästchen aufmacht, reckt er neugierig den Hals.

Fünf aufgerollte Zettel, wie Minischriftrollen.

»Wir sind die Ersten«, sagt Zoo.

Tracker ist nicht überrascht, dass sie Banker und Black Doctor geschlagen haben. Offenes Gelände spart Zeit, immer. »Was steht drauf?«, fragt er.

Zoo reicht ihm einen von den Zetteln, schließt das Kästchen wieder und steckt es zurück ins Loch.

Tracker entrollt den Clue und liest ihn vor: »Ein Beutetier. Verfolgt hinterlässt es eine Spur. Innerhalb von einer Meile überquert es das Wasser. Folgt der Spur.«

»Überquert das Wasser«, sagt Zoo und blickt auf den Fluss. Sie sieht keine Spur. Aber Tracker sieht eine. Er sieht außerdem Anzeichen dafür, dass ein Mensch die falsche Tierfährte gelegt hat – der Experte war nicht besonders vorsichtig; er will, dass die Fährte entdeckt wird.

»Da«, sagt er.

Zoo folgt seinem Blick flussaufwärts. »Wo?«, fragt sie.

»Da«, sagt Tracker wieder.

Sie schaut angestrengt in die Richtung, aber vergeblich. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagt sie. »Zeigst du es mir bitte?«

Tracker sieht sie an, mit einem vielsagenden Blick.

Sie stockt. Dann: »Ich verstehe. Klar, wir sind Konkurrenten. Aber im Moment sind wir ein Team. Ich bitte dich nicht um eine Unterrichtsstunde. Ich will einfach nur wissen, wo ich hingucken soll.« Außer dem letzten Satz wird alles rausgeschnitten werden, und die Zuschauer werden kein Stocken hören.

Wieder ist es für Tracker einfacher zu helfen, als sich zu weigern. Er spaziert ein kleines Stück am Fluss entlang, geht dann am Wasser in die Hocke. »Da.« Mit bemühter Geduld zeigt er Zoo, wo sie hinschauen muss, und obwohl sie nicht alles sehen kann, sieht sie genug. Sie sieht den geknickten Halm einer Blume, das kleine Haarbüschel am Dorn eines Himbeerstrauchs, den Hufabdruck im Schlamm.

»Es ist also hier über den Fluss?«, fragt sie. Doch ehe Tracker antworten kann, sagt sie: »Moment, nein. Es ist einfach flussaufwärts gezogen. Es hat ihn noch nicht überquert.«

Tracker nickt. Gemeinsam folgen sie der Fährte. Langsam; sie halten Ausschau nach weiteren Spuren.

Banker und Black Doctor nähern sich dem Felsen. Die Sonne steht tief; Tracker und Zoo sind schon außer Sicht.

»Jemand war schneller als wir«, sagt Banker verdutzt, als er das Metallkästchen öffnet.

»Cooper und die Blonde, wette ich«, sagt Black Doctor.

»Aber wie? Sind die den ganzen Weg gerannt?«

»Wahrscheinlich.« Black Doctor nimmt einen Clue heraus und liest ihn laut vor. Er ist enttäuscht; er hatte eine geistig anspruchsvollere Challenge erwartet, vielleicht ein Wortspiel oder ein Rätsel.

Banker reagiert eher verunsichert. »Wir sollen rausfinden, wo ein Tier den Fluss überquert hat?« Er schaut zur untergehenden Sonne, die sich hinter einer Wolke versteckt. »Wir haben nicht mehr viel Licht.«

»Dann sollten wir schnell machen«, sagt Black Doctor. »Du suchst flussaufwärts, ich flussabwärts?«

Sie trennen sich.

Etliche Meilen entfernt ist die gute Laune von Exorzist verpufft. An seinem linken Fuß hat sich eine Blase gebildet, die jeden Schritt zur Qual macht. »Ich hätte niemals einer Frau folgen sollen«, knurrt er.

Die hinteren Oberschenkelmuskeln der Kellnerin schmerzen höllisch, eine der Reaktionen ihres Körpers auf etliche Tage Koffein-Entzug. Sie hatte mit Kopfschmerzen gerechnet – die sie auch hat –, aber auf diese rasenden Muskelschmerzen war sie nicht gefasst. Sie denkt, dass die ungewohnte Lauferei einfach zu viel ist. Sie fühlt sich frustriert und unwohl, und sie springt auf die Bemerkung an. »Leck mich doch«, sagt sie zu Exorzist. »Du warst dabei, du hättest jederzeit was sagen können. Aber du hast ja die ganze Zeit nur was von irgendeiner dämlichen Kundin gelabert. Das war deine Entscheidung.«

Exorzist dreht sich jäh zu ihr um. Es ist visuell perfekt, wie die Kellnerin einen Schritt auf ihn zu macht und ihr Gesicht bis dicht an seines schiebt, das Profil ganz leicht nach oben geneigt. Unsere zwei Rothaarigen, Auge in Auge. Würde man das Bild einfrieren, könnte man denken, sie seien kurz davor, sich zu küssen, als würde die Wut in sexuelle Leidenschaft umschlagen. Aber nein, die Leidenschaft der beiden ist durch und durch feindselig.

Rancher legt Exorzist eine Hand auf die Schulter. »Streiten bringt doch nichts«, sagt er. »Lasst gut sein.«

»Bilde dir nicht ein«, sagt Exorzist langsam und beugt sich noch näher zur Kellnerin hin, »dass ich das vergesse.« Ein Windhauch weht eine Locke der Kellnerin gegen seine Brust. »Und ich werde es auch nicht vergeben. Ich bin ein gottesfürchtiger Mann, und mein Gott ist ein rachsüchtiger Gott.« Er spuckt auf die Erde, dicht neben den Sneaker der Kellnerin, dreht sich um und geht weg.

»Wie krank ist der denn«, flüstert die Kellnerin, aber sie ist sichtlich erschüttert.

Am Fluss ruft Banker: »Ich glaub, ich hab eine Spur gefunden.« Black Doctor läuft zu ihm. Es ist derselbe Abdruck eines Hufs, den Tracker Zoo gezeigt hat, und nur wenige Zentimeter daneben zeichnet sich Zoos Schuhabdruck leicht in der Erde ab.

Schreiner-Girl und Ingenieur erreichen als Nächste den zweiten Clue, aber Air Force und Bio sind nicht weit hinter ihnen – als sie den Felsen finden, steht das andere Team noch daneben. Ein schwieriger Moment: Die Kandidaten wissen nicht, ob sie aufeinander reagieren sollen oder nicht. Der Cutter greift diese Beklommenheit auf und macht daraus ein verächtliches Schweigen.

Air Force sieht den Hufabdruck und ist plötzlich unschlüssig. Er will dem anderen Team nicht die Richtung verraten, aber mit jeder Sekunde, die er darüber nachdenkt, wie er sich einen Vorteil gegenüber Schreiner-Girl und Ingenieur verschaffen kann, vergrößert sich der Abstand zu den beiden Teams vor ihnen. Er kommt zu dem Schluss, dass dieses Problem dringender ist, und ruft seine Partnerin. Schreiner-Girl dreht den Kopf ruckartig in seine Richtung wie ein Jagdhund.

Gleich darauf trotten alle vier Kandidaten nach Norden, Air Force und Bio etwa zehn Schritte vor den anderen.

»Das Tier ist hier über den Fluss«, sagt Tracker flussaufwärts.

Zoo will schon fragen, woher er das weiß, entscheidet sich dann aber, es selbst rauszufinden. Sie geht am grasbewachsenen Ufer in die Knie. Sie kann keine Spur des Beutetiers entdecken, das sie verfolgen, aber ihr fällt auf, dass der Fluss hier flacher ist, eine Art natürliche Furt bildet.

Dann sieht sie es: frische Spuren auf der gegenüberliegenden Seite, der dicke Schlamm dort wie umgepflügt. »Da, am anderen Ufer«, sagt sie.

Tracker empfindet etwas Unerwartetes: Stolz. Er ist stolz auf seine redselige und gutgelaunte Teampartnerin, weil sie nicht um Hilfe bittet, weil sie die Spur – jedenfalls die deutlichste Spur – gefunden hat, ganz allein. »Und der Stein da«, sagt er mit einem Fingerzeig auf einen kleinen runden Stein, der offensichtlich aus dem Flussbett stammt, jetzt aber auf einem aus dem Wasser ragenden Felsbrocken liegt.

»Oh, ja«, sagt Zoo. »Sieht fast aus wie ein Steinmännchen.«

Und genau das soll der kleine Stein auf dem größeren sein, ein winziges, unauffälliges Steinmännchen. Der Experte hat den Stein als Markierung dorthin gelegt.

Zoo und Tracker überqueren den Fluss. Zoo hinterlässt mit ihren dreckigen Schuhen etliche Abdrücke auf den Felsen und Steinen. Sie bemerkt das zwar, aber Tracker ist schon am anderen Ufer, und sie folgt ihm. Ab hier ist die Fährte gut zu erkennen, zertretenes Gras und geknickte Zweige. Sie folgen ihr zu einer Gruppe Birken. An dem vordersten Baum hängt eine Holzkiste.

Tracker macht sie auf. Innen auf dem Deckel steht »HUNGRIG?«.

»Ja«, ruft Zoo. »Und wie.« Sie und Tracker schauen hinein.

In der Kiste hängen fünf kreisrunde Holzscheiben an Haken. In jede Scheibe ist eine andere Tierzeichnung eingeritzt: ein Hirsch, ein Kaninchen, ein Eichhörnchen, eine Ente und ein Truthahn.

»Was meinst du?«, sagt Zoo. »Hirsch?«

»Die Spur, der wir gefolgt sind, soll eine Hirschspur sein«, sagt Tracker, was Zoo als Zustimmung auffasst. Zoo zieht die Scheibe mit dem Hirsch vom Haken. Sie ist so groß wie ihre Handfläche und aus Birkenholz. Auf der Rückseite steht eine Peilungsangabe: neunzehn Grad. Sie stellt ihren Kompass entsprechend ein.

Banker und Black Doctor haben den Fluss beinahe überquert, als Black Doctor sagt: »He, sind das da Fußspuren?« Banker rutscht aus und reißt eine Bresche in das andere Ufer. Mit jeder weiteren Überquerung wird der Weg deutlicher.

Die Bäume um Zoo und Tracker werden erst dichter, dann lichter, und dann sehen sie es: Eine Weißwedelhirschkuh ist mit den Hinterläufen an einem Baum aufgehängt worden. Die Zunge hängt aus dem Maul und baumelt einen halben Meter über der Erde. Neben der toten Hirschkuh ist eine Plane ausgebreitet, auf der ein Eimer, eine gusseiserne Pfanne und ein kleiner Kasten stehen. Auf dem Kasten ist ein Hirsch aufgemalt, und er hat einen Schlitz, durch den die Holzscheibe passt.

Zoo hat zwar schon viele tote Tiere gesehen, aber noch nie einen so aufgehängten Hirsch. »Die Augen sehen aus wie Murmeln«, sagt sie, als sie die Holzscheibe in den Schlitz steckt.

»Für mich sieht das nach Abendessen aus«, sagt Tracker.

»Weißt du, wie man es ausnimmt?«

Tracker nickt. Rein interessehalber möchte Zoo lernen, wie man ein Tier häutet und ausweidet, aber bei der Vorstellung von so viel Blut an den Händen dreht sich ihr der Magen um. Sie will die Hirschkuh essen, aber sie will nicht diejenige sein, die sie zerlegt. Und trotz ihrer guten Laune ist sie erschöpft. Am liebsten würde sie sich jetzt einfach hinsetzen, den Rücken an einen hübschen, geraden Baum lehnen und die Augen schließen. »Ich geh Holz sammeln und mach Feuer«, sagt sie und klopft auf den Anzünder, der an ihrer Hüfte hängt.

»Nicht hier«, sagt Tracker. Er hat sein Messer bereits gezückt.

»Wieso nicht?«

»Das Blut und die Abfälle könnten Raubtiere anlocken. Geh zurück Richtung Fluss und such ein Plätzchen mit leichtem Zugang zum Wasser.«

Zoo hat die Solo-Challenge gewonnen, und sie hat ihn ausgewählt; sollte sie da nicht die Anweisungen geben? Dennoch dreht sie sich um und tut genau, was er gesagt hat. Ehe die Zuschauer sie losgehen sehen, bekommen sie einen Ausschnitt aus der Videobeichte desselben Abends gezeigt. »Cooper ist offensichtlich sehr erfahren«, sagt sie und rückt ihre Brille zurecht. Eine Haarsträhne klebt an ihrer schweißnassen Stirn, und unzählige fliegende Härchen umrahmen ihr Gesicht. »Ohne ihn wäre ich jetzt garantiert nicht in Führung. Außerdem hat er so was Stoisches an sich. Ich meine, keine Bewegung, kein Wort zu viel. Das bewundere ich. Davon hätte ich auch gern mehr. Ich habe schon eine Menge von ihm gelernt. Wenn ich die Wahl habe zwischen Mund halten, tun, was er sagt, und etwas dazulernen oder«, sie malt rasch Gänsefüßchen in die Luft, »›mich durchsetzen‹, dann könnt ihr euch drauf verlassen, dass ich lieber den Mund halte.« Sie lacht. »Was mir nicht leichtfällt.«

Tracker macht den ersten Schnitt etwa zwei Zentimeter vom Anus des Tiers entfernt. Er sägt einen Kreis, zieht dann mit der freien Hand den Enddarm heraus, den er mit einem Stück Kordel aus dem Eimer zubindet. Ungesehen von der Kamera ist der Experte aufgetaucht. Sein Angebot, hilfreiche Tipps zu geben, wurde dankend abgelehnt, und jetzt sieht er, dass Tracker tatsächlich keine Hilfe braucht. Er bleibt trotzdem dabei und schaut zu, weil er dafür bezahlt wird und das nächste Team noch auf sich warten lässt.

Tracker bindet die Harnröhre der Hirschkuh ab, macht dann über die gesamte Länge einen Schnitt durchs Fell. Ehe er das erste Organ herausholt, sagt der Kameramann zu ihm: »Wär nicht schlecht, wenn du ein bisschen was dazu erzählst, Kumpel.«

Tracker verharrt, das Messer gerade von innen gegen die Haut der Hirschkuh gepresst. »Das Fleisch darf nicht kontaminiert werden«, sagt er und arbeitet weiter. »Deshalb habe ich Anus und Harnröhre abgebunden und auch höllisch aufgepasst, dass ich den Magen nicht verletze. Jetzt werde ich die Luftröhre durchtrennen.« Tracker geht am Kopf des Tiers in die Knie und greift tief in den Kadaver hinein. Als er die Hände wieder herauszieht, sind sie rot verschmiert, und er hält nicht nur die Luftröhre in den Fingern, sondern auch Herz und Lunge des Tiers. Er wirft die Organe in den Eimer und wendet sich dann der Kamera zu. »Ich zeig euch mal was«, sagt er. Wieder greift er in den Eimer und holt die rosa Lunge heraus, die ihm schlaff von den Händen hängt. Dann hebt er die durchtrennte Luftröhre an die Lippen und bläst hinein. Fast jeder der zigmillionen Zuschauer, die diesen Moment erleben, wird zusammenzucken, wenn die Lunge sich rasch kolossal aufbläht, wie zwei Luftballons. Luftballons mit gerundeten Kanten und überzogen mit einem Netz aus winzigen Blutgefäßen. Tracker kneift die Luftröhre zu und hält die aufgeblasene Lunge von seinem Körper weg. Er hat Blut am Mund, und sein Torso wird von den zwei rosa Lappen verdeckt, die eben noch so klein aussahen. Es ist offensichtlich, dass die Lunge der Hirschkuh niemals in einen menschlichen Brustkasten passen würde.

Tracker lässt die Luft aus der Lunge entweichen und bleibt einen Moment still stehen, denkt daran, wie er zum ersten Mal jemanden das machen sah, was er gerade gemacht hat. Er war achtzehn, hatte gerade die Highschool abgeschlossen und nahm an einem dreiwöchigen Survival-Kurs teil. Seine achtköpfige Gruppe hatte unter Anleitung der zierlichen Ausbilderin einen Schafsbock geschlachtet und abgezogen. Dann zeigte die durchtrainierte, schwarzhaarige Frau ihnen, wie man so ein Tier ausweidet, erläuterte dabei jeden einzelnen Schritt. Irgendwann hob sie mit erstaunlicher Nonchalance die Lunge an den Mund und blies hinein. Das war der Augenblick, in dem sich für Tracker alles veränderte, in dem ihm klar wurde: Wir sind alle Fleisch. Vor dem Kurs hatte er Pläne für ein ganz anderes Leben gehabt, mit dem Gedanken gespielt, Steuerberater zu werden oder vielleicht in die IT-Branche zu gehen. Doch eine Kombination aus weniger als tausend Kalorien im Laufe der vier Tage zuvor, körperlicher Erschöpfung und dem Erkennen der eigenen Sterblichkeit löste ein Umdenken bei ihm aus. Und obwohl er Jahre brauchte, um alle Fertigkeiten zu erlangen, erfüllte sich der größte Traum, den ein Mensch haben kann: nämlich genau zu wissen, welches Leben für ihn das richtige ist. Leider hat Tracker das Pech, dass sein Traumjob nicht gut bezahlt wird und er für seine krebskranke Mutter sorgen muss. Horrende Krankenhausrechnungen haben ihn hierhergebracht, aber das wird er niemandem verraten. Er wendet sich wieder dem baumelnden Tierkadaver zu und zieht den prallen Magen heraus.

Banker und Black Doctor erreichen die Holzkiste. Sie entscheiden sich für die Ente. »Schmeckt wie Hähnchen, ist bloß fetter«, sagt Banker.

»Ich weiß, wie Ente schmeckt«, erwidert Black Doctor.

Sie folgen der Richtung, die auf der Rückseite ihrer Holzscheibe angegeben ist, und kommen zu einem Baum, an dem eine Wildente hängt. Black Doctor übernimmt das Rupfen und Ausnehmen des Tiers. Er hat zwar keine Chirurgenhände, aber er hat im Medizinstudium eine Leiche seziert. Dank dieser lange zurückliegenden Erfahrung und der Hilfestellung seitens des Experten aus dem Off macht er seine Sache gut.

Tracker kommt zu dem kleinen Lager, das Zoo aufgeschlagen hat, in einer Hand den Eimer, in der anderen die gusseiserne Pfanne. Seine Hände und Handgelenke sind voll mit angetrocknetem Blut, das seine dunkle Haut matt überzieht, aber eigentlich schwer zu erkennen ist, bis seine Handflächen gezeigt werden. Normalerweise sanft pfirsichfarben, sind die Handteller jetzt rotbraun wie nach einem Blutbad. Zoo, die sich ums Feuer kümmert, lässt das kalt. Aber ihr kommt ein Gedanke: Wäre Tracker ein Weißer, würde der krassere Farbkontrast von Blut auf Haut sie dann vielleicht stärker schocken? Sie hält das für möglich.

»Wie ist es gelaufen?«, fragt sie.

»Es gibt Filet zum Abendessen«, antwortet Tracker.

»Super.« Zoo nimmt die schwere Pfanne und wendet sich wieder dem Feuer zu. »Ich fang schon mal an zu kochen, falls du dich waschen willst. Ich –«

»Danke«, sagt Tracker.

Zoo stutzt, Pfanne in der Hand, und lauscht Trackers sich entfernenden Schritten.

Als er vom Fluss zurückkommt, sind Trackers Hände sauber, und er ist in Plauderlaune. »Es gibt da ein paar Dinge, die du übers Spurenlesen wissen solltest«, sagt er. Das Fleisch ist in der Pfanne, brutzelt in einer dicken Lage Fett, die Zoo wie Butter zerlassen hat. »Erstens, du musst dich auf das Ganze konzentrieren. Such nicht nach einem einzelnen Abdruck, such nach einer Fährte. Auf der Mikroebene verzettelt man sich leicht, dabei müsste man bloß einen Schritt zurücktreten. Ein Tier oder ein Mensch hinterlässt im Wald nicht immer einen Abdruck, aber immer eine Fährte. Umgedrehte Blätter, geknickte Zweige – so was eben. Etwas, das frisch verändert wurde, hebt sich durch eine andere Farbe oder Textur von seiner Umgebung ab. Du musst dein Auge darauf trainieren, ganz generell nach solchen Unterschieden zu schauen. Probier’s mal, schau in die Richtung, aus der ich gekommen bin, und lass den Blick schweifen. Kannst du sehen, wo ich langgegangen bin?«

Zoo dreht sich um. Sie kneift die Augen zusammen.

Tracker gesteht via Videobeichte: »Ich hatte in meinem Leben viele großartige Lehrer. Und die würde es freuen, dass ich ihr helfe. Außerdem, selbst wenn sie besser wird, kommt sie nicht an mich ran. Jedenfalls nicht rechtzeitig, um mich zu schlagen.« Zoos Mann wird diese Szene im Fernsehen sehen und denken: Sie hat es mal wieder geschafft, hat irgendeinen verschrobenen Blödmann aus der Reserve gelockt. Zoos Mann wird wieder einmal darüber staunen, wie mühelos sie Menschen für sich einnehmen kann.

Tracker sagt zu Zoo: »Such nicht, lass den Blick schweifen. Und wenn dir nichts auffällt, wechsle die Perspektive – schau hoch und tief. Achte auf Lichtveränderungen.«

Zoo öffnet die Augen etwas weiter und lässt den Blick am Wald entlangwandern. Sie steht auf. Sie weiß noch ungefähr, welchen Weg er gekommen ist, will sich aber nicht auf ihr Gedächtnis verlassen. »Da?«, sagt sie und zeigt. »Da sieht das Laub auf der Erde ein bisschen anders aus.«

»Genau«, sagt Tracker. »Ich bin extra gestapft, damit es deutlich wird. Und ich bin deiner Fährte gefolgt. Die meisten Tierfährten sind nicht so ausgeprägt, aber das hier ist ein guter Anfangspunkt.«

»Das nennst du stapfen?«, fragt Zoo.

Tracker lacht zu ihrer beider Überraschung. »Die Schuhe tun gute Dienste«, sagt er, hebt einen Fuß und wackelt mit den Zehen. Und dann – für so was hat er eigentlich keine Zeit – wird sein Gesicht ausdruckslos. »Es ist schon fast dunkel. Ich stell das hier ins Wasser, damit es nicht verdirbt.« Er nimmt den Eimer, in dem sich noch etliche Pfund Muskelfleisch und Fett befinden, und wendet sich ab.

»Wie willst du verhindern, dass sich irgendein Tier daran bedient?«, fragt Zoo.

Tracker hält inne. »Ich decke den Eimer mit einem flachen Stein ab. Das müsste genügen, um die meisten Tiere abzuhalten.«

Er entfernt sich, und Zoo sagt in die Kamera: »Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist, aber es gefällt mir.«

Die nächsten beiden Teams erreichen kurz hintereinander die Holzkiste. Air Force sieht sie als Erster und treibt Bio an, schon mal hinzulaufen, ehe Ingenieur und Schreiner-Girl die Kiste bemerken. Sie wählt das Kaninchen aus, trabt dann zu ihrem Partner zurück.

»Truthahn?«, fragt Schreiner-Girl Sekunden später.

»Ja, da ist wesentlich mehr dran als an einem Eichhörnchen«, sagt Ingenieur. Die Teams trennen sich und finden ihre Beute. Unter Anleitung bereiten sie ihre Mahlzeiten zu und bauen ihre Unterschlüpfe. Die Sonne ist fast untergegangen.

Das Trio ist noch immer eine Meile von dem Felsen entfernt. Exorzist ist wütend. Er fühlt sich verkannt und beleidigt. Die Kellnerin starrt voller Abscheu auf seinen Hinterkopf, und Rancher behält beide im Auge, während er vor sich hin trottet. Die Wut macht Exorzist unvorsichtig. Er stolpert über einen Stein und stürzt.

»Verfickte Scheiße!«, brüllt er. Der Fluch lässt sich leicht rausschneiden, aber seine Wut nicht. Die Kellnerin und Rancher zucken zusammen, und viele Leuten vor den Fernsehbildschirmen werden ebenso reagieren.

Exorzist rappelt sich hoch auf ein Knie und wartet, mit hängendem Kopf. Seine Schultern pochen. Er spürt, wie sein monströses Ego ausbrechen will. Er weiß, das darf er nicht zulassen. Sonst verliert er die Beherrschung, und er hat schon schreckliche Dinge getan, wenn er unbeherrscht war.

Er hatte mal eine Frau. Junge Liebe: Sie heirateten mit neunzehn. Das Leben verlief nicht wie geplant, und Enttäuschungen nährten das innere Monster von Exorzist, bis es dick und fett war. Eines Abends jammerte seine Frau wegen Geld, und Exorzist verlor die Beherrschung. Er schlug sie brutal mit der Faust, so fest, dass er sich den Mittelhandknochen brach und seine Frau die Besinnung verlor. Er erinnert sich daran, wie ihr Kopf nach hinten schnellte und ihr blondes Haar sich ausbreitete wie ein Fächer, wie sie dann auf dem Teppich landete, wo sie reglos liegen blieb, inmitten von seit einem Monat angesammelten Krümeln und Katzenhaaren. So reglos, dass er glaubte, sie wäre tot. Sie kam wieder zu sich und verließ ihn noch am selben Abend. Die Blutgefäße in ihrem linken Auge waren geplatzt. Noch immer verfolgt ihn der letzte Blick, mit dem sie ihn ansah; es war, als ob Satan persönlich sich in dem blutigen Auge spiegelte.

Die Produzenten wissen nichts von dem Vorfall. Seine Exfrau zeigte ihn nicht an, sein Führungszeugnis ist makellos. Aber eine Person, die diesen Moment im Fernsehen verfolgt, wird von der Sache wissen; sie hat sie erlebt. Die Exfrau wird beobachten, wie Exorzist wutgeladen auf der Erde kniet, und denken: O nein. Und als Exorzist aufspringt, sich abrupt zur Kellnerin umdreht und sie als »Du dämliches Miststück« beschimpft, wird sie die Angst der Kellnerin empfinden wie ihre eigene. ›Lauf, Mädchen‹, wird sie innerlich flehen, doch anders als sie, die instinktiv zur Flucht neigt, ist die Kellnerin eine Kämpfernatur. Sie holt aus, um Exorzist eine reinzuhauen, doch Rancher umschlingt sie von hinten mit beiden Armen und zieht sie zurück.

»Lass mich los!«, schreit die Kellnerin und tritt um sich. Sie ist größer als Rancher; er kann sie kaum halten.

»Du wirst disqualifiziert«, sagt Rancher.

»Ist mir egal.« Das Gesicht der Kellnerin ist eine Maske des Zorns.

Aber Exorzist ist zurückgewichen. Es ist irgendetwas passiert, was er nicht in Worte fassen kann. Er will seine Wut nicht widergespiegelt sehen, will nicht die Ursache für den Zorn dieser praktisch fremden Frau sein. Und dann ist da noch Rancher, der versucht, sie im Zaum zu halten, dieser großmütige, einfache Mann. Exorzist beruhigt sich. Er bedauert seinen Ausbruch, und obwohl seine Augen praktisch um Verzeihung bitten, ist er zu feige, das auszusprechen.

Stattdessen sagt er: »Die reinste Furie«, und geht weg.

Seine jähe Veränderung verwirrt die Kellnerin, die nicht gesehen hat, dass es ihm leidtut. Sie hört auf, sich zu wehren, und Rancher lässt sie los. Er wird rot, als ihm klar wird, wie fest er die Arme um sie geschlungen hat. Er ist ziemlich sicher, dass er ihr an die Brust gefasst hat.

Die Sonne geht unter, und sie erreichen den Felsen. Der Mond ist hell; das Trio findet den nächsten Clue auf Anhieb.

»Im Dunkeln können wir keine Spuren erkennen«, sagt Rancher.

»Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?«, fragt die Kellnerin.

»Hier kampieren und morgen weitermachen, sobald es hell wird.«

»Aber alle sind vor uns.«

Exorzist setzt sich hin und lehnt den Rücken gegen den Felsen. Er zieht seinen Schuh aus und betastet die Blase am großen Zeh. »Die sind auch dann noch vor uns, wenn wir die ganze Nacht in der Dunkelheit rumstolpern«, sagt er. »Aber dann sind wir erschöpft und haben vermutlich auch noch die Spuren zerstört, denen wir folgen sollen.«

»Na gut«, sagt die Kellnerin. Sie kann ihn nicht anschauen, mit der bleichen Blase, die sich da auf seinem haarigen Zeh wölbt. »Also, was machen wir? Einen Unterschlupf bauen?«

Exorzist schlägt klatschend gegen den Felsen hinter ihm. »Gegen den Brocken hier haben wir in null Komma nichts einen Windschutz gebaut.« Er stemmt sich stöhnend auf die Beine und beginnt, lange Äste aufzusammeln, barfuß.

Rancher und die Kellnerin tauschen einen Blick. »Was ist denn mit dem los?«, fragt die Kellnerin.

»Ich glaube, er ist einfach verrückt.«

»Na toll«, sagt die Kellnerin. »Das wird lustig.«

Die anderen Teams haben alle gegessen, und die meisten Kandidaten schlafen oder dösen. Banker hält die Arme unter seiner Jacke an die Brust gedrückt. Ingenieur trägt noch immer seine Brille und schaut mit schweren Lidern zu, wie Mondlicht auf dem tiefschwarzen Panzer eines vorbeihuschenden Käfers glänzt. Tracker schnarcht, ist am lautesten, wenn er schläft. Neben ihm liegt Zoo zusammengerollt unter seiner Thermodecke, zählt Schäfchen und befühlt die Stelle am Finger, wo ihr Ehering sein sollte. Sie lässt ihre imaginären Schäfchen im Rhythmus von Trackers rasselnder Atmung springen, so dass sein Schnarchen allmählich zum Wind wird, der durch Wolle streicht.

Nur Bio ist draußen. Sie sitzt an einem kleinen Feuer, die Arme um die Beine geschlungen. Sie vermisst ihre Partnerin und fühlt sich sehr allein. Sie stellt sich vor, den Sicherheitsspruch zu sagen, aber es ist nur ein Gedankenspiel, nichts Ernstes. Sie fragt sich, wie sie aus der Show aussteigen würde, und wenn sie es täte, wie lange es dauern würde, bis sie einen Mango-Smoothie haben könnte.

»Ich würde alles Kaninchenfleisch der Welt für einen Mango-Smoothie hergeben«, sagt sie. »Oder für einen Schokoeisbecher.« Ihr Körper giert so heftig nach Zucker, dass sie Kopfschmerzen hat. Sie trinkt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und wünscht, das Wasser hätte Geschmack, vielleicht ein bisschen Kohlensäure.

Exorzist, Rancher und die Kellnerin bauen ihren notdürftigen Unterschlupf und drücken sich darin aneinander.