6.

Der Moderator spricht so volltönend, als stände er auf einer Bühne. »Bei unserer ersten Team-Challenge besteht eure Aufgabe darin, essbare Pflanzen zu finden«, sagt er. Er hat gut geschlafen. Die Kandidaten nicht, bis auf Tracker, der besser im Freien schläft als in geschlossenen Räumen. »Das Team, das innerhalb einer Stunde die meisten unterschiedlichen Arten essbarer Pflanzen gesammelt hat, gewinnt. Das bedeutet allerdings nicht, dass ihr einfach wahllos irgendwelche Blumen pflücken könnt.« Der Moderator droht mit dem Finger, und Zoo muss lachen, als Schreiner-Girl die Augen verdreht. Sowohl die Geste als auch das Lachen werden rausgeschnitten werden. Es ist ein ernster Moment. »Für jede falsche Pflanze wird eurem Team ein Punkt von der Gesamtzahl abgezogen.« Er reicht jedem Teamleiter ein buntes Faltblatt. »Ihr spielt um etwas sehr Wichtiges – ums Mittagessen.«

Tracker ist vor Tagesanbruch aufgewacht, um seine Fallen zu überprüfen, und hat seinem Team ein Kaninchen zum Frühstück mitgebracht. Außerdem hat Bio wieder einige ihrer Proteinriegel abgegeben, obwohl sie dazu nicht länger verpflichtet war. Die acht Kandidaten der beiden anderen Teams sind ausgehungert, und der Moderator weiß nichts von dem Kaninchen.

Die nächsten paar Minuten werden auf Augenblicke zusammengeschnitten. Die Teams sind startklar, und der Moderator ruft: »Los!«

»Ich wette, Cooper kennt sich mit so was aus«, sagt Schreiner-Girl zu ihrem Team. »Einer von uns sollte ihm folgen.«

»Das übernehme ich«, sagt die Kellnerin, die viel lieber in seinem Team wäre.

Zoo ist von dem Vorschlag nicht begeistert. Sie hat sich ihr ganzes Leben an Prinzipien gehalten. »Ich kenne ein paar von den Pflanzen da«, sagt sie mit Blick auf das Faltblatt. »Und ich glaube, gestern hab ich Wilde Möhre gesehen. Wir schaffen das auch allein.«

»Seh ich auch so«, sagt Ingenieur. Gestern wusste er nicht, was er davon halten sollte, dass er in einem Team mit drei Frauen gelandet war, war unsicher, ob das Glück oder doch eher Pech war. Jetzt glaubt er, es war Glück. Ihm gefällt Zoos Einstellung. Er glaubt, sie haben eine Chance.

»Von mir aus«, sagt die Kellnerin. Sie hat Hunger, aber an das Gefühl ist sie gewöhnt. Sie reagiert gereizt, weil sie Koffein braucht, müde ist und Kopfschmerzen hat.

Zoo reicht ihr das Faltblatt. »Ein paar von denen sind einfach. Wir können alle nach Löwenzahn und Zichorie und Pinien suchen, aber wie wär’s, wenn wir uns jeder auf ein oder zwei von den anderen konzentrieren?«

»Du bist der Boss«, sagt Schreiner-Girl.

Trackers Team legt gut los. Bio hat bereits eine Handvoll Minze gesammelt. Die Stelle hat sie gestern Abend entdeckt und heute Morgen schon ein paar Blätter gekaut, nachdem sie ihre Kaninchenportion gegessen hatte. Neben ihrem Job berät Bio auch einen Gartenverein. Mit ihr und Tracker hat ihr Team einen deutlichen Vorteil.

Air Force’ Knöchel schmerzt heute noch heftiger und ist so stark geschwollen, dass er kaum in den Schuh passt. »Du solltest dich schonen«, sagt Black Doctor. »Wir schaffen das auch allein.«

Cheerleader hält sich lustlos im Hintergrund, als sie das Faltblatt überfliegen. Seine Haare sind zerzaust, die Augen gerötet. »Was bedeutet grundständig?«, fragt er zögernd.

»Das bedeutet, die Blätter wachsen dicht am Boden«, sagt Black Doctor. »Nicht verteilt an einem Stängel.«

»Wie bei Löwenzahn?«, fragt Cheerleader.

»Genau«, sagt Black Doctor. »Was müssen wir finden, das grundständig wächst?«

»Löwenzahn.«

Exorzist lacht und schlägt Cheerleader auf den Rücken.

Dann kommt eine Montage:

Die Teams wandern suchend zwischen den Bäumen umher.

Air Force sitzt mit dem Fuß im eiskalten Wasser eines kleinen Bachs, wie ein armer verwundeter Vogel.

Banker hockt vor einer Pflanze, die halb versteckt unter einem Felsbrocken wächst. »Das könnte Portulak sein.«

Zoo zerrupft ein Blatt, schnuppert daran. Sie hält es den anderen hin und sagt: »Riecht mal.« Sie reichen es herum. »Riecht wie …« Ingenieur ist unschlüssig. »Möhre?«, fragt Schreiner-Girl. »Bingo«, sagt Zoo.

In der unteren Ecke des Bildschirms tickt ein Timer von dreißig auf null. Manche glauben, dass Zeit eine eigene Dimension ist, ein fortlaufendes Kontinuum, andere halten sie für ein nicht berechenbares Konstrukt des menschlichen Verstandes – eine Vorstellung ohne Substanz. Die Produzenten und der Cutter interessieren sich nicht für Physik oder Philosophie, und sie fassen die halbe Stunde mit Zeitsprüngen zusammen, so dass immer mal wieder etliche Minuten verschwinden. Sie nehmen die Fernsehzuschauer mit.

Cheerleader schlägt auf einen Ast voll Nadeln. »Die Pflanzen sehen alle gleich aus«, sagt er. Exorzist packt denselben Ast und sagt: »Pinie.«

»Pinie«, sagt Schreiner-Girl.

»Pinie«, sagt Bio. Sie hat die Feststellung schon fünfzehn Minuten früher getroffen, aber auf dem Bildschirm wird es aussehen, als wäre sie die Dritte und hätte nur noch neun Minuten übrig.

Tracker geht schweigend voraus, zerdrückt Blätter, schnuppert an seinen Fingern, sucht.

»Kann man das wirklich essen?«, fragt die Kellnerin mit einem Stück Wurzel in der Hand, das Zoo ihr gegeben hat. »Ich glaube, es muss erst gekocht werden«, antwortet Zoo.

Ein Gong hallt durch den Wald; alle bleiben stehen und horchen. Noch fünf Minuten, blinkt der Timer.

»Sollten wir nicht lieber zurückgehen?«, fragt Banker.

»Wir haben noch nicht alle«, erwidert Bio.

»Wir haben genug«, sagt Rancher. Tracker neben ihm nickt.

Das Team von Air Force holt ihn am Bach ab. »Ich hab am Ufer Minze gefunden«, sagt er.

Black Doctor hilft ihm auf. »Super. Die hatten wir noch nicht.« Obwohl das nicht stimmt.

Die Teams finden sich wieder auf der Wiese ein. Der Moderator wartet schon, und er ist nicht allein. An seiner Seite steht ein großer bärtiger Mann, dem bloß eine Axt fehlt, um als Holzfäller durchzugehen.

Der Experte.

Er nickt mit seinem massigen Kopf, ohne zu lächeln, und mustert die Kandidaten. Sein Flanellhemd und sein rötlicher Bart flattern in einer Windböe. Zoo unterdrückt mit Mühe ein Lachen – der Riese ist die Bohnenranke heruntergeklettert, denkt sie, und er guckt, als würde er überlegen, wen von ihnen er für seine nächste Mahlzeit braten soll.

Der Moderator zählt die Referenzen des Experten auf, die an den Kandidaten ebenso vorbeirauschen, wie sie an den Zuschauern vorbeirauschen werden, beeindruckend und unverständlich zugleich. Er ist promoviert, bildet aus, berät Polizei und Rettungsteams. Er hat Monate allein in der Wildnis von Alaska überlebt, wo die Bedingungen wesentlich härter sind als hier. Er hat nicht bloß Panther und Bären und vom Aussterben bedrohte Grauwölfe aufgespürt, sondern auch Vermisste und geflohene Mörder.

Kurzum, er ist mit allen Wassern gewaschen.

Die Teamleiter zeigen dem Experten, was sie gesammelt haben. Zoo ist die Erste.

»Löwenzahn, klar. Minze, Pinie. Ihr habt die Leichten«, sagt der Experte. Seine Stimme ist rau, aber nicht unfreundlich. Er strahlt immenses Selbstvertrauen aus, ohne überheblich zu wirken. Er muss nichts beweisen. Tracker erkennt die Ähnlichkeit zwischen ihnen und weiß nicht, ob ihn das anzieht oder abstößt.

»Zichorie«, sagt der Experte, »sehr gut. Große Klette. Weißdorn. Wilde Möhre. Und … und was soll das hier sein?« Er hält ein großes glänzendes Blatt hoch.

Zoo schaut auf ihr Faltblatt. »Maiapfel?«

Der Experte schnalzt leise mit der Zunge. »Das ist Blutwurz.« Er zeigt auf die abgerissene Wurzel. »Seht ihr das Rot hier?«

»Giftig?«

»In großen Mengen, ja. Maiapfelblätter sind eher schirmförmig und glänzend. Er gehört zu den ersten Pflanzen, die im Frühling austreiben, deshalb welkt er um diese Jahreszeit schon und trägt kleine gelbgrüne Früchte.«

Zoos Team verliert einen Punkt, kommt insgesamt auf sechs – aber sie haben etwas gelernt.

Trackers Team erreicht locker sieben Punkte ohne Abzüge, einschließlich einer harten gelben Kugel, die sich als Maiapfel-Frucht erweist. Der Experte ist beeindruckt. Tracker schwankt zwischen Stolz und peinlichem Berührtsein über seinen Stolz.

Air Force präsentiert die Ausbeute seines Teams, ohne zu wissen, was sie beinhaltet. Der Experte zählt die Pflanzen: »Pinie. Minze, Große Klette, Portulak, Löwenzahn, Virginische Traubenkirsche.« Es gibt noch eine weitere Pflanze. Wenn sie korrekt ist, belegt das Team von Air Force gleichfalls den ersten Platz. Ist sie falsch, ist es Letzter.

Aufbau von künstlicher Dramatik: lange Pausen, Nahaufnahmen zeigen erst Black Doctors gespannten Blick, dann Cheerleader, der nervös von einem Bein aufs andere tritt, den Mund zusammengepresst, und schließlich Exorzist, der übertrieben lächelt. Air Force steht aufrecht da, lässt sich nicht anmerken, dass er Schmerzen hat. Der Experte greift mit einem Schnauben in die Tüte, das seinen Bart beben lässt. Er holt einen hohlen, bläulich gefleckten Stängel hervor, an dessen Ende ein Büschel kleiner, bröckeliger brauner Knoten sitzt, die einmal winzige Blüten waren.

Und dann – Zeit für die Sponsoren und alle, die sonst noch für ein paar Sendeminuten bezahlt haben, um ihre Produkte und Dienste zu verkaufen. Einige Zuschauer stöhnen, aber sie bleiben dran; andere müssen nur ein kurzes Werbestakkato ertragen, dann geht die Show weiter. Auch der Zuschauer kann die Zeit manipulieren, gegen eine Gebühr.

Der Experte hält den Stängel hoch und rümpft die Nase, um dem Zuschauer zu verraten, wie unangenehm die Pflanze riecht. Air Force saugt die Wangen ein; er weiß, dass irgendwas nicht stimmt. »Wilde Möhre?«, fragt der Experte. Air Force hat keine Ahnung; Black Doctor hinter ihm nickt.

»Nein«, sagt der Experte. »Und wenn ihr die hier esst, könntet ihr dran sterben. Hat einer von euch schon mal den Namen Sokrates gehört?«

Es handelt sich also um Schierling.

Der Moderator tritt vor, gestikuliert mit den Händen zu einer Fanfare, die er gar nicht hört. Ihm sind die Unterschiede zwischen Schierling und Wilder Möhre egal. Er wendet sich an Trackers Team.

»Glückwunsch«, sagt er. »Eure Belohnung wartet schon.«