13.
Diesmal zerschmettere ich das Schaufenster mit einem Stein. Ich werfe mit voller Wucht aus etwa fünf Schritten Entfernung und verfehle es fast.
»Rein mit dir«, sage ich.
»Kommst du nicht mit?«, fragt Brennan.
Ich schüttele den Kopf, und er sieht mich an, als wollte ich ihn allein zurücklassen.
»Es ist eine Boutique«, sage ich. »Ich kann die Rückwand von hier aus sehen.« Was ich natürlich nicht kann, aber der verschwommene Raum hinter dem Fenster kommt mir nicht sehr tief vor. Wir sind in einem typischen Touristenort. Viele kleine Cafés und kitschige Souvenirshops. Dieser Laden – der Name steht in schnörkeliger Schreibschrift über dem Schaufenster, aber mir fehlt die Geduld, ihn zu entziffern – hat ein Sortiment an Hand- und Schultertaschen im Schaufenster hängen. Ich frage mich, wie viel den Inhabern dafür bezahlt wurde, um genau das Warenangebot zu präsentieren, das wir brauchen.
Brennan steigt durch die zerbrochene Scheibe. »Aua«, sagt er.
Ich wende mich ab, verdrehe die Augen.
»Mae, ich glaub, ich hab mich geschnitten.«
»Blutest du?«, frage ich.
»Ja.«
»Tja, dann wird’s wohl so sein.«
Ich höre Scherben knirschen; er ist drin. Ich stelle mir vor, dass er sich umdreht, mich im Auge behält. Sich vergewissert, dass ich nicht weglaufe. Als hätte ich noch die Energie für so etwas.
»Beeil dich!«, rufe ich. Über mir grollt der graue Himmel. Ich denke an das Flugzeug, aber diesmal ist es bloß Donner. »Schnapp dir lieber auch noch eine Regenjacke«, sage ich. »Oder einen Regenponcho.« Bestimmt gibt’s in dem Laden auch Ponchos. Keine praktischen, die man klein zusammenfalten kann wie der, den ich habe, sondern irgendwas Schweres und in Regenbogenfarben, als Gag.
Eine Minute später ist er wieder draußen. Er hat weder einen Regenmantel noch einen Poncho, aber einen Rucksack. Glänzend und gestreift wie ein Zebra.
»Gab’s keine anderen?«, frage ich.
Er kniet sich hin und fängt an, seine Vorräte in den Rucksack zu packen, mitsamt den Plastiktüten. »Mir gefällt der hier«, sagt er.
»Die Geschmäcker sind verschieden.« Vielleicht sollte ich so ein gezielt platziertes Produkt nicht miesmachen, aber das Ding ist wirklich hässlich. Brennan zieht den Reißverschluss des Rucksacks zu und schlingt ihn sich über die Schulter. Ich gehe los.
»Mae, guck mal, was ich noch gefunden hab.« Er streckt mir die Hand hin, und ich bleibe stehen, um zu sehen, was er da hat. Streichhölzer. Sechs oder sieben Briefchen, dunkelblau, vorn auf dem Deckel das gleiche unleserliche Geschnörkel wie an der Ladenfront.
»Gut«, sage ich. »Dann müssen wir nicht noch mal irgendwo anhalten.« Ich nehme die Streichhölzer und stecke sie in die Tasche zu meinem Brillenglas.
Einige Schritte später fragt er: »Hast du Pflaster?«
»Wie schlimm ist es?«, frage ich. Er hebt den Arm. Sein Ärmel ist hochgeschoben. Ich kann an seinem dunklen Unterarm kein Blut erkennen, er ist zu weit weg, der Schnitt zu klein. Ich setze meinen Rucksack ab und hole das Erste-Hilfe-Set raus. »Da«, sage ich und reiche ihm antibiotische Salbe und eine Packung Wundpflaster. Er scheint überrascht. Vielleicht hat er erwartet, ich würde ihm die Wunde verarzten. »Die Uhr läuft«, sage ich. Hektisch fängt er an, sich um seinen Arm zu kümmern. Der Himmel grollt wieder, lauter. Ich vermute, Brennan wird es bald leidtun, dass er sich in dem Schnörkelschrift-Laden nicht mit etwas Wasserdichtem eingedeckt hat.
Ich behalte recht. Stunden später trieft und bibbert er im Regen. »Mae, können wir bitte diese Nacht in einem Haus schlafen?«, bettelt er. Ich habe die Hosenbeine in die Schuhe gesteckt, die Ponchokapuze aufgesetzt. Meine Beine sind vorne nass, aber ansonsten bin ich trocken.
»Nein«, sage ich.
»Die Besitzer sind alle weg. Denen macht das nichts.«
Ich beiße mir auf die Oberlippe, um nicht loszubrüllen.
»Mae, ich friere.«
»Ich helf dir bei deinem Wetterschutz«, sage ich. »Zeig dir, wie du ihn winddicht kriegst.«
Er antwortet nicht. Seine Sneakers schmatzen bei jedem Schritt. Blitze zucken am Horizont. Sekunden später Donnerkrachen. Ich spüre die Erde beben. Wir haben den Touristenort hinter uns gelassen und kommen durch Wohnsiedlungen. Jetzt weiß ich, warum sie meine Brille zerbrochen haben. Damit sie mich durch Gegenden wie diese schicken können und die Häuser lediglich für ein paar Stunden evakuieren müssen. Ich frage mich, was das kosten mag, zwei-, dreihundert pro Familie? Alles bloß, um mir was vorzumachen. Und um noch mehr Leute vor die Bildschirme zu locken, denn ich muss zugeben, wenn ich nicht hier wäre, wenn ich keine Kandidatin wäre, würde ich mir diese Show angucken. Ich würde mir gebannt ihre Vision unserer zerstörten Welt anschauen, und ich wäre begeistert.
Erneutes Donnergrollen. Alle Häuser überragen uns, daher habe ich keine Angst, vom Blitz getroffen zu werden. Allerdings gibt es hier nicht viel Baumabfall, um Unterschlüpfe zu bauen, und es ist fraglich, ob wir vor Einbruch der Dunkelheit ein Waldgebiet erreichen. Vielleicht muss ich einen Kompromiss eingehen. Ein Schuppen, denke ich. Ich werde auf keinen Fall wieder eines von ihren präparierten Häusern betreten, aber ich könnte mich mit einem Schuppen oder einer Garage anfreunden.
»Wieso warten wir nicht einfach irgendwo, bis der Regen aufhört«, sagt Brennan. »Diese Latscherei ist doch bescheuert.«
Du bist bescheuert, denke ich. Er hat sich schließlich keine Regenjacke genommen, als er die Chance dazu hatte. Bestimmt verbietet ihm sein Vertrag, etwas über das Sweatshirt zu ziehen, weil dann die versteckten Kameras abgedeckt wären. Selber schuld, wenn er das unterschrieben hat.
Andererseits, ich war auch nicht viel gescheiter, als ich meinen unterschrieb.
»Du hast mich schon genug aufgehalten«, sage ich. »Ich hab nicht vor, den Nachmittag zu vergeuden.«
»Aufgehalten? Auf dem Weg wohin?«, fragt er und bleibt stehen. »In die Stadt? Die ist verlassen, Mae. Wahrscheinlich gibt’s da bloß noch Müll und Ratten. Wir müssen eine Farm finden, irgendwas, wo wir bleiben können.«
»Hattest du das vor, bevor du dich an mich drangehängt hast?«, frage ich. »Eine Farm suchen, eine Kuh melken und Eier aus dem Hühnerstall stehlen?«
Er zuckt zusammen. »Vielleicht.«
»Dann geh endlich«, schnauze ich ihn an. »Such dir irgendeine Farmerstochter, die zurückgelassen wurde und sich einsam fühlt. Keine Sorge, falls ihr Daddy noch da ist, gewinnst du ihn entweder für dich, oder er stirbt. Aber besorg dir unbedingt ein Gewehr, zum Schutz gegen Plünderer. Oder du machst einen auf Mittelalter, benutzt Pfeil und Bogen. Ich bin sicher, das ist genauso einfach, wie es aussieht. Nimm dich in Acht vor jedem, der sich Chief oder Governor nennt. Und beschütz deine süße Kleine, weil die Bösen sie immer bloß vergewaltigen wollen.«
Er starrt mich an, Regen strömt ihm übers Gesicht. »Wovon redest du?«
Von jedem postapokalyptischen Horrorszenario, das ich je gesehen habe, denke ich. Ich wende mich ab. Ich will raus aus diesem Ort, schnell. Ich höre Brennans schmatzende Schritte, die mir eilig folgen.
»Das hier ist kein Film, Mae«, sagt er.
Ich lache.
Er gibt mir von hinten einen Stoß, fest. Überrascht falle ich nach vorn und lande der Länge nach in einer Pfütze. Mir brennen die Handballen, als ich mich hochstemme. Sie sind vom Asphalt aufgeschürft, bluten. Mein rechtes Knie pocht.
»Du Arschloch«, sage ich und drehe mich zu ihm um. »Du verdammtes Arschloch.« Ich möchte meine Faust in seine blöde Visage rammen. Ich habe noch nie jemanden geschlagen. Ich muss wissen, wie sich das anfühlt. Ich muss ihn bluten sehen.
Keine Schläge in Gesicht oder Genitalien.
Sollen sie mich doch stoppen.
Er ist noch ein halbes Kind.
Er ist alt genug.
Er hat Angst.
Ich auch.
Du musst dich an die Regeln halten.
Er weicht einen Schritt zurück. »Mae, es tut mir leid«, sagt er. Er weint wieder. »Ich wollte nicht … es tut mir leid.«
Meine Fäuste sind fest geballt.
»Bitte«, sagt er, »ich gehe überall mit hin. Lass mich nur nicht allein.«
Ich öffne die Hände. »Noch ein einziges Wort von dir«, sage ich, »und du kannst sehen, wie du allein klarkommst.« Er öffnet den Mund, und ich hebe warnend einen Finger. »Noch ein einziges Wort, Brennan, und ich bin weg. Und wenn du mich noch einmal anfasst, ist mir scheißegal, was sie sagen, dann schlage ich dich zusammen. Verstanden?«
Er nickt, verängstigt.
Gut so.
Den Rest des Tages hält er den Mund. Wenn seine platschenden Schritte nicht wären und er nicht ab und zu schniefen würde, könnte ich vergessen, dass er da ist. Es ist eine Wohltat, in gewisser Weise, und doch fühle ich mich ohne sein dauerndes Gequassel wieder allein.
Mittlerweile ist mir kalt, und meine nasse Hose scheuert mir die Haut wund. Brennan muss sich elend fühlen. Es ist schon fast Abend, und das Unwetter wird nur noch schlimmer.
Brennan niest.
Wir kommen an einer Siedlung mit dicht zusammenstehenden Protzvillen vorbei. Werbetafeln kündigen neue Bauprojekte an, die noch zu haben sind. Immobilien, keine wohnlichen Häuser.
Wenn Brennan krank wird, ist er für mich ein noch größerer Bremsklotz. Trotz meiner Drohungen ihm gegenüber werden die Macher der Show bestimmt nicht dulden, dass ich einen Kameramann zurücklasse.
Ich biege in die Siedlung ein. Die Straßen sind nach Bäumen benannt. Ulme, Eiche, Pappel. Ich entscheide mich für die mit der Birke im Namen – Birch Street –, und zwar wegen einer Kindheitserinnerung: Als ich klein war, hatte ein Blizzard sämtliche Bäume mit einer Eisschicht umhüllt, und die Birken bogen sich am tiefsten, krümmten ihre Stämme wie riesige Buckel. Als das Eis schmolz, schnellten die Birken als Erste zurück gen Himmel. Nur wenige konnten sich wieder ganz gerade aufrichten – nach all den Jahren sind noch immer viele gebogen –, aber sie sind nicht gebrochen, und das hat mir immer an ihnen gefallen.
Das zweite Haus auf der linken Seite der Birch Street hat eine Besonderheit. Es sieht aus wie alle anderen, nur dass davor ein Schild mit der hellblauen Aufschrift HAUSBESICHTIGUNG steht – und ich weiß sofort, das ist ein Clue für mich. Ich drehe den Türknauf. Abgeschlossen.
»Warte hier«, sage ich zu Brennan. Ich gehe um das Haus herum. Meine Versuche, ein Küchenfenster aufzuhebeln, scheitern. Ich muss die Scheibe einschlagen. Ich finde nichts Brauchbares, also kehre ich zurück zur Vorderseite des Hauses. Das ZU-VERKAUFEN-Schild steckt schief und locker im Rasen, wie für mich da hingestellt. Ich spüre Brennans Blick auf mir, als ich das Schild aus dem Boden ziehe. Ich nehme es mit hinters Haus und zertrümmere mit dem Pflock die Fensterscheibe. Bei dem laut prasselnden Regen höre ich kaum, wie das Glas zerbirst. Ich werfe das Schild hin, entferne die noch im Rahmen steckenden Scherben und klettere hindurch in eine makellos saubere Küche. Auf dem Weg zur Haustür hinterlasse ich eine Tropfspur in einem Foyer mit riesenhoher Decke. Ich öffne Brennan die Tür und verriegele sie hinter ihm wieder. Vom Foyer gehen zwei Räume ab, die mit edlen Sitzmöbeln ausgestattet sind: lange bequeme Sofas und tiefe Sessel. In einem ist die Sitzgruppe um einen verstaubten, mindestens 60 Zoll großen Flachbildschirm herum arrangiert, in dem anderen um einen Kamin. An einer Wand ist Brennholz der Marke Duraflame gestapelt. Wahrscheinlich ein Sponsor.
Ich suche die Decke ab, sehe aber nur einen Rauchmelder. Jetzt, wo Brennan bei mir ist, brauchen sie nicht mehr so viele montierte Kameras.
Auf der braunen Papierverpackung der Holzscheite steht die Gebrauchsanweisung. Nicht mal Brennan kann da was falsch machen. Ich werfe ihm ein Streichholzbriefchen zu und gehe die Treppe hinauf, um die obere Etage zu erkunden. Jedes Mal, wenn ich eine Tür öffne, halte ich die Luft an, aber dieses Haus ist kein Vergleich zu der blauen Hütte. Es ist riesig, anonym, leer. Mit allem ausgestattet, aber nicht bewohnt. Ich öffne einen Badezimmerschrank, nehme ein Fläschchen Franzbranntwein vom obersten Regal und gieße ihn mir über die Handflächen. Die Abschürfungen sind nicht so schlimm, dass sie ein Pflaster lohnen würden. Im großen Schlafzimmer durchsuche ich Schränke und Schubladen, bis ich eine Fleece-Pyjamahose finde. Ich ziehe meine nasse Hose aus und die Pyjamahose an. Ich finde einen Herrenpyjama mit Schottenmuster für Brennan und gehe wieder nach unten. Ich werfe ihm den Pyjama zu und verteile dann Hose, Schuhe und Socken vor dem Kamin.
»Geh dich umziehen«, sage ich, »dann trocknen wir deine Klamotten.«
»Bleiben wir –« Er verstummt jäh, mit einem erschrockenen Ausdruck im Gesicht.
»Schon gut. Du darfst wieder reden. Aber nicht so viel, okay?«
Er nickt rasch. »Bleiben wir hier?«, fragt er. »Über Nacht?«
»Ja.«
Das Schweigen hat ihm offenbar gutgetan. Er zögert einige Sekunden und sagt dann: »Danke, Mae.«
»Geh dich umziehen.«
Die Vorratskammer ist gefüllt mit vegetarischen Biodosensuppen und Nudeln in Tierformen mit Käsesoße. Ich mache für mich eine Dose Toskanische-Bohnen-Reis-Suppe warm und dann für Brennan eine Portion Nudeln, nehme eine Dose Kondensmilch statt der auf der Packung verlangten normalen Milch. Er isst im Handumdrehen den ganzen Topf leer und streckt sich dann mit einem Seufzer auf der Couch aus. Kurz darauf schnarcht er. Diesmal stört mich das Geräusch nicht so sehr wie sonst. Tatsächlich kommt mir das Haus dadurch nicht mehr ganz so groß vor.
Ich breite eine wattierte Decke über ihn und wickele eine andere um mich herum. Die Sofas sind mir zu weich. Ich setze mich auf den Teppich vor dem Kamin, starre in die Flammen und nippe an einer Tasse Kräutertee. Ich glaube kaum, dass ich hier werde schlafen können. Eigentlich dürfte es keine bösen Überraschungen geben, ich habe alle Zimmer im Haus kontrolliert. Jedenfalls hoffe ich, dass heute Nacht nichts passiert.
Und wenn doch, falls irgendetwas passiert, dann wird es etwas Neues sein. Vielleicht jagen sie Heuschrecken durch den Kamin oder werfen Waldklapperschlangen durch das kaputte Fenster. Schicken ferngesteuerte Fledermäuse mit übertrieben großen Fangzähnen. Oder vielleicht haben meine Plünderer ihren ersten Auftritt.
Ich weiß, ich kann mir unmöglich vorstellen, welche Perversionen sie sich wohl einfallen lassen werden, aber irgendwie versuche ich es trotzdem. Dadurch fällt es mir etwas leichter, hier in diesem riesigen, gespenstischen Haus zu hocken und zu warten. Ich bin sicher, falls sie irgendwas geplant haben, dann werden sie noch damit warten und erst zuschlagen, wenn ich eingeschlafen oder fast eingeschlafen bin. Genauso machen sie es; sie verwischen die Grenze zwischen Realität und Albtraum. Sie bereiten mir schlechte Träume, und dann lassen sie sie wahr werden.
Am schlimmsten war die Hütte. Die unglaublich blaue Hütte, die ich nicht vergessen kann, sosehr ich es auch versuche.
Ich kam, zwei Tage nachdem ich Wallaby nicht mehr ständig auf den Fersen hatte, zu der Hütte. Ich folgte dem letzten Clue, den ich erhalten hatte. Such nach dem Zeichen hinter dem nächsten kleinen Fluss, lautete er. Ich hatte nur wenige Stunden von meinem Lager entfernt ein ausgetrocknetes Flussbett gefunden, aber keine Spur von einem Zeichen, also ging ich weiter und hielt danach Ausschau. Ich fürchtete schon, vom Kurs abgekommen zu sein, mich verlaufen zu haben, und da war er: ein Bach, der zu plätschern schien, Du hast mich gefunden, du hast mich gefunden. Ein kurzes Stück bachabwärts dann eine Unterquerung, eine Straße, eine Einfahrt. Und mein Zeichen, eindeutig, wenn auch unerwartet: ein Strauß himmelblaue Luftballons, die an einen Briefkasten gebunden tanzten und schwankten. Ich folgte der Zufahrt zu einer kleinen Hütte, blau, mit einem gedrungenen Schornstein. Auch an die Eingangstür waren Luftballons gebunden, und davor lag eine graue Fußmatte. Ich erinnere mich an farbenfrohe Fische auf dem Mattenrand, die starr lächelnde Comiclippen hatten und die Worte Home Sweet Home umrahmten – obwohl ich das in jenem Moment noch nicht als meinen nächsten Clue erkannte.
Die Eingangstür war nicht abgeschlossen. Die Hütte war hellblau und zugänglich – offensichtlicher ging es ja wohl nicht. Ich betrat einen mit Hellblau durchfluteten Raum. Luftballons lagen auf dem Boden, ein Turm von blauverpackten Geschenken stand auf dem Esstisch. Es gab eine hellblaue Couch und einen blauen Sessel. Blaue Dekokissen. Alles, was Farbe hatte, war blau. Alles. Nein, eine Ausnahme gab es – ich erinnere mich an einen Teppich, an den Kontrast meines grauschwarzen Handabdrucks auf dem Zartgelb, nachdem ich den Rauchabzug geöffnet und Feuer gemacht hatte. Aber alles andere war blau, das weiß ich noch genau.
Ich blieb zunächst im Wohnbereich mit Küche und Bad, ließ zwei Türen geschlossen, hinter denen ich Schlafzimmer vermutete. Der Strom war abgestellt, aber es gab fließendes Wasser – und in der Spüle stand ein blaues Babyfläschchen. Ich ging davon aus, dass das Leitungswasser trinkbar war, und füllte meine Flaschen, ohne das Wasser vorher abzukochen. Ein Fehler. Im Küchenschrank waren Müsliriegel und eine offene Tüte Käseflips. Ich aß mich satt, was vielleicht auch ein Fehler war, aber ich glaube, krank geworden bin ich vom Wasser. Ich fand ein paar Teebeutel Twinings Lady Grey und kochte mir eine Tasse, weil ich das irgendwie gemütlich fand.
Nachdem ich den Tee getrunken hatte oder vielleicht noch während ich ihn trank, fing ich an, die Geschenke auf dem Tisch zu öffnen. Ich rechnete mit Essen und einer neuen Batterie für meinen Taschensender, mit einem Clue, der mir verraten würde, wo ich als Nächstes hinsollte. Doch in dem ersten Päckchen war ein Stapel Bilderbücher. Eines hatte eine Giraffe auf dem Umschlag, ein anderes eine Otterfamilie. Alle hatten sie Tiere vorn drauf, allerdings war es auf einem nur ein Teddybär, den sich ein kleiner Junge an die Brust drückte. Als ich das Papier vom zweiten Päckchen – klein, weich – entfernte, fand ich eine Reihe winziger weißblauer Söckchen, sechs Paar mit der Aufschrift NEUGEBORENES.
Ich weiß noch, dass ich die Söckchen auf den Tisch warf und zur Couch ging, dass ich den Drang unterdrücken musste, auf einen oder alle von ihren allgegenwärtigen Luftballons zu treten. Noch jetzt spüre ich den Stich, den sie mir mit ihrer Botschaft versetzten. Ich weiß, ich habe ihnen erzählt, aus welchen Gründen ich teilnehmen wollte. Ich weiß, ich habe es ihnen bei meiner Bewerbung und dann bei jeder Runde des Auswahlverfahrens erzählt. Ich habe es ihnen in meiner ersten Videobeichte gesagt. Wieder und wieder habe ich es ihnen erzählt. Ich hätte nicht so überrascht sein sollen, dass sie mir zugehört hatten.
Danach legte ich mich auf die Couch und konnte lange nicht einschlafen. Als ich dann doch irgendwann wegdöste, hörte ich es: ein wimmerndes Weinen. Das Geräusch zog mich aus meinem Dämmerzustand, und mein erwachender Verstand versuchte, herauszufinden, aus welcher Richtung es kam. Aus Richtung der Diele, aus einem der Schlafzimmer.
Nur Stern- und Mondlicht drang durch die Fenster. Ich weiß noch, wie ich mich durch die Diele tastete, leise auf Socken schlich – das war das letzte Mal, dass ich die Schuhe zum Schlafen auszog. Das Geräusch war schwach und animalisch. Ein Kätzchen, dachte ich, und für mich bestimmt. Sie wussten, dass ich mich darum kümmern würde. Hunde sind eigentlich eher mein Fall, aber ich würde niemals ein verwaistes Kätzchen sich selbst überlassen. Ich würde niemals ein verwaistes Säugetier sich selbst überlassen, außer vielleicht eine Ratte.
Als ich die Schlafzimmertür öffnete, hörte das Wimmern auf, und ich blieb stehen. Bogenfenster an einer Wand umrahmten ein französisches Bett. Anders als in der Diele hatte das dämmerige Licht hier einen schimmernden Glanz. Das Bettzeug erinnerte an das träumerische Blaugrau der Nacht. Auf der Kommode saß ein Teddybär, in dem eine von diesen Baby-Kameras versteckt war. Ich weiß noch, dass ich mich etwas besser fühlte, ein bisschen mutiger, nachdem ich die Kamera entdeckt hatte.
Aber ich erschrak dennoch, als das Weinen einige Sekunden später wieder anfing. Es war jetzt lauter, und ich konnte den Berg Decken auf dem Bett als seine Quelle ausmachen. Ein hicksendes Luftschnappen unterbrach das Weinen. Verwirrt näherte ich mich dem Bett. Die längliche Form unter den Decken ließ mich zögern, aber es gab kein Zurück, dafür war ich schon zu nahe dran, und sie schauten zu, alle schauten zu. Ich packte die Decke und zog sie zurück.
Es kann vorkommen, dass sich ein Sekundenbruchteil anfühlt wie eine Ewigkeit, und diese Art von Ewigkeit erlebte ich, als ich die Decke anhob und sofort wieder fallen ließ. Die blonde Mutterattrappe, die mit Glasmurmelaugen dalag, das Dunkelbraun, das von ihrem Latexgesicht tropfte und sich auf dem Laken unter ihr sammelte. Und in ihren aufgedunsenen, marmorierten Armen hielt sie eine in Zartblau gewickelte Babypuppe, deren erstarrte Lippen gespitzt waren, als würde sie auf das Fläschchen in der Spüle warten. Ich sah kaum hin, aber ich sah alles. Bevor die Decke ganz langsam aus meiner Hand nach unten glitt, um die Attrappe, die Puppe wieder zu verhüllen.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ihr Trick funktionierte, dass ich für die Dauer dieser Ewigkeit glaubte, die Attrappen wären real. Und dann fing der Soundtrack wieder von vorn an, und das wimmernde Weinen erklang, und diesmal hörte ich es: ein schwaches mechanisches Surren als Unterton. Und gleichzeitig sprühten sie den Geruch durch die Lüftungsschlitze, glaube ich, oder ich nahm ihn in dem Moment wahr, oder vielleicht ist er in meiner Erinnerung einfach nicht so wichtig wie der Klang. Jedenfalls war es das erste Mal, dass ich ihren Verwesungsgeruch in einem geschlossenen Raum wahrnahm, und er durchdrang mich bis ins Innerste. Ich stand da wie gelähmt, und ich weiß, es können höchstens ein paar Sekunden gewesen sein, aber jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, fühlt es sich länger an, wie Stunden.
Obwohl ich wusste, dass es eine Inszenierung war, obwohl die Babypuppe lächerlich klang, lächerlich aussah, traf mich das Ganze bis ins Mark. Ich weiß nicht, warum: Erschöpfung, die beabsichtigte Tragik der Szene. Es war, als ob sie die geheime Wahrheit hinter meinen Videobeichten erkannt hätten, als ob sie mir auf diese Weise sagen wollten, dass sie genau wussten, warum ich wirklich an der Show teilnahm: nicht, um noch mal ein Abenteuer zu erleben, bevor ich mich darauf einließ, Mutter zu werden, sondern weil ich nicht glaube, jemals für ein Kind bereit zu sein. Ich will bereit sein, ich will es – für ihn –, ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann nicht. Ich habe mich beworben, ich mache bei der Show mit, nicht um meine unvermeidliche Mutterschaft hinauszuschieben, sondern um meinem Mann noch nicht die Wahrheit sagen zu müssen.
Als ich in dieser viel zu blauen Hütte stand, stellte ich mir unwillkürlich vor, statt der Attrappe läge ich unter der Decke. Das Gesicht der Babypuppe war – ist – mir ins Gedächtnis eingebrannt, aber meine Schuldgefühle nahmen das Bild und verfälschten es. Ich sah das Kinn meines Mannes, verkleinert und geglättet. Ich sah das Stupsnäschen, das auf Kinderfotos von mir oft so dramatisch aufgeblähte Nasenflügel hat. Ich sah die Fontanelle oben auf seinem schorfigen Kopf pulsieren.
Im Soundtrack der Puppe kam das Husten – ein gepresster, würgender Laut. Ich weiß noch, dass sich mein Magen verkrampfte, eine instinktive Reaktion.
Ich geriet in Panik. Ich drehte mich um und rannte aus dem Schlafzimmer. Ich schnappte mir meinen Rucksack und sprang förmlich in meine Schuhe. Als ich ins Freie stolperte, verhedderte ich mich mit den Füßen in den Luftballons und rutschte auf der Home-Sweet-Home-Matte aus. Ich riss mich frei und lief, ohne zu überlegen, die unbefestigte Zufahrt zurück bis zu der rissigen Teerstraße, wo meine zitternden Beine nachgaben und ich zu Boden sank. Ich landete am Straßenrand im Laub vom letzten Jahr, völlig erschöpft und von Hass erfüllt, baute Adrenalin ab. Sie wollten, dass ich aufgab, so viel war klar, und ich wollte das auch, ich wollte, dass es vorbei war, aber die Genugtuung konnte ich ihnen nicht geben. Ich blieb lange so liegen, innerlich kochend. Irgendwann setzte ich mich auf und nahm meine Brille ab. Ich weiß noch, wie mein Magen in Aufruhr geriet, gallige Flüssigkeit zwischen Kehle und Eingeweiden auf- und abstieg. Ich hielt meine Brille fest zwischen den Fingern und blickte dahin, wo ich sie vermutete, ohne sie zu sehen, sagte mir immer wieder, dass die Attrappe und die Puppe nicht echt waren, und überlegte krampfhaft, was ich als Nächstes machen sollte, wohin ich gehen sollte. Dann nahmen meine kurzsichtigen Augen ein amorphes, helleres Etwas wahr, wie eine blasige Masse. Es schillerte und tanzte, und nach einem atemlosen Moment begriff ich, dass es die Luftballons an dem Briefkasten waren, die das Mondlicht reflektierten und im Wind schwankten.
Und da verstand ich: Der Clue waren nicht die Bilderbücher oder die Luftballons, sondern die Fußmatte. Home Sweet Home. Das war die Richtung, die ich einschlagen sollte. Osten.
Ich wusste auch, dass den Machern der Show mein panischer Rückzug gefallen würde, und ich beschloss, mich fortan so langweilig wie möglich zu verhalten. Das würde meine Rache sein. Ich hielt mich auf kleinen Nebenstraßen und mied Häuser. Zunächst kam ich langsam voran; ich wurde krank – vom Wasser, vielleicht auch vom Essen, aber vermutlich vom Wasser – und verlor ein oder zwei Tage, lag bibbernd am Feuer, das ich vor Schwäche kaum entfachen konnte, nicht mal mit meinem Anzünder.
Ich trauere ihm wirklich nach. Bloß ein Gegenstand, aber so nützlich. Ich weiß nicht, ob ich die Tage meiner Krankheit ohne den Feueranzünder durchgehalten hätte. Wahrscheinlich hätten sie mich disqualifizieren, zu meiner eigenen Sicherheit aus der Show nehmen müssen. Ja, ich war wirklich kurz davor, den Ausstiegsspruch zu sagen. Ich glaube, einzig und allein die Tatsache, dass sie mich nicht holen kamen, dass sie offenbar an meine Genesung glaubten, gab mir die Kraft, nicht das Handtuch zu werfen, ließ mich hoffen, dass ich es überstehen würde. Und so war es. Ich wurde wieder gesund, und ich wusste, wohin ich zu gehen hatte. Ich machte mich auf den Weg, und ich habe Erdnussbutter und Studentenfutter gefunden, die nächste Attrappe, Clues, die mir sagen, dass ich noch immer auf Kurs bin.
Neben mir stößt Brennan einen besonders lauten Schnarcher aus und regt sich auf dem Sofa. Sein Arm rutscht über die Kante, und seine Finger ballen sich reflexartig zur Faust, ehe sie sich wieder lockern und den Fußboden streifen. Er wirkt zufrieden, wie er da auf dem weichen Sofa liegt, als wäre er zu Hause. Er hat heute Abend noch kein einziges Mal geschrien.
Ich blicke auf seine baumelnde Hand. Der Feuerschein spiegelt sich im Zifferblatt der Armbanduhr. Aus schlafloser Neugier schaue ich nach, wie spät es ist. Acht Uhr siebenundvierzig. Ich habe mich so lange am Tageslicht orientiert, nicht an Uhrzeiten, dass ich prompt das Gefühl habe, etwas Verbotenes getan zu haben. Mir wird warm im Gesicht, und während ich zuschaue, wie die digitale Sekundenanzeige weiterspringt, verstehe ich auch, warum – ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Uhr tatsächlich funktioniert. Was dumm ist; warum sollte eine Kamerauhr nicht auch die Zeit anzeigen können?
Ich stelle meinen kalten Tee hin und beuge mich näher zu Brennans Hand, starre unverwandt auf das Zifferblatt. Ich weiß, dass ihr mich seht, sagt mein Blick den Produzenten. Ich könnte Brennan die Uhr unbemerkt abnehmen und sie zertrümmern, aber das werde ich nicht. Sollen sie mich doch filmen, sollen sie mir doch folgen und alles dokumentieren. Schließlich habe ich mich vertraglich dazu verpflichtet. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie mich brechen. Ich werde sie nicht gewinnen lassen.
Ich werde weitermachen, koste es, was es wolle. Ich werde ihre Ziellinie überschreiten, wo immer die auch ist, und ich werde diese lebende Attrappe, die sie mir aufgehalst haben, mitbringen, damit alle meinen Sieg sehen können.