8.
Rancher stupst Tracker mit dem Ellbogen an und deutet mit dem Kopf auf den Picknicktisch neben ihrer Feuerstelle. »Der reinste Festschmaus«, sagt er. Tracker macht einen Schritt von Ranchers Arm weg. Banker und Bio grinsen. Das Stückchen Minzblatt, das Bio zwischen den Zähnen steckt, wird bei der Nachbearbeitung entfernt werden. Auf dem Tisch ist mehr Essen ausgebreitet, als die vier in einem Rutsch verspeisen können. Gegrillte Hähnchenbrust, Burger, Brötchen, Caesarsalat, Spargel, Maiskolben, Kartoffelsalat, ein Berg Süßkartoffelfritten in einem Weidenkorb, Krüge mit gefiltertem Wasser und Limonade. Von dem Gelage könnten locker alle zwölf Kandidaten satt werden. Banker schaut über die Wiese zu den anderen Teams hinüber, die zu ihren jeweiligen Lagern gehen.
»Wir könnten sie einladen«, sagt er.
Rancher schüttelt den Kopf. »Nee, wir haben gewonnen, ganz klar.«
»Und außerdem verhungern sie ja nicht«, sagt Bio. »Es ist bloß ein Spiel.«
Ihre letzte Bemerkung wird rausgeschnitten werden. Der Produzent am Set wird sie später ansprechen, sie ermahnen, ihre Situation nicht als Spiel zu bezeichnen. »Wir versuchen, eine besondere Stimmung aufzubauen«, wird er sagen, und seine Augen werden zu ihrer Brust gleiten.
»Klar, sorry«, wird sie erwidern, zu müde, um ihn wegen seines aufdringlichen Blicks zurechtzuweisen.
Während Trackers Team kräftig zugreift, sind Zoo und Ingenieur auf dem Weg zum Fluss, bewaffnet mit Angelzeug. Schreiner-Girl und die Kellnerin sitzen an den Ascheresten ihres Lagerfeuers und stochern mit Stöcken in der noch heißen Glut herum.
»Na, bist du gut drauf?«, fragt Schreiner-Girl.
Es ist ein warmer Tag, aber die Kellnerin spürt die Kälte der letzten Nacht noch in den Knochen. Verschmierte Wimperntusche unterstreicht die Erschöpfung in ihren Augen. »War noch nie besser drauf«, antwortet sie trocken.
Der Lippenstift von Schreiner-Girl ist verblasst, doch ihr Eyeliner ist noch einigermaßen vorhanden und verleiht ihren Lidern einen rauchigen Glanz. Ihr erster Eindruck von der Kellnerin war ziemlich negativ, aber inzwischen tut ihr das traurige, schöne Mädchen leid. Denn das ist sie jetzt für sie – ein Mädchen, obwohl sie beide nur zwei Jahre auseinander sind und die Kellnerin gut einen Kopf größer ist als sie. »Was glaubst du, was die nächste Challenge sein wird?«, fragt sie.
»Keine Ahnung, aber ich hoffe, irgendwas mit Koffein.« Die Kellnerin stößt ihren Stock in die rote Glut. »Ich würde alles für einen schaumigen Cappuccino geben.«
Schreiner-Girl verzichtet seit einem Monat auf Koffein. Es wundert sie, dass nicht alle Kandidaten auf den Gedanken gekommen sind. Sie fragt sich, ob die Kellnerin sich überhaupt irgendwie vorbereitet hat.
Zoo sitzt auf einem Felsbrocken am Fluss, über einem Tümpel, gut zwanzig Schritte entfernt von der Stelle, wo Tracker gestern über die Steine gesprungen ist. Ingenieur hockt neben ihr. Seine Augen leuchten hinter der Brille – er verwechselt Respekt mit Anziehung. Zoo nimmt den Blick gar nicht wahr, aber der Cutter betont ihn, und anschwellende Musik unterstreicht ihn: Da ist jemand verknallt. Den Fernsehzuschauern wird das nicht entgehen, und auch Zoos Mann nicht, als er die Szene sieht. Er wird es dem nerdigen jungen Mann nicht verübeln – er weiß, dass seine Frau attraktiv ist –, aber er wird eifersüchtig auf ihn sein. Die schlichte Eifersucht eines Mannes, der seine Frau vermisst. Klar, wenn die erste Episode auf Sendung geht, wird fast eine Woche vergangen sein, seit seine Frau eine Grille mit einem Angelhaken aufgespießt und in den Fluss geworfen hat. Wenn Zoos Mann das sieht, wird die Welt gerade mitten in einer gewaltigen Veränderung stecken.
Aber einstweilen – fängt Zoo einen Fisch! Sie zieht ihn aus dem Wasser und wickelt dabei die Leine um den Griff. Die gut zwanzig Zentimeter große Forelle landet am Ufer und schnappt nach Luft, während Zoo und Ingenieur jubeln. Ingenieur versucht, sie zu umarmen. Sie klatscht stattdessen mit ihm ab, schlägt dann den Kopf der Forelle auf einen Stein. Sie braucht drei Schläge, bis der Fisch tot ist. Trotz ihrer Tierliebe, trotz ihrer Arbeit mit Tieren empfindet sie wenig Reue. Sie hat kein Problem damit, weil sie weiß, dass Menschen Allesfresser sind und dass die Spezies ihre derzeitige Intelligenz nur entwickeln konnte, weil es ihr gelungen ist, eine regelmäßige Versorgung mit Proteinen sicherzustellen. Sie tötet nicht, um zu töten, aber sie tötet, um zu essen, und sie sieht kaum einen Unterschied zwischen den Augen eines toten Fisches und denen eines lebendigen.
»Eine Grille«, sagt sie zu Ingenieur. »Gute Idee.«
Exorzist und Black Doctor sind unterwegs, um die von Air Force aufgestellten Fallen zu überprüfen. Falls irgendwelche Tiere in der Nähe sind, verscheucht Exorzist sie mit seinem Geplapper.
»Den letzten echten Dämon hab ich vor einem Jahr gesehen«, sagt er. »Er hat so ein süßes kleines Mädchen von acht, neun Jahren bewohnt. An dem Tag, als ich ankam, hab ich vor der Tür ihres Hauses auf die Kleine gewartet. Sie war in der Schule, wo der Dämon sie meistens in Ruhe ließ. Jedenfalls, ich hab also vor ihrem Haus gewartet, zusammen mit ihrer Mom, als die Kleine aus dem Schulbus stieg. Sie hat ein paar Schritte auf uns zu gemacht und dann – RUMS!« Er schlägt mit der Hand gegen einen Baumstamm. Black Doctor schreckt zusammen. »Ich hab gesehen, wie er in sie gefahren ist«, sagt Exorzist, »direkt vor meinen Augen. Ihr ganzer Körper hat gebebt, und dann ist sie – dann ist sie gewachsen. Um das zu bemerken, musste man schon genau hinsehen, und ich hab genau hingesehen. Ich bin einen Schritt auf sie zu« – er duckt sich ein wenig und schleicht weiter, während er spricht –, »und der Dämon fängt an zu brüllen. Er nimmt den Körper der Kleinen und befiehlt ihr, seine Wut zu demonstrieren. Sie geht mit stampfenden Schritten« – er stampft mit den Füßen auf – »zum Auto ihrer Mom, einem bulligen SUV, ein Escape, glaube ich, irgendwas in der Art, jedenfalls ein großes Auto, und greift mit ihren kleinen Händchen unter den Wagen, direkt unter der Fahrertür, und, zack, schleudert ihn hoch.« Er reißt die Hände in die Luft. »Der SUV überschlägt sich und landet mit einem lauten Knirschen auf dem Dach, genau da, wo er geparkt war.« Er hält Zeigefinger und Daumen etwa zwei Zentimeter auseinander. »So knapp neben der Kleinen. Und sie hat sich kein bisschen gerührt. Der Dämon hat nicht zugelassen, dass sie sich bewegt. Ich sage dir, das war eine Mordsarbeit für mich. Ich hab vier Tage gebraucht, um den Dämon auszutreiben, und an die Kotzerei möchte ich am liebsten gar nicht mehr denken.« Exorzist stockt. »Ein Skorpion ist ihr aus dem Hals gekrochen, ohne Scheiß. Das war der Dämon, der abgehauen ist.« Er tritt mit voller Wucht auf die Erde, zerquetscht ein Blatt unter dem Schuhabsatz. »Ich hab ihn totgetreten.«
»Du hast einen Dämon getötet«, sagt Black Doctor tonlos. Ihm ist nicht klar, wie viel Exorzist von seiner eigenen Geschichte glaubt. Bei dem Gedanken, dass er überhaupt irgendetwas davon glauben könnte, wird Black Doctor mulmig zumute.
»Nicht doch, nein.« Exorzist lacht. »So viel Macht hab ich nicht mal ansatzweise. Ich habe bloß seine Manifestation beendet. Der Dämon ist zurück in der Hölle, plant wahrscheinlich schon seinen nächsten Ausflug auf die Erde.«
Black Doctor weiß nicht, was er sagen soll. Exorzist ist diese Reaktion gewohnt und nimmt das Schweigen gelassen hin.
Sie kommen zur ersten Schlagfalle von Air Force. Sie ist zugeschnappt, aber leer.
»Vielleicht hat der Wind sie ausgelöst«, sagt Exorzist.
Black Doctor wirft ihm einen Blick zu und erwidert: »Oder ein Dämon.«
Während Trackers Team noch beim Essen ist, kommt der Moderator und stellt sich ans Kopfende des Picknicktisches. »Zusätzlich zu diesem Festmahl«, sagt er zu den vieren, »bekommt ihr einen Vorteil bei der nächsten Challenge.« Er nimmt vier Landkarten von einem Stapel. Kaum hat Tracker die Karten gesehen, füllt er seine Trinkflasche aus einem Wasserkrug. Der Moderator fährt fort: »Ich habe gesagt, sie findet morgen statt, und im Prinzip stimmt das auch. Startzeit ist null Uhr eins. Euer Vorteil ist ein zeitlicher Vorsprung, denn ihr dürft schon jetzt starten, wo es noch hell ist, und ihr bekommt die hier – nur für alle Fälle.« Er reicht jedem von ihnen eine Taschenlampe. Tracker mustert seine. Sie ist unhandlicher als die Taschenlampe, die er bei der ersten Challenge gewonnen hat, und er wird keine von beiden benutzen – seiner Erfahrung nach, mit seinen Kenntnissen, beeinträchtigt künstliches Licht bloß die Nachtsicht. Er gibt sie zurück. Der Moderator starrt kurz auf die Taschenlampe und scherzt dann: »Donnerwetter, da ist aber einer von sich überzeugt«, ehe er sich wieder seinem Drehbuch zuwendet. »Nicht vergessen, das ist eine Solo-Challenge. Ihr dürft zusammenarbeiten, aber die Belohnungen werden entsprechend der Reihenfolge verteilt, in der ihr fertig werdet.« Und schon verteilt er die Landkarten und sagt: »Viel Glück.«
Rancher faltet seine Karte auseinander und sagt zu Tracker: »Was meinst du –«
Doch Tracker ist schon dabei, die drei übrig gebliebenen Hähnchenbrüste in Papierservietten einzupacken.
»Wir sollten zusammenbleiben, zumindest am Anfang«, sagt Banker.
Tracker stopft das Hähnchenfleisch und die Trinkflasche in seinen Rucksack, schnallt ihn um und wickelt sich das Umhängeband seines Kompasses ums linke Handgelenk. Er öffnet seine Landkarte und schaut kurz darauf. Er blickt sein Team an und geht ohne ein Wort los.
»Warte!«, ruft Banker. Doch Tracker ist schon weg. Der fitteste Kameramann folgt ihm hastig.
Was werden die restlichen Teammitglieder machen? Sie sind bis jetzt gut miteinander ausgekommen. Banker will, dass sie zusammenhalten. Rancher ist hin und her gerissen; er war davon ausgegangen, dass sie zusammenbleiben würden, aber jetzt, da ihr Anführer weg ist, muss er umdenken. Bio füllt ihre Wasserflasche auf und erklärt dann ihre Unabhängigkeit: »Viel Glück, Jungs.« Noch ehe sie zwischen den Bäumen verschwunden ist, sind Rancher und Banker dabei, die Essensreste untereinander aufzuteilen und ihre Rucksäcke zu packen. Sie stecken sogar Plastikbesteck und Pappteller ein. Schon bald steht auf dem Tisch praktisch nur noch der Kartoffelsalat, dessen Mayonnaise-Dressing bereits leicht verdorben aussieht.
Als vorläufige Partner folgen Rancher und Banker ihren Karten und ihren früheren Teammitgliedern in Richtung des Wegpunktes. Sie gehen in östlicher Richtung. Die anderen Teams bekommen gar nicht mit, dass die vier schon unterwegs sind. Sie sind damit beschäftigt, den Fisch und Wilde-Möhre-Wurzeln zu braten, Jodtabletten in mit Flusswasser gefüllte Flaschen zu werfen. Viele Menschen vor den Fernsehbildschirmen werden lachen: Die Trottel ahnen nicht, was sie erwartet.
Schreiner-Girl kommt zurück zum Lager und bindet sich ihr Bandana enger ums Haar. Es wird nicht erklärt, wo sie war, und es ist auch nicht gefilmt worden: weibliche Körperpflege. Zoo nimmt vorsichtig einen Bissen von den gebratenen Wurzeln. Sie kaut, überlegt, sagt dann: »Ein bisschen Salz und Pfeffer könnten nicht schaden, aber ansonsten nicht schlecht.« Sie bietet Ingenieur die Wurzeln zum Probieren an.
Exorzist erzählt den anderen in seinem Team mit völlig überzeugtem Gesichtsausdruck eine lächerliche Geschichte nach der anderen. Er schwenkt zur Betonung sein grünes Bandana, als er mit der soundsovielten loslegt. »Ich bin kein Experte für Geister, aber mir sind schon ein paar untergekommen. Vor ein paar Jahren war ich mal in Texas –«
»Halt die Klappe!«, entfährt es Cheerleader. »Mein Gott, ich halt’s nicht aus. Halt doch einfach die Klappe.«
»Er ist auch mein Gott«, erwidert Exorzist, ohne eine Miene zu verziehen. »Mehr meiner als deiner, schätze ich mal.«
Ist das ein Antischwulenspruch? Keiner ist sich da sicher – nicht Cheerleader, nicht die Produzenten, nicht der Cutter. Cheerleader entscheidet sich für die Beleidigung. »Ich will nichts mit dir oder deinem Gott zu tun haben«, sagt er. »Verzieh dich.«
Exorzist rührt sich nicht von der Stelle und starrt Cheerleader unverwandt an. Wenn er nicht lächelt, ist er ein wenig beängstigend. Black Doctor und Air Force stehen beide auf. Air Force’ Knöchel meldet sich schmerzhaft, und Black Doctor ist drauf und dran, einzuschreiten, aber das ist nicht erforderlich. Cheerleader seufzt und sagt: »Auch gut«, und geht auf die andere Seite ihres Camps.
Der Cutter wird den Moment umgestalten. Nach dem, was die Zuschauer wissen, hat Exorzist seit seinem Spaziergang mit Black Doctor sehr viel früher am Tag kein Wort gesagt. Warum also ist Cheerleader so explodiert, aus heiterem Himmel? Was für ein empfindlicher, irrationaler, hasserfüllter Atheist. Die umgestaltete Szene wird vermitteln, dass das – nicht seine sexuelle Orientierung – sein grundlegender Fehler ist. Kein Politiker kann die amerikanische Präsidentschaftswahl gewinnen, ohne sich als gläubigen Mann zu bezeichnen, und ein bekennender Nichtgläubiger hat als Kandidat in einer Sendung, die in einer gottesfürchtigen Nation erfolgreich sein will, keine realistische Chance. Es ist einfach Marketing, mehr nicht.
Tracker schaut auf seinen Kompass, betrachtet dann zwei Felsbrocken, die auf seiner Karte mit dicken Dreiecken markiert sind. Er ist auf Kurs und kommt erstaunlich schnell voran. Seine einstigen Teampartner sind weit abgeschlagen. Bio steht unterhalb der südlicheren von zwei kleinen Felswänden und denkt, sie sei an der nördlichen. Banker und Rancher sind auseinandergedriftet, weil Rancher schneller ist. Tatsächlich hat er auch schon Bio überholt, obwohl keiner von beiden das weiß. Die Fernsehzuschauer werden es wissen. Sie werden eine Karte mit coolen kleinen Symbolen zu sehen bekommen: vierzinkige Harken, die ihren Stiel verloren haben, stehen für Felswände, und Ranchers schwarzgelber Punkt zieht an der nördlichen Felswand vorbei, während Bios oranger Punkt nach Süden mäandert. Banker liegt ein Stück zurück und kommt gerade an einen Bach, der mit einer geschlängelten Linie markiert ist.
Im Camp fragt Black Doctor: »Wie geht’s deinem Knöchel?«
»Besser«, sagt Air Force. Er glaubt nicht, dass er den Gehstock noch lange braucht. Er hat vor, bald wieder mitzumischen. Cheerleader schmollt auf der gegenüberliegenden Seite des Lagerfeuers.
Zoo hat die anderen in ihrem Team dafür eingespannt, ihr beim Filtern von Wasser zu helfen. Sie hat dazu Kurzanleitungen gelesen und sich online entsprechende Videoclips angeguckt, aber sie hat es noch nie versucht. Schreiner-Girl hilft ihr, aus Stöcken einen Dreifuß zu bauen, an dem drei Bandanas wie Hängematten übereinanderhängen: weinrot mit braunen Streifen, neongelb und himmelblau. In der Nähe zerstößt Ingenieur Holzkohle zu Asche. Das hätte auch die Kellnerin erledigen können, aber sie wollte sich die Hände nicht schmutzig machen, deshalb hat Zoo sie gebeten, stattdessen die Trinkflaschen von allen am Fluss mit Wasser zu füllen. Und da ist sie jetzt. Sie kniet am Ufer und flucht leise; die Steine tun ihren Knien weh. »Soll unsere Miss Schlaumeier doch beim nächsten Mal ihr blödes Wasser für ihren blöden Filter selbst holen«, grollt sie. Das Haar hat sie sich mit ihrem violetten Bandana nach hinten gebunden.
Zoo schaufelt ein paar Handvoll Sand ins gelbe Bandana, dann helfen sie und Schreiner-Girl zusammen Ingenieur beim Zermahlen der Holzkohle – sie brauchen eine Menge Asche. Als die Kellnerin mit den Flaschen zurückkommt, die ihr schwer an den Fingern hängen, häufeln die anderen gerade feingemahlene schwarze Asche in Zoos blaues Bandana.
»Und, wie funktioniert das nun?«, fragt die Kellnerin, während sie die Trinkflaschen auf die Erde stellt. Ihr Gesicht glänzt vor Schweiß, und ihr Top ist zwischen ihren Brüsten dunkel geworden.
»Man gießt das Wasser ins oberste Bandana, und es sickert durch alle drei durch. Jedes Bandana filtert mehr Schmutz raus«, sagt Zoo. »Zumindest theoretisch.«
»Die Wasserfilter, die man kaufen kann, funktionieren überwiegend auf Kohlebasis«, fügt Ingenieur hinzu.
Zoo gießt etwa ein Drittel Wasser aus einer Trinkflasche in Ingenieurs leeres Bandana. Es tropft sogleich hindurch in die mittlere Lage, wo es den Sand befeuchtet.
»Das wird ja nur nass«, sagt die Kellnerin.
»Wart’s ab«, sagt Ingenieur, während Zoo Wasser nachgießt.
Schon bald tröpfelt es aus dem gelben Bandana in die Kohle darunter. Schreiner-Girl gießt den Inhalt einer zweiten Trinkflasche ins oberste Bandana. Die Tropfen verbinden sich zu einem dünnen, gleichmäßigen Strahl.
»Was passiert, wenn alles durch die Kohle gelaufen ist?«, fragt die Kellnerin.
»Dann trinken wir es«, antwortet Zoo.
»Woraus denn?«
Zoo lacht, ein lautes, verblüfftes Lachen – es steht kein Behälter unter ihrem Bandana. »Hab ich glatt vergessen«, sagt sie und stellt eine leere Flasche unter die Konstruktion. Als sie sieht, dass die Flasche nicht genug Platz hat und das Bandana berührt, gräbt sie ein Loch. Die ersten paar Tropfen klares Wasser landen auf der Erde, doch der Cutter schneidet das raus. Die Fernsehzuschauer werden nur sehen, wie Zoo gerade rechtzeitig fertig wird, um den ersten Tropfen aufzufangen.
Drei Meilen entfernt erreicht Tracker eine braune Blockhütte, wo der Moderator, der bequem mit einem Geländewagen über eine alte Forststraße gekommen ist, bereits wartet.
»Das war schnell«, sagt der Moderator ehrlich beeindruckt. Tracker hat die dichtbewaldete Strecke in nur vierundsechzig Minuten bewältigt. Rancher, von den Übrigen im Team bisher auf Platz zwei, ist noch über eine Meile entfernt. Der Moderator deutet mit einem Armschwenk auf die Blockhütte. »Als der Gewinner steht dir das Hauptschlafzimmer zur Verfügung«, sagt er zu Tracker. »Letzte Tür links.«
Das Zimmer, das Tracker betritt, entpuppt sich als klein, aber großzügig ausgestattet: ein Doppelbett mit dicken Steppdecken und Kissen, ein eigenes Bad mit Dusche, eine Schale Obst auf dem Nachttisch. Zwei Fenster, die er beide öffnet.
Derweil bereiten sich die übrigen acht Kandidaten in den Camps auf die Nacht vor: Es herrscht eine geschäftige Atmosphäre.
Rancher kommt aus den Bäumen hervor, sieht die Hütte und den wartenden Moderator. Er wird begrüßt und in ein Zimmer gegenüber von Tracker geschickt. Zwei Einzelbetten mit dünnen Decken und Kissen, ebenfalls Obst. Ein Gemeinschaftsbad auf dem Flur. Banker trifft nur wenig später ein – genau genommen zweiundzwanzig Minuten. Er bekommt das zweite Bett im Zimmer von Rancher.
»Sie ist vor uns aufgebrochen«, sagt Rancher zu Tracker. »Keine Ahnung, wo sie bleibt.«
Bio weiß, dass sie vom Kurs abgekommen ist, und versucht herauszufinden, wie weit. Sie sieht einen Bach und geht schnurstracks darauf zu. Sie hält Ausschau nach besonderen Merkmalen in der Nähe: eine Gruppe Felsen, die bröckeligen Reste einer von Menschenhand gemachten Mauer. Mit dem Finger sucht sie die Karte ab, schaut zwischendurch auf die Zeichenerklärung. Sie stößt auf die gepunktete Linie der verfallenen Mauer, eine von nur zwei eingezeichneten. Die Symbole stimmen mit ihrer Umgebung überein. »Jetzt weiß ich, wo ich bin«, sagt sie und atmet mit einem kurzen Blick in die Kamera erleichtert auf. Sie konsultiert ihren Kompass, um zu entscheiden, in welche Richtung sie gehen muss. Nordosten, bis zu einem sumpfigen Gelände – dünne, schraffierte Linien –, an dessen Rand entlang bis zu einem Wäldchen und einer Felsengruppe. Von dort in östlicher Richtung noch eine Meile durch waldiges, aber relativ flaches Terrain ans Ziel. Sie könnte es schaffen, bevor es dunkel wird.
Schreiner-Girl kriecht in ihre Ecke des Team-Wetterschutzes. »Gute Nacht«, sagt sie. Sie haben jetzt weniger Platz. Die Kellnerin schläft auch bei ihnen. Nacheinander trudeln alle von Air Force’ Team in ihrem Unterschlupf ein. Die Kameramänner reden über Funk darüber, dass sie bessere Nachtaufnahmen brauchen, und machen Feierabend.
Die Schatten rings um Bio werden schwärzer. Sie hat die Taschenlampe in der Hand. »Es kann nicht mehr weit sein«, sagt sie. Sie würde gern joggen, weiß aber, dass die Müdigkeit in ihren Beinen und die nahende Dunkelheit das zu gefährlich machen.
Exorzist schnarcht. Cheerleader liegt wach im Dunkeln, das Gesicht verächtlich verzogen. Im anderen Lager ist nur noch Ingenieur wach. Die Wärme um ihn herum, das weiche Gefühl am Rücken – er befindet, dass er ein richtiger Glückspilz ist.
Bio sieht Licht durch die Bäume. Wie eine Motte eilt sie darauf zu. Der Moderator begrüßt sie, als hätte er seit Stunden nur auf sie gewartet und nicht auf seinem Smartphone Threadkommentare gelesen.
»Du hast es geschafft«, sagt er. »Willkommen. Du bist Vierte, deshalb darfst du dir hier ein Bett aussuchen.« Er öffnet die Tür zum Hauptraum der Blockhütte, den der Cutter bis jetzt vor den Augen der Fernsehzuschauer verborgen gehalten hat. Der Raum ist vollgestellt mit Etagenbetten – keine Kissen, ein Laken pro Bett. Sechs Betten insgesamt, also Platz für fünf weitere Kandidaten, was zu der Frage führt: Wo sollen die letzten drei schlafen?
Die Männer kommen und gratulieren Bio zu ihrer Ankunft. Bankers Oberkörper ist nackt, weil er sein Shirt durchgewaschen und zum Trocknen an den Kamin gelegt hat. Er geht offensichtlich regelmäßig ins Fitnessstudio, aber Bio ist von seinem Körperbau weit weniger beeindruckt, als es die durchschnittliche Zuschauerin sein wird. Sie lässt sich auf das untere Bett nicht weit vom Kamin fallen. Tracker runzelt die Stirn. Eingebildeter Idiot, werden voreingenommene Zuschauer denken, weil sie vermuten, dass er über Bios relative Schwäche die Nase rümpft. Wieder eine Fehldeutung. Tracker hat ein schlechtes Gewissen, weil Bio so erschöpft und offensichtlich abgekämpft ist. Er muss sich mit Nachdruck daran erinnern, dass er wegen des Geldes hier ist und dass es ihn nur bremsen wird, wenn er den anderen hilft.
Das Fenster hinter Tracker zeigt eine untergehende Sonne. Über den Camps ist der Himmel dunkel, und der Mond steht hoch. Unsere Erzählstränge sind nicht synchron.
Ein ohrenbetäubendes Dröhnen zerreißt die Stille der Camps – ein Geräusch wie die Furcht selbst, laut und durchdringend und überall. Die Kandidaten werden zu einem konfusen Wirrwarr aus schlaftrunkenen Gliedmaßen. Die Kellnerin schreit; Air Force ist aufgesprungen, seine Verletzung vergessen; Exorzist erstarrt, wartet angespannt.
»Guten Abend!«, ertönt die Stimme des Moderators über Lautsprecher. »Versammelt euch bitte alle mitten auf der Wiese, dalli! Bringt eure Ausrüstung mit. Ihr habt drei Minuten.«
Heftig blinzelnd, setzt Zoo ihre Brille auf, zieht die Schuhe an und schnallt sich den Rucksack um. Schreiner-Girl ist genauso schnell fertig. Ingenieur kann seine Brille nicht finden; er hat noch schlechtere Augen als Zoo. Schreiner-Girl sieht gut. Sie entdeckt seine Brille auf dem Boden und reicht sie ihm. Die Kellnerin könnte heulen, so müde ist sie. Sie glaubt nicht, dass sie das schafft, was immer ihr auch bevorsteht. Zoo und Ingenieur nehmen rasch die Wasserfiltervorrichtung auseinander. Bandanas werden zurückverlangt. Zoo will schon die Asche aus ihrem Bandana schütteln, überlegt es sich dann anders und bindet es im Gehen zu einem kleinen Bündel.
Cheerleader stakst auf die Mitte der Wiese zu, allein. Air Force hat Mühe, es rechtzeitig zu schaffen; er spürt wieder seinen Knöchel. Black Doctor wartet auf ihn und bietet ihm seinen Arm an, was höflich abgelehnt wird – der Gehstock reicht. Exorzist schlendert neben ihnen her, den Rucksack lässig über eine Schulter gehängt. »Wenn du mit Wesen zu tun hattest, die in der Hölle wohnen«, sagt er, »ist ein früher Weckruf halb so schlimm.«
Der Moderator wartet schon. Er hat einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand. Die Kellnerin muss sich beherrschen, um ihn ihm nicht aus der Hand zu reißen.
»Wo ist das andere Team?«, fragt Cheerleader.
»Guten Morgen!«, sagt der Moderator. »Und es ist tatsächlich Morgen. Null Uhr eins, um genau zu sein.« Alle acht Kandidaten sind innerhalb der vorgegebenen drei Minuten eingetroffen. Ein Jammer – der Moderator hatte sich schon darauf gefreut, einem von ihnen eine Strafe aufzubrummen. »Es ist Zeit für eine Solo-Challenge. Da drin sind Landkarten.« Er zeigt auf einen Behälter zu seiner Linken. »Und dort drin sind Taschenlampen.« Ein Behälter zu seiner Rechten. »Die ersten fünf, die am Wegpunkt eintreffen, dürfen mit einem Dach über dem Kopf schlafen. Je eher ihr da seid, desto mehr Schlaf bekommt ihr. Und los!«
Ingenieur stürzt auf die Karten zu, Zoo, Schreiner-Girl und die Kellnerin auf die Taschenlampen. Zoo nimmt auch eine Taschenlampe für Ingenieur, und Ingenieur nimmt vier Landkarten.
Die Kellnerin ist panisch. Sie weiß, dass sie es nicht allein durch den nächtlichen Wald schaffen wird. Schreiner-Girl stellt Blickkontakt zu Zoo her und nickt.
»Ich hätte nichts dagegen, wenn wir diese Challenge als Team machen, wenn ihr auch einverstanden seid«, sagt Zoo. Wenn es hell wäre oder sie nicht die Teamleiterin, hätte sie wohl weniger Lust gehabt, mit den anderen zusammenzuarbeiten, aber im Moment scheint Teamwork vernünftig. Die anderen stimmen zu; die Kellnerin würde sie alle am liebsten umarmen.
Dass Air Force und Black Doctor zusammenhalten, versteht sich fast von selbst. Sie haben in nur einem Tag ein bemerkenswertes Vertrauen zueinander entwickelt. Die Produzenten werden später miteinander in einem Telefonat überlegen, wie sie diese Loyalität gegen die beiden Verbündeten einsetzen können.
»Vielleicht sollten wir alle zusammenbleiben«, sagt Black Doctor zu Exorzist und Cheerleader.
Cheerleader hält noch immer Ausschau nach dem Team von Tracker, dem besten Team. Er will nicht in diesem festhängen. Black Doctor und Air Force sind ja okay, aber Exorzist? Jede Minute in seiner Gegenwart ist eine Minute zu viel. Cheerleader lässt zu, dass persönliche Antipathie seine Vernunft außer Kraft setzt. »Er hat gesagt, es ist eine Solo-Challenge«, sagt er. »Also gehe ich solo.« Er salutiert seinen früheren Teampartnern und geht dann los – aber nur ein paar Schritte. Er muss auf seiner Karte nachsehen.
»Wir sind hier, und wir müssen … dahin«, sagt Zoo. Ihr Finger durchschneidet den Taschenlampenstrahl und wirft einen dicken Schatten quer über die Karte.
»Was bedeuten die vielen Symbole?«, fragt die Kellnerin. Ihre Stimme bebt.
»Sieh in der Zeichenerklärung nach«, sagt Schreiner-Girl. »Jedes bedeutet was anderes.« Sie zögert. »Was ist ein Weiher?«
»Ein kleines Kaff«, sagt die Kellnerin.
Ihre Teampartner sehen sie fassungslos an.
»Was du meinst, heißt Weiler«, sagt Ingenieur.
Die verlegene Röte, die der Kellnerin ins Gesicht steigt, ist im Mondlicht nicht zu erkennen. Sie ist neben der Spur; ihr Gehirn arbeitet nicht richtig. Die Produzenten lachen, die Fernsehzuschauer lachen. Perfekt.
Cheerleader ist schon unterwegs, hat die Wiese als Erster verlassen. Nordosten, denkt er. Er wird einfach mit Hilfe seines Kompasses in Richtung Nordosten gehen, bis er den Bach oberhalb des Wegpunktes findet, und dann geradewegs nach Süden. Kinderleicht.
»Seht mal«, sagt Ingenieur, »da ist eine Straße, eine halbe Meile südlich. Die liegt abseits von der Route, führt aber direkt am Wegpunkt vorbei.«
»Genial«, sagt Zoo. »Der kann man im Dunkeln viel leichter folgen. Das machen wir.« Schreiner-Girl ist einverstanden und die Kellnerin sowieso.
Air Force schaut ihnen nach. »Ich wette, die wollen zu der Forststraße«, sagt er.
»Sollen wir das auch machen?«, fragt Black Doctor.
»Blödsinn«, sagt Exorzist. »Viel zu großer Umweg.«
Air Force ist hin und her gerissen. Was bringt mehr: kürzere Entfernung oder leichteres Gelände? Wäre sein Knöchel in Ordnung, wäre die Antwort einfach. Tapferkeit und Machbarkeit ringen in ihm miteinander.
»Ich finde, die Straße ist die bessere Wahl«, sagt Black Doctor. »Ich hab keine Lust, im Dunkeln über Wurzeln oder Äste zu stolpern.«
Exorzist schüttelt herausfordernd seine Taschenlampe, doch Air Force schließt sich der Meinung seines neuen Freundes an. »Du hast recht, nehmen wir die Straße.«
»Das sind zwei Meilen mehr«, sagt Exorzist. »Ohne mich. Wir sehen uns am Ziel.« Er bestimmt rasch die Richtung mit seinem Kompass und marschiert los. Eine Viertelmeile östlich gibt es ein Trio von Felsblöcken. Von dort wird er in nördlicher Richtung auf zwei Felswände zugehen, beschließt er. Es scheint ganz einfach. Deshalb lassen sie die Challenge nachts stattfinden, denkt er, damit es wenigstens ein bisschen schwieriger wird.
Die Landkarte wird den Fernsehzuschauern jetzt etwas abgedunkelt gezeigt, um den Nachteffekt zu erzeugen. Farbpunkte und -muster kriechen dahin: eine Gruppe, ein Paar und zwei Einzelne.
»Was glaubt ihr, wo Cooper und die anderen abgeblieben sind?«, fragt Zoo.
»Vielleicht sind die schon früher los?«, sagt Ingenieur.
»Oder jemand hat sie mit dem Auto mitgenommen?«, sagt die Kellnerin.
»Ist doch egal«, sagt Schreiner-Girl.
Sie haben ihre Karten in die Jackentaschen gesteckt und stapfen vorsichtig durch den dichten Wald. Zoo schaut alle paar Minuten auf ihren Kompass.
»Sie folgen uns«, sagt Ingenieur. Die anderen blicken nach hinten, sehen zwei Lichtstrahlen hinter den Kameramännern, die sich jetzt vermehrt haben. Einer pro Kandidat bei dieser Challenge, für den Fall, dass sie sich aufteilen.
»Das nächste Mal müssen wir den jungen Chinesen in unser Team kriegen«, sagt Air Force. »Dann hätten wir die Angelschnur und bekämen ein paar Proteine in den Magen.«
»Für den würde ich liebend gern Josh oder Randy eintauschen«, sagt Black Doctor. »Oder beide.«
Cheerleader kämpft sich durch den Wald. Sein pinker Punkt ist weit vom Kurs abgewichen – er hat nicht mehr auf seinen Kompass geschaut, seit er die Wiese verlassen hat. Er reibt sich die brennenden Augen, geht dann weiter, die Taschenlampe auf den Boden gerichtet. Sein Kameramann bleibt kurz stehen. Um zu verschnaufen, denkt Cheerleader; der Kameramann schleppt so viel Ausrüstung mit, er braucht bestimmt eine Pause. Er selbst bleibt ebenfalls stehen und schlägt nach einer Mücke. Er wird es zwar nicht zugeben, aber die Gegenwart des Kameramanns hat ihm den Mut gegeben, sich allein in den Wald zu wagen. Er ist ja gar nicht richtig allein, denkt er.
Aber der Kameramann ist nicht stehen geblieben, um zu verschnaufen. Er ist stehen geblieben, um diskret eine Nahaufnahme zu machen, die jetzt den Fernsehzuschauern gezeigt wird: Cheerleaders Kompass mit dem pinken Punkt liegt im Laub. Er ist ihm bei einer Bewegung aus der flachen Jackentasche gefallen. Er hätte ihn sich um den Hals hängen oder ums Handgelenk wickeln sollen. Aber: zu spät.
Zoos Team erreicht die Forststraße: holprig und unbefestigt und voll mit frischen Reifenspuren. »Also, wir folgen dieser Straße gut zwei Meilen und biegen dann nach Norden«, sagt Zoo. »Etwa auf halber Strecke kommt eine Brücke, die nicht zu übersehen sein dürfte. Danach …« Sie schaut auf die Karte und überlegt.
Ingenieur tritt zu ihr. So eine Landkarte hat er noch nie benutzt, aber er kennt sich mit graphischen Darstellungen aus. »Ich denke, die beste Stelle zum Abbiegen ist etwa in der Mitte zwischen der Baumgruppe da und dem Ende von diesem Graben«, sagt er.
»Perfekt«, sagt Zoo. »Sobald wir die Brücke überquert haben, halten wir Ausschau nach dem … dritten Graben, und auf halber Strecke zwischen dem Graben und« – sie lacht leicht auf – »ein paar Bäumen biegen wir Richtung Norden ab.«
»Ein paar Bäumen«, wiederholt die Kellnerin.
»Wir finden schon raus, welche, wenn wir da sind«, beruhigt Schreiner-Girl sie.
Zwei Meilen entfernt läuft Cheerleader durch ein Spinnennetz. Er streicht sich hektisch durchs Gesicht und lässt die Taschenlampe fallen. Als er unter leisen Flüchen, die größtenteils der Zensur zum Opfer fallen werden, die Fäden weggewischt hat, bückt er sich, um die Taschenlampe aufzuheben. »Das ist lächerlich«, sagt er. »Ich bin bestimmt schon zehn Meilen gelatscht, ich müsste längst an dem Flüsschen sein.« Er hat noch keine ganze Meile zurückgelegt und ist noch weit von dem Flüsschen entfernt, aber bald wird er erleben, wie einsam man sich fühlen kann, wenn man bloß einen stummen Beobachter an seiner Seite hat.
Exorzist kommt dagegen gut voran. Er steht unten an der kleinen Felswand, wo Bio Stunden zuvor war, aber er hat sie richtigerweise als die südlichere der beiden erkannt. Die nördliche Felswand ist sein nächstes Ziel. Er schaut auf seinen Kompass und strebt mit flinken Schritten weiter in die Dunkelheit.
Air Force und Black Doctor gelangen zur Straße. Weiter vorn können sie Zoos Gruppe sehen. Air Force’ Knöchel tut weh, ist aber stabil. Er benutzt noch immer den Gehstock.
Die Zeit wird gerafft: Wanderschuhe poltern über eine schmale Holzbrücke, Air Force pfeift eine bekannte Melodie, Cheerleader stolpert über einen morschen Holzstamm.
»Das da muss der Graben sein«, sagt Ingenieur. »Bis zu der Baumgruppe sind es bestimmt nicht mehr als fünfzig Meter.« Zoo nimmt die Kellnerin mit, um die Gegend ein Stück vor ihnen zu erkunden. Die Baumgruppe ist leicht auszumachen, sieben Laubbäume dicht beisammen an der Straße, durch eine Grasfläche vom eigentlichen Wald getrennt.
»Wir haben sie!«, ruft Zoo. Die Teampartner treffen sich in der Mitte und schlagen die nördliche Richtung ein. Schnurgerade. Sie schauen oft auf ihre Kompasse, und wenn ein Hindernis – zu dichtes Gestrüpp, ein großer Felsen – sich ihnen in den Weg stellt, umgehen sie es vorsichtig, damit sie ja nicht vom Kurs abkommen.
Der Moderator erwartet sie auf der Veranda. Er sitzt auf einer Schaukelbank und winkt ihnen zu.
Black Doctor und Air Force haben sich für eine andere Strategie entschieden. »Wenn wir von diesem Graben aus nach Norden gehen, bis zu dieser Felswand, kommen wir von dort in nordöstlicher Richtung fast direkt zum Wegpunkt«, sagt Air Force.
Weit vor ihnen betritt Exorzist die Lichtung vor der Hütte. Er hat sich das letzte freie Bett verdient. Als er hereingepoltert kommt, zischt Bio ihn an, er solle leise sein, und dreht sich zur Wand.
Als Nächstes begrüßt der Moderator Air Force und Black Doctor mit einem mitleidigen »Hallo« und baut sich vor der Hüttentür auf. »Tut mir leid, alle Betten belegt«, sagt er und deutet auf einen kläglichen Wetterschutz neben der Hütte. Der Boden ist mit Sägemehl bestreut und das Dach an einer Ecke eingesackt.
»Wenigstens regnet es nicht«, sagt Black Doctor.
Air Force fragt: »Was glaubst du, wer noch unterwegs ist?«
Schnitt auf einen aufgewühlten Cheerleader im Licht von Mond und Kamera. »Wo ist mein Kompass?«, fragt er und klopft seine Taschen ab. Er sitzt auf einem Felsbrocken. Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtet seine verdreckten Schuhe. »Dieser Vollidiot muss ihn mir geklaut haben«, sagt er, obwohl er weiß, dass das gar nicht möglich ist. Er hat Exorzist nicht mehr gesehen, seit er die Gruppe verlassen hat, und da hatte er seinen Kompass noch. Er weiß, er hat ihn verloren. »Die Sterne«, sagt er und schaut hoch. »Ich kann mich an den Sternen orientieren.« Das Blätterdach verbirgt den Himmel, aber selbst wenn dem nicht so wäre, würde Cheerleader den Nordstern wohl kaum korrekt erkennen oder sich gar an ihm orientieren können. »Okay«, sagt er. »Okay, okay, okay. Ich schaff das.« Er sieht den Kameramann flehentlich an, der wiederum auf sein Display starrt. Als Cheerleader wegschaut, schaltet der Kameramann sein Funkgerät aus und tippt dann auf eins der vielen Gadgets, die an seinem Gürtel befestigt sind.
Cheerleaders Taschenlampe beginnt zu flackern. »Nein«, sagt er und schlägt sie in seine Handfläche. »Nein, nein, nein.« Das Licht geht aus. Der Kameramann schaltet auf Nachtsicht, als Cheerleader aufsteht und seine nutzlose Taschenlampe auf den Boden wirft. Cheerleaders körniges, grünes Gesicht wechselt von Frust zu Furcht. Gut dreißig Sekunden lang steht er wie angewurzelt da und starrt auf die Taschenlampe. Dann denkt er: Wenn ich jetzt aussteige, verpasse ich das Semester nicht.
»Ad …«, sagt er. »Ad … te… te… Verdammt.« Er spricht den Kameramann direkt an: »Ich bin raus.« Der Kameramann ändert den Bildausschnitt. »Ich hab den Spruch vergessen, aber ich hör auf.« Cheerleader greift jäh in seine Tasche – der Zettel! Er faltet ihn auseinander und hält ihn sich dicht vor die Nase. »Ad … Ad …«
Es ist zu dunkel, um die drei Wörter lesen zu können.
Er setzt sich wieder hin und vergräbt das Gesicht in die Hände. »Scheiiiiiiiße«, sagt er. Der Fernsehzuschauer wird nur einen langen, gequälten Ton hören. Es wird bald Morgen, denkt Cheerleader. Er braucht nur ein bisschen Licht, um den Zettel zu lesen. Höchstens ein paar Stunden. Er wird warten.
Der Kameramann tippt wieder auf seinen Gürtel. Die Bäume beginnen zu knarren, ein unaufhörliches Geräusch, das sich allmählich in einen Schrei verwandelt und wieder zurück. Cheerleader glaubt, Dinge zu hören, die nicht da sind, aber es ist nicht sein Verstand, der ihm da einen Streich spielt. Nach vierzig Minuten – zehn Sekunden – dieses gruseligen Zyklus beginnt er zu zittern.
Ein markerschütternder Schrei ertönt hinter ihm. Er springt auf, fährt herum, sieht nichts. Die Bäume ringsherum stöhnen lauter.
Cheerleader wendet sich wieder seinem Kameramann zu. »Komm schon«, sagt er. »Es reicht, mir reicht’s. Ich steig aus.«
Stille, so total wie die Dunkelheit. Die unnatürlichen Geräusche der Nacht haben innegehalten, um sein Ansinnen abzuwägen und zurückzuweisen. Die plötzliche Lautlosigkeit trifft Cheerleader wie ein Schlag.
»Bitte«, sagte er, und die ersten Tränen kommen. Er streckt die Arme tastend nach dem Kameramann aus. »Bring mich hier raus, bitte.«
Es fehlt nicht viel, und er wird Körperkontakt herstellen.
Dazu darf es nicht kommen.
Ein winziges Lämpchen an der Unterseite der Kamera geht an. Cheerleader erstarrt. Das Licht ist schwach, aber hell genug, um die Wörter zu entziffern, die in säuberlichen Druckbuchstaben unter dem Objektiv auf dem Kameragehäuse stehen. Cheerleader sinkt fast auf die Knie.
»Ad tenebras dedi«, sagt er mit zittriger Stimme.
Der Bildschirm wird schwarz.
Der Moderator erscheint; er lehnt an einer Hauswand, die Hände in den Hosentaschen. »Einer weniger«, sagt er, und die erste Folge von Im Dunkeln endet mit seinem grinsenden Gesicht.