27.
Ein Meer von Gesichtern vor der Kamera. Ruhiger, als erwartet, sauberer, als erwartet, dünner, als sie mal waren. Die meisten lächeln, und viele weinen, ihr Atem wie Nebel in der Luft. Nacheinander nehmen sie Broschüren und Wasserflaschen von Männern und Frauen in orangen Westen entgegen. Köpfe nicken und wippen, Frost knirscht unter Stiefeln und Schuhen und dem einen oder anderen Paar Schlappen. So stark die Gemeinschaft auch war, die sie sich aufgebaut haben, fast alle wollen gerettet werden.
Dreitausend Meilen entfernt sitzt ein Mann vor einem alten Flachbildfernseher und schaut sich die Szene an. Er hat Glück, er teilt sich das Zimmer mit nur zwei anderen – ebenfalls Ostküstler, die er aber vorher nicht kannte. Der Mann hat einen vier Monate alten Bart, der mal mehr Schwarz aufwies als Grau. Er stützt das Kinn in die Hand und kaut an einem Daumennagel, während er die fernen Gesichter absucht. Ein Signallämpchen, auf das er nicht reagieren wird, blinkt an seinem iPhone, das neben ihm auf dem Bett liegt. Das Handynetz funktioniert seit zwei Monaten gebietsweise wieder, aber er hat keine Nachrichten erhalten, nicht von ihr. Ihre Mutter hat im August von ihrem Festnetz aus angerufen und ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Sie klang nicht gut, und es ging niemand mehr dran, als er zurückrief. Das ist der dritte Fernsehbericht über das Eintreffen von Rettungsteams in einem Lager, den er sich ansieht. Schon die beiden ersten waren nicht leicht zu ertragen, aber den hier hält er kaum aus. Es ist das bisher größte Lager, über dreihundert Menschen. Seine beste Chance.
Eine Reporterin erscheint im Bild, Mikrophon in der Hand. Sie sieht elegant und gepflegt aus und hat ein ebenmäßiges Gesicht, das dank HD-freundlichem Make-up noch besser zur Geltung kommt. Sie ist nicht die Fernsehfrau, die dem Mann schon länger bei der Suche hilft; sie weiß nichts von ihm. Beim Anblick ihres gutgelaunten Grinsens käme niemand auf die Idee, dass erst kürzlich ein Drittel der Bevölkerung ihres Landes und fast die Hälfte der Weltbevölkerung einer mysteriösen ansteckenden Krankheit zum Opfer gefallen sind, deren Ursprung die Behörden jetzt allmählich erkunden. Am unteren Bildschirmrand läuft ein Text durch: FLÜCHTLINGE IM OSTEN DER USA GERETTET.
Dieser Untertitel ist eine Lüge. Der Mann, der auf dem Bildschirm nach dem Gesicht seiner Frau sucht – er ist der Flüchtling. Er wurde in dem Moment zum Flüchtling, als er einen Bus bestieg, der zu einer Quarantänestation fuhr, statt den letzten Zug nach Hause zu nehmen. Seine Zimmergenossen sind Flüchtlinge, ebenso wie die zahllosen anderen, die wie sie darauf warten, wieder nach Hause zu dürfen. Die Menschen in dem Lager sind keine Flüchtlinge, sondern Überlebende. Jeder hat seine eigene Geschichte, wie er zu der gutorganisierten Gemeinschaft in den Bergen von Massachusetts gelangt ist. Der kleine arabischstämmige Mann, der soeben eine Flasche Wasser entgegengenommen hat, war Taxifahrer in Washington, D.C. Er wurde krank, seine Frau und seine Kinder ebenso. Er überstand die Krankheit als Einziger und wachte dehydriert in seiner Wohnung auf, umgeben von seiner toten Familie. Sein Lebenswille war stärker als seine Trauer, gerade so. Die alte Indianerin in der rechten Ecke des Bildschirms hat ihre Tochter und ihren Enkelsohn verloren, aber nur wenige Tage später dem kleinen Mädchen, das jetzt auf ihren Schultern sitzt, das Leben gerettet. Sie hat die Kleine aus dem Kindersitz eines Mini Coopers befreit, in den Wasser durch die Fenster einströmte, weil der Vater des Mädchens ihn im Delirium in einen Fluss gelenkt hatte. Der schwarze Junge in dem roten Sweatshirt hielt den Kopf seiner sterbenden Mutter, bis sie auf einer Kirchenbank die Augen für immer schloss. Allein machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Süden, traf irgendwann auf eine unbeugsame Fremde, die ihn mit in Richtung Osten nahm, weil er sich in seiner Einsamkeit nicht von ihr abwimmeln ließ. Die Geschichte der unbeugsamen Fremden ist die seltsamste von allen, durchsetzt mit Täuschungen und Selbsttäuschungen. Selbst der Mann, dem die Farm gehört, die viele Menschen inzwischen als ihr Zuhause betrachten, hat eine Geschichte, obwohl er sich nicht erst hierher durchschlagen musste. Seine Geschichte erzählt vom Öffnen von Türen, von der Entscheidung, zu geben, nachdem er so viel verloren hatte.
Irgendwann werden viele dieser Geschichten gefeiert werden, aber noch werden die Verluste gezählt. Noch ist allein das Überleben dieser Menschen eine Topnachricht. Die Reporterin interessiert nur: »Wie fühlen Sie sich?«
»Überwältigt!«
»Erschöpft!«
»Überglücklich!«
Nichts Wesentliches, nichts Unerwartetes. Bloß Tränen und Platituden. Der Mann vor dem Fernseher hört nicht hin. Ein brauner Labrador trottet durchs Bild, und den Mann durchfährt ein schmerzlicher Stich. Er weiß nicht, was aus der Greyhound-Hündin geworden ist, die er in der Woche zu sich geholt hatte, bevor seine Welt implodierte. Sie sollte eine Überraschung für seine Frau sein. Lieb und gestromt, genau wie seine Frau sich das gewünscht hatte, und auch der Name hätte sie entzückt: Freshly Ground Pepper. Er ließ sie bei sich im Bett schlafen, selbst in der Nacht, nachdem sie irgendetwas aus der Mülltonne gefressen hatte und beim abendlichen Spaziergang eine schaumige Masse erbrach.
Die Reporterin bemerkt den schwarzen Jungen im roten Sweatshirt. Seine Fremde, eine Weiße in einer schmutzigen grünen Fleecejacke und mit einer blauen Mütze auf dem Kopf, geht neben ihm, eine Hand locker an seinen Rücken gelegt. Der Junge wirkt glücklich und aufgewühlt, doch das Gesicht der Frau ist versteinert. Der Reporterin gefallen der Gegensatz und die Nähe zwischen den beiden. Sie dankt einer weinenden Witwe für ihre Zeit und steuert auf das Paar zu.
Die Augen des Mannes werden wachsam, und er setzt sich auf. Er glaubt, seine Hoffnung und seine Phantasie spielten ihm einen Streich. Nach der langen Zeit im Ungewissen ist er sich nicht sicher. Die Frau ist Haut und Knochen, und ihre Haare, die unter der Mütze hervorlugen, sind hell und kurz, aber –
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt die Reporterin. Inmitten des ganzen Tumults findet der Junge keine Worte. Die Reporterin lächelt ihn aufmunternd an, hält ihn für schüchtern, wendet sich dann an die Frau mit dem versteinerten Gesicht und wiederholt ihre Frage.
Gewissheit durchfährt den Mann, und er springt mit einem Schrei auf, glaubt – weiß. Er will es jemandem erzählen und sieht sich um, doch er ist allein. Monatelang hat er gesucht, hat die Angst ihn gequält; jetzt lacht er und reckt die Fäuste in die Luft.
Die Kamera schwenkt mit einem Ruck zur Seite; die Frau mit dem versteinerten Gesicht will daran vorbeigehen.
»Miss?«, hakt die Reporterin nach und beugt sich vor.
Die Frau blickt sie an, schaut dann in die Kamera. Sie kann die Augen nicht sehen, die sie so freudestrahlend betrachten. Sie kann sich nicht mehr vorstellen, dass diese Augen existieren, dass das, was der Junge ihr die ganze Zeit nicht sagen durfte – was sie, ohne dass der Junge es wusste, nicht gesehen hatte –, Folgendes war: Der Körper in dem Bett war keine menschliche Leiche. Die Frau lässt den Blick über die Menge gleiten, das Gewimmel, die Retter, die Wasserflaschen und die orangen Westen. Sie fühlt sich nicht überglücklich. Es ist vorbei. Es fängt gerade erst an. Sie wird es ertragen. Der Kameramann schiebt sich näher heran, und die Reporterin hält der Frau das Mikrophon vors Gesicht. Aber die Frau hat nichts zu beichten, und diese Apparate, die ihren Atem, ihr Bild einsaugen, das alles sind Dinge, die für sie nicht mehr real sind. Ihre harten grünen Augen gleiten an dem Objektiv vorbei zu dem Mann dahinter. »Nehmen Sie die Kamera weg«, sagt sie. »Sofort.«