19.
Brennan flüstert: »Wer ist das?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwidere ich. Meine Angst ist in Wut umgeschlagen. Wie konnte ich so blöd sein, mich zu entspannen – wie? –, und jetzt haben sie noch einen Clip, noch einen Moment, den ich nie wieder loswerde. Aber noch schlimmer ist, dass ich nicht weiß, was ich machen soll.
Was erwarten sie von mir? Dass ich auf das Klopfen reagiere. Es war schließlich ein Klopfen.
»Sollen wir abhauen?«, fragt Brennan.
»Lieber nicht«, sage ich. »Es ist dunkel draußen. Und ich glaube nicht, dass sie das Fenster gefunden haben, sonst würden sie nicht gegen den Rollladen klopfen.« Ich verfluche mich innerlich, schon während ich das sage. Einen besseren Text hätte ich ihnen kaum liefern können. Sie werden ihn bringen, und dann prompt zu jemandem überblenden, der unter dem Fenster steht und hochschaut.
»Woher wissen die, dass wir hier sind, Mae?«
»Keine Ahnung, aber wir waren ja nicht gerade leise. Und vielleicht ist Rauch nach draußen gedrungen.« Nein, man hat’s ihnen gesagt. Sie haben in einem Kleinbus gehockt und Karten gespielt und gewartet, bis die Sonne untergeht, auf ihren Einsatz.
»Was sollen wir machen?«, fragt Brennan. Er hat immer nur Fragen.
»Lass uns zusammenpacken«, sage ich, denn schließlich soll ich ja mitspielen, oder? »Leise. Warten wir, bis sie weg sind, und dann hauen wir ab.«
Er nickt, und wir beide wenden uns dem Feuer und unseren Rucksäcken zu. Ich stopfe gerade Kartoffeln und Zwiebeln in meinen, als wieder das hämmernde Klopfen gegen den Metallrollladen erklingt. Diesmal meine ich, auch eine Stimme zu hören. Wieder schaue ich in den vorderen Teil des Ladens. Wieder sehe ich nichts. Einen Moment später gehe ich Richtung Kassen.
Ein beschwörendes Flüstern hinter mir. »Mae!«
»Schsch«, sage ich. »Ich will hören, was sie reden.«
Schon seltsam, ich sage – und denke – dauernd sie. Für mich ist es irgendwie unstrittig, dass da draußen mehr als eine Person ist. Vielleicht weil das Geräusch so massiv, so wuchtig ist.
Im Dunkeln schleiche ich mich zwischen den Kassen hindurch. Als ich vorbei bin, kommt der nächste scheppernde Schlag. Ich spüre, wie der Metallrollladen unter der Wucht vibriert. Eine Stimme, männlich und undeutlich. Das einzige Wort, das ich klar verstehe, ist »aufmachen«. Wer immer die sind, sie wollen rein.
Vielleicht täusche ich mich ja. Vielleicht sind es gar nicht zwei oder mehr, vielleicht ist es nur einer. Jemand, den ich kenne. Cooper, dem es mal wieder reicht. Julio, der sich Gesellschaft wünscht, nach einer Ewigkeit allein. Der asiatische Bursche, abgehärtet durch Erfahrung.
Rums.
»Aufmachen!« Das Wort dringt jetzt ganz deutlich an mein Ohr, und ich erkenne die Stimme. Es ist die tönende Stimme eines Angebers, mit einem prahlerischen Unterton. Randy. Ich bin verblüfft. Andere auf die Palme bringen ist für ihn wie die Luft zum Atmen; wie hat er bloß die Solo-Challenge durchgestanden?
»Ich weiß, ihr seid da drin!« Rums. »Lasst uns rein!« Rums. Rums.
»Tut mir leid, Randy«, flüstere ich. Ich wünschte, es gäbe ein Guckloch, damit ich sehen könnte, wie er nach den vergangenen Wochen aussieht. Ich stelle mir vor, dass er eine Fackel in der Hand hält, Flammen sein wildes Haar erhellen und auf seiner peinlichen Halskette glitzern. Inzwischen ist er wahrscheinlich von Kopf bis Fuß mit Eichhörnchenschwänzen behängt.
Moment.
Er hat uns gesagt. Ich hatte also recht: Es sind mehr als einer. Randy ist nicht allein.
Eine zweite Stimme draußen, leiser und tiefer: »Das haut nicht hin.«
Auch diese Stimme kenne ich. Emery hat gesagt, wir würden es merken, wenn die Solo-Challenge vorbei ist, und ich merke es; sie ist vorbei. Du schaffst das, Coopers letzte Worte an mich, lautlos, aber ich habe sie dennoch gehört, und ich dachte wirklich, ich würde es schaffen. Aber ich schaffe es nicht, und jetzt kann ich ihm danke sagen und ich bin verheiratet. Ich weiß nicht, was er empfunden hat – ob er es empfunden hat –, aber ich weiß, was in mir vorging. Ich hätte es ihm gleich sagen sollen. Stattdessen – aber ich wollte es nicht denken, und ich war verwirrt –, jedenfalls dachte ich, ich würde den Menschen sehen, der ich sein könnte, aber nein, es ist anders – wir sind anders –, weil ich mich nie für allein entschieden habe, nicht, bevor ich hierherkam, und das war der größte Fehler meines Lebens. Ich will nicht Cooper sein, ich will ich sein, wieder wir sein, das Wir, das ich zurückgelassen habe – das Wir, für das ich mich entschieden habe. Und das kann ich schaffen, das werde ich schaffen – weil die Solo-Challenge vorbei ist.
Ich werfe mich gegen die automatischen Türen. Ich rüttele und zerre, schlage gegen das Glas.
Brennan taucht neben mir auf. »Mae, was machst du denn?«
»Wir müssen sie reinlassen.« Aber die Türen gehen nicht auf. Ich weiß nicht, wie ich sie öffnen soll. »Hilf mir«, sage ich.
»Mae, nein, nicht –«
Dann, von draußen: »Hallo? Wer ist da drin?«
Brennans Kopf dreht sich ruckartig zur Tür, und ich rufe: »Cooper, ich bin’s! Ich krieg die Türen nicht auf.«
Kurzes Schweigen, dann: »Am anderen Ende ist ein Notausgang.«
»Okay!« Ich haste an den Schaufenstern entlang und suche. Ich taste nach meinem Brillenglas, aber weil meine Hand zittert und ich laufe, kann ich es nicht richtig greifen.
Brennan hält mich am Arm fest. »Mae! Stopp!«
»Das sind meine Freunde«, sage ich und reiße mich los.
»Was redest du denn da?«
Seine Skepsis lässt mich verharren. »Na ja, Cooper ist mein Freund. Randy … der … aber wenn er so lange durchgehalten hat und Cooper bei ihm ist, dann muss er –«
»Warte«, flüstert Brennan. Er führt mich zur Notausgangstür, die er vermutlich schon die ganze Zeit gesehen hatte. Ich bin so aufgekratzt, dass alles an mir flattert, mein Atem, meine Augenlider. Mir ist, als könnte ich vom Boden abheben. »Hallo?«, ruft er.
»Wir sind hier!«, sagt Randy.
»Wer seid ihr?«, fragt Brennan.
»Freunde«, erwidert Randy.
Ich greife nach der Tür.
»Wie heißt ihr?«, ruft Brennan.
Die Stimme, die ich als Randys erkannt habe, sagt: »Ich heiße Cooper.«
Ich stürze aus einer unvorstellbaren Höhe.
Ich sinke, schrumpfe. Furcht durchflutet mich, füllt mich von den Fußsohlen bis zur Kopfhaut und zieht mich nach unten. Was mir Angst macht, sind nicht die beiden Fremden da draußen, sondern dass ich geglaubt habe, sie zu kennen. Dass meine Wahrnehmung so weit von der Realität entfernt sein konnte.
Brennan sieht mich an, sein Gesichtsausdruck ist triumphierend. Zum ersten Mal fühlt er sich mir überlegen – und das zu Recht.
Meine Furcht entweicht mir, strömt aus mir heraus, und ich bin leer und ausgelaugt und kalt.
Ich kann das nicht mehr.
Mich kümmern. Erklären. So tun als ob.
Ich gehe zurück zum Feuer und setze mich hin.
»Mae!« Brennans Augen sind groß vor Sorge. Draußen brüllen die Männer, oder vielleicht bloß der eine.
»Was denn?«, sage ich. Ich rühre den Linseneintopf um. »Wenn sie reinkommen, kommen sie rein. Wenn nicht, dann nicht. Wir können’s nicht ändern.«
Brennan tritt unruhig auf der Stelle. »Ich packe.«
Nach ein paar Minuten werden die Männer leise. Das Köcheln des Eintopfs ist das lauteste Geräusch und dann das Zuziehen des Reißverschlusses von Brennans Rucksack, als er fertig gepackt hat.
Wir essen. Die Bratkartoffeln, die Linsen, nichts hat mehr Geschmack. Brennan wirkt zappelig. Er fragt wieder, ob wir gehen sollen. Ich antworte nicht. Wie die Männer draußen gibt er bald auf. Es ist mehr Eintopf da, als wir essen können. »Der Rest ist fürs Frühstück«, sage ich, lege einen Deckel auf den Topf und nehme ihn von dem verglimmenden Feuer. Ich denke an Coopers erstes Lachen, wie ein Geschenk. Wie geehrt ich mich fühlte, als er mit dem Eimer in der Hand zum Fluss ging.
»Glaubst du wirklich, es ist sicher, hier zu schlafen?«, fragt Brennan.
Ich zucke die Achseln. Ich lege mich auf meinen mit Geschirrtüchern gepolsterten Liegestuhl. Die Tücher rutschen unter mir zusammen und drücken unangenehm. Ich stehe auf und werfe sie alle auf den Boden. Dann lege ich mich wieder hin. Unser Feuer ist nur noch Glut.
»Mae?«
Ich presse die Augen fest zu. Ich bin so müde.
»Lass uns morgen früh ein Auto suchen und das letzte Stück fahren.«
»Nein«, sage ich.
»Warum nicht?«
»Du weißt, warum.«
»Ach so, ja«, sagt Brennan.
»Schlaf jetzt«, fordere ich ihn auf.
Ich öffne die Augen. Die Glut des Feuers ist ein verschwommener oranger Fleck.
Ad tenebras dedi. Ich könnte es sagen. Ich sollte es sagen. Ich drehe mich auf den Rücken, so dass ich zur Decke schaue, in Richtung der Kamera, die mich irgendwo da oben beobachtet. Wenn ich die Worte aussprechen würde, würde der Strom dann wieder eingeschaltet? Würden die Lampen flackernd angehen? Würden die Metallrollläden hochfahren und die Ladentüren aufgehen? Würde Emery hereinmarschiert kommen und mir auf den Rücken klopfen, mir sagen, dass ich mich wacker geschlagen habe, dass ich jetzt aber das dreckige hellblaue Bandana, das ich um meine Trinkflasche gebunden habe, abgeben und heimkehren muss? Würde ein Auto draußen auf mich warten?
Oder würde gar nichts passieren?
Der Gedanke schmerzt. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann nicht scheitern. So erschöpft und frustriert ich auch bin, ich muss weitermachen. Ich habe mir keine andere Wahl gelassen.
Ich drehe mich wieder zu dem fast erloschenen Feuer um. Ich starre es an, bis mir die Augen zufallen. Mäuse huschen durch einen der Gänge. Ihr leises Getrippel hilft mir, einzuschlafen.
Eine Hand an meiner Schulter weckt mich, keine Ahnung, wann. Später. Es ist noch dunkel. Vom Feuer ist kein Rest Glut mehr zu sehen.
»Mae.« Ein Flüstern an meinem Ohr. »Ich glaube, sie sind drin.«
»Wer?«, frage ich.
»Da hinten hat sich was bewegt. Hör doch.«
Zuerst nehme ich nichts wahr, bloß Brennans Atem an meinem Ohr. Und dann höre ich das Geräusch einer Tür, die sich knarrend öffnet. Wie auf Bestellung.
Resigniert sage ich: »Hol unsere Rucksäcke.«
Wir gehen zum vorderen Teil des Supermarkts, bewegen uns am Kassenbereich entlang, bis wir zur Obst- und Gemüseabteilung kommen. Wir schleichen uns von einer Auslage zur nächsten, tiefer zurück in den Laden. Hinter mir atmet Brennan zu laut aus.
Dann höre ich seitlich von uns: »Wo sind sie?« Die Stimme von Nicht-Randy. Und dann die andere, lauter: »Hallo?« Sie klingen so nah, dass ich vermute, sie stehen jetzt unmittelbar vor der Schwingtür. Wir sind höchstens fünf, sechs Meter links von ihnen, mit dem Rücken zu den Salatdressing-Regalen. Das hier ist die Zielgerade, sage ich mir. Die Zielgerade eines Spiels, das schon zu lange dauert.
Ich höre ihre Schritte und ein Rascheln. Die Schritte kommen in unsere Richtung. Ich strecke den Arm aus, damit Brennan sich nicht bewegt. Mein Unterarm drückt gegen seine Brust, und ich spüre sein nervöses Atmen.
Die beiden Männer gehen langsam an uns vorbei Richtung Außenwand des Ladens. Für einige Sekunden ist bloß freier Raum zwischen uns, dann verschwinden sie hinter einem Regal mit Nüssen. Gleich darauf sind die Männer da, wo ich die Kartoffeln gefunden habe. Ihre leiser werdenden Schritte verraten mir, dass sie auf dem Weg in den vorderen Teil des Supermarktes sind. Vermutlich wollen sie die Gänge systematisch absuchen. Ich winke Brennan, mir zu folgen, und schleiche um die Ecke herum zu der Schwingtür.
Knirsch. Direkt unter meinem Fuß. Ich bin auf irgendetwas getreten. Laut. Brennan und ich erstarren. Die Schritte weiter vorn im Laden stoppen, und dann poltern sie plötzlich in unsere Richtung.
Angst und Flucht, Instinkte stärker als die Vernunft. Ich rufe: »Los!«, und stoße Brennan durch die Schwingtür. Wir rennen zu dem Büro, in das wir eingestiegen sind, und ich knalle die Tür hinter uns zu. Zitternd taste ich nach der Verriegelung, kann sie aber nicht finden. Brennan schiebt den Schreibtisch unters Fenster.
Ein jäher Stoß gegen die Tür drückt mich weg. Adrenalin durchströmt mich, und ich werfe mich gegen die Tür, knalle sie zu. Dann ist Brennan bei mir und hilft.
»Die Verriegelung!«, sage ich.
Er findet den Hebel und lässt ihn einrasten. »Meinst du, das hält?«, fragt er. Wir stemmen uns beide gegen die vibrierende Tür.
»Keine Ahnung.« Ich schaue zum Fenster. Ich bezweifele, dass wir es beide nach draußen schaffen, ehe die Männer die Tür aufbrechen.
Das Hämmern gegen die Tür erstirbt. Brennan und ich stehen reglos da.
»Wir wollen bloß reden«, sagt Nicht-Randy.
»Ja, klar!«, ruft Brennan.
»Sei still«, sage ich zu ihm.
Durchs Fenster kann ich sehen, dass der Himmel hell wird. Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Ich weiß nicht, warum die Männer hier sind, ich weiß nur, dass sie überwältigt werden sollen. Ich glaube nicht, dass sie uns was tun, aber sie könnten unsere Ausrüstung stehlen oder uns fesseln oder im Kühlraum einsperren. Sie könnten uns auf vielfache Weise aufhalten, und darauf habe ich keine Lust.
»Hört mal«, rufe ich. »Wir haben nichts, was ihr gebrauchen könnt. Wenn ihr was zu essen wollt, der Laden ist voll mit Lebensmitteln. Lasst uns einfach in Ruhe.«
»Zu essen gibt es überall«, sagt Nicht-Randy.
»Was wollt ihr dann?«, fragt Brennan.
»Wie ich gesagt habe, mit euch reden. Mein Bruder und ich, wir sind allein, seit die ganze Scheiße angefangen hat. Wir wohnen hier in der Nähe.«
»Was sollen wir machen?«, flüstert Brennan mir zu.
Mir fällt nichts anderes ein, als den Mann auf der anderen Seite der Tür am Reden zu halten und von hier zu verschwinden. Ich sehe mich in dem grauen, verschwommenen Raum um.
Der Schreibtischstuhl. In Filmen klemmen sie immer Stühle unter Türknäufe, und das hält den Bösewicht so lange auf, dass der Held entkommen kann. Ich signalisiere Brennan mit einem erhobenen Finger, dass er den Mund halten und warten soll.
So leise ich kann, trete ich von der Tür weg. Der Schreibtischstuhl liegt ein paar Schritte entfernt auf der Seite. Mit angehaltenem Atem hebe ich ihn auf. Er schabt über den Boden, aber Nicht-Randy, der noch immer redet, übertönt mit seiner Stimme das Geräusch. »Wie viele seid ihr?«, fragt er. »Seid ihr verwandt, wie wir?« Ich stelle den Stuhl vor die Tür und klemme die Rückenlehne unter den Knauf. Ich habe keine Ahnung, ob das halten wird. »Wart ihr krank? Mein Bruder ja, aber er ist wieder gesund geworden. Ich selbst hab es nicht gekriegt, was immer das war. Die haben die ganze Gegend evakuiert, und wir sollten auch weg. Aber wir sind doch hier zu Hause. Ihr wisst, was ich meine, ihr seid ja auch noch da. Aber viele sind wir nicht mehr.« Ich nicke Richtung Fenster, und Brennan schleicht sich von der Tür weg. Ich signalisiere ihm, dass er als Erster rausklettern soll, und er steigt auf den Metallschreibtisch. Nicht-Randy redet noch immer. »Hier auf der Straße waren drei Typen, totale Spinner. Einen von ihnen hab ich gekannt, und der wollte unbedingt, dass wir uns ihnen anschließen. Haben wir aber nicht. Die waren echt verrückt – haben dauernd was von Eindringlingen gefaselt. Die drei und mein Bruder und ich, ich glaub, wir waren die Einzigen im ganzen County, die noch geblieben sind.« Brennan steht jetzt auf dem Schreibtisch, die Hände am Fensterrahmen. Er zieht sich hoch und schiebt sich durch, Füße zuerst. Ich sehe, wie er verschwindet. »Die sind nicht mehr da, tot oder abgehauen, keine Ahnung«, sagt Nicht-Randy. »Seitdem sind wir –«
Klatschende Geräusche, Schläge, ein Kampf draußen vor dem Fenster. Brennan, der mit gedämpfter Stimme ruft: »Mae!«
Dann eine tiefere Stimme, ein Schrei: »Cliff!«
Scheiße, denke ich. Deshalb hat Nicht-Randy ununterbrochen geredet, damit sein Partner sich unbemerkt nach draußen schleichen konnte.
Die Tür hinter mir fliegt krachend auf, der nutzlose Stuhl rutscht gegen die Wand. Nicht-Randy tritt ein. Er ist ein bärtiger Hüne. Ich bin zwischen ihm und dem Schreibtisch gefangen. Der Mann draußen kämpft immer noch laut mit Brennan.
»Hier drin ist nur eine einzelne Frau!«, brüllt Nicht-Randy – Cliff. Er tritt auf mich zu. Er ist jetzt ganz nah, ungefähr einen Kopf größer als ich. Ich kann sein Gesicht erkennen: dicklich und unscheinbar. Sein Bart ist rotblond.
Draußen wird es still.
»Harry?«, ruft Cliff.
»Alles in Ordnung«, erwidert sein Partner. »War bloß ein junger Bursche.«
Brennan hat den Kürzeren gezogen.
Cliff streckt eine Hand aus und berührt mich am Arm. »Keine Angst«, sagt er. »Ab jetzt können wir uns um euch kümmern.«
Seine Arroganz, die Faulheit des Drehbuchschreibers, der ihm diesen Text verpasst hat, macht mich wütend. Aber was soll ich machen? Dieser Schrank von einem Mann versperrt mir den Weg zur Tür, und sein angeblicher Bruder ist direkt draußen vor dem Fenster.
Ich sage, was das Drehbuch verlangt. »Ich komme gut allein klar.«
»Schon gut«, sagt Cliff. Seine Hand ist jetzt auf meiner Schulter. Einen Mann von dieser Größe auf den Arm zu schlagen würde gar nichts nützen. Er würde höchstens sauer werden, und ich kenne die Regeln. Ich darf ihn nirgendwohin schlagen, wo es was bringt. »Wir können euch in Sicherheit bringen«, fügt er hinzu. Sein Atem stinkt so schlimm wie eine Leichenattrappe.
Scheiß auf die Regeln.
Ich verpasse dem Mann einen Haken direkt aufs Kinn. Ich lege alle Kraft, die ich aufbringen kann, in den Schlag, das Ergebnis von jahrelangen Kardiokickbox-Kursen. Ich drehe meinen Körper in die Bewegung, hebe die Ferse vom Boden, ramme ihm meine Knöchel ins Gesicht. Schmerz explodiert in meiner Faust, als der Mann benommen nach hinten taumelt.
Ich gebe ihm keine Chance, zurückzuschlagen. Ich stürme an ihm vorbei, zur Tür hinaus und den Flur hinunter, durch die Schwingtür und in den nächstbesten Gang. Ich stolpere, falle der Länge nach hin, rappele mich wieder auf die Beine, höre Cliff fluchend hinter mir herlaufen. Die Schwingtür fliegt krachend hinter mir auf.
Ich sprinte Richtung Notausgang. Ich höre den Mann hinter mir, aber ich werde es schaffen. Ich werfe mich mit der Schulter gegen die Verriegelungsstange und stoße die Tür auf. Ich bin frei, ich bin draußen, ich –
Der zweite Mann steht vor mir, lächelt im Licht der Morgendämmerung. Er ist kleiner als Cliff, aber immer noch größer als ich. Und er hat eine Machete in der Hand.
Er hechtet auf mich zu, aber ohne das Messer zu heben. Ich weiche nach hinten, stürze wieder und falle auf meinen Rucksack. Ich kippe zur Seite, und dann ist Cliff da und reißt mich hoch. Mein Kopf schnellt so fest nach hinten, dass meine Sehnerven flimmern.
Wütende Energie überkommt mich. Ich kämpfe. Ich trete, ich kratze. Ich beiße. Ich will diesen Mann töten. Ich höre Kreischen, und ich begreife vage, dass es meine Stimme ist, dann springt Cliff erschrocken zurück. Ich schmecke Blut, meins, seins, ich weiß es nicht, eine metallische Flüssigkeit im Mund. Meine rechte Hand pocht, und ich kann die Faust nicht öffnen.
Cliff steht vorgebeugt da, hält sich die blutende Nase. Ich muss den Hass in seinen Augen nicht sehen, um zu wissen, dass er da ist. Nicht-Cooper schaut zu, lässt die Machete locker vor und zurück schwingen.
»Verdammt nochmal, Harry«, sagt Cliff zu ihm. »Steh doch nicht einfach so rum!«
»Die ist verrückt«, sagt Harry. »Die rühr ich nicht an.«
Ich sehe kein Rot an der Klinge, aber das bedeutet nicht, dass keins dran ist. Ich muss zu Brennan, ich muss mich vergewissern, dass ihm nichts passiert ist. Er ist irgendwo hinter der Ecke. Cliff und Harry stehen zwischen uns.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, frage ich, um Zeit zu schinden.
»Der Kleine ist okay«, sagt Harry. Die Machete schwingt weiter vor und zurück.
Cliff richtet sich zu voller Größe auf, eine Hand noch immer an der blutenden Nase. Ich sehe, dass auch seine Hand blutet. Plötzlich durchzuckt mich die Erkenntnis, was der metallische Geschmack in meinem Mund noch bedeutet. Ich bin disqualifiziert. Garantiert. Ich habe diesen Mann nicht nur geschlagen, ich habe ihn gebissen. So fest, dass er blutet.
Cliff macht einen Schritt auf mich zu. »Hör mal«, sagt er. »Ich versteh das. Du hast viel durchgemacht. Wie wir alle.«
Wieso stoppen sie ihn nicht? Stoppen mich nicht?
Ich bleibe in angespannter Lauerstellung, als Cliff noch einen Schritt näher kommt. Jetzt merke ich, dass das Blut in meinem Mund zum großen Teil von einer Wunde an der Innenseite meiner Lippe stammt, die spürbar pochend anschwillt.
Ich habe gegen eine Regel verstoßen, und nichts passiert.
Vielleicht machen sie eine Ausnahme. Liegt vielleicht ein besonderer Umstand vor, wie bei Heather, als sie Randy geschlagen hat, ohne dass das Konsequenzen hatte? Sie war provoziert worden, und ihr wurde vergeben. Mir wird offenbar auch vergeben. Weil Konflikte sich gut im Fernsehen machen, und das ist das Einzige, was die Produzenten interessiert.
Konflikte – und das Unerwartete.
»Okay«, sage ich. »Ich komme mit euch.«
Cliff stutzt und sieht Harry an. Ganz offensichtlich kaufen sie es mir nicht ab, dass ich auf einmal nachgebe. Das sollten sie auch nicht, aber ich muss sie dazu bringen.
»Ich glaube, ich hab mir die Hand gebrochen«, sage ich und lasse den Schmerz zu. Ich lasse auch meinen ganzen Frust zu. Ich beginne zu zittern und muss an meinen Mann denken. Daran, wie sehr ich mich danach sehne, wieder zu Hause zu sein, wie weit ich gekommen bin und was ich alles gesehen und getan habe. Ich denke an die blaue Hütte, an die Botschaft, die dort für mich lag. Ich greife auf eines der einfachsten Mittel zurück, die mir zur Verfügung stehen – Tränen. Ich spüre, wie sie mir übers Gesicht rinnen; ich schmecke ihr Salz.
Cliff entspannt sich augenblicklich. Er streckt versöhnlich die Hände aus.
»Ich will zu meinem Freund«, sage ich.
»Komm mit«, sagt Harry. Er geht auf die Ecke des Gebäudes zu, wo das eingeschlagene Fenster ist. Die Machete schwingt lässig an seiner Seite. Cliff nimmt meinen Arm. Ich kann die Wunde in seinem Gesicht sehen, den schon geschwollenen Mundwinkel, das Blut, das von seiner Hand tropft. Er hält mich an sich gedrückt, aber mit lockerem Griff, als wäre ich keine Bedrohung. Ich bin daran gewöhnt, dass man mich für harmlos hält, aber das liegt daran, dass ich ja meistens auch keine Gefahr darstelle. Hat er meine Gegenwehr für ein letztes Aufbäumen weiblicher Wut gehalten, die jetzt verraucht ist? Muss er sich das vielleicht einreden?
Das könnte ich mir zunutze machen.
Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, während Cliff mich um die Ecke des Supermarktes führt.
Brennan liegt ausgestreckt auf dem Asphalt, Gesicht nach oben. Der Zebramusterrucksack lugt hinter seiner Schulter hervor. Ich sehe kein Blut, aber das rote Sweatshirt und seine dunkle Haut könnten durchaus eine Wunde verbergen, die meinen schlechten Augen entgeht. Ich reiße mich von Cliff los. Ich knie mich hin, lege Brennan eine Hand auf die Brust und spüre, dass er noch lebt, noch atmet. Was – ja klar ist. Er tut nur so. Ich weiß, wie diese Szene geplant ist: Er wird im dramatischsten Moment die Augen öffnen. Ich muss diesen Moment bloß herbeiführen.
Unter dem Fenster sehe ich etwas orangesilbern schimmern.
Harry stupst Brennans Bein mit der Schuhspitze an. »Er hat einfach nicht aufgehört«, sagt er. »Ich wusste nicht, was ich sonst machen soll.«
»Ohne ihn gehe ich nirgendwohin«, sage ich.
Cliff nickt Harry zu, der daraufhin seine Machete in eine Schlaufe an seinem Gürtel steckt und sich Brennan über die Schulter hievt.
»Ganz schön schwer für so ’nen Hungerhaken«, sagt Harry.
Ich springe von Cliff weg und schnappe mir das verrostete Rohr, das unter dem Fenster liegt. Bevor einer der Männer reagieren kann, schlage ich zu und zertrümmere Harrys Knie. Ich rechne fast damit, dass sich das Rohr verbiegt wie Schaumgummi, aber der Aufprall ist hart, vibriert mir durch Arme und Schultern. Harry fällt mit einem Aufschrei hin und lässt Brennan los, der seinen Sturz wider Erwarten nicht abdämpft. Er ist wie ein nasser Sack.
»Scheiße«, sage ich.
Harry reißt die Machete aus der Gürtelschlaufe, und ich schlage sie ihm mit dem Rohr aus der Hand. Die lange Klinge schlittert über den Asphalt. Ich meine, Brennan stöhnen zu hören, aber ich bin mir nicht sicher, und dann stürzt Cliff auf mich zu. Ich springe zur Seite – zu spät. Seine Arme umschlingen meine Taille und reißen mich zu Boden. Ich verliere das Rohr, als ich mit dem Kinn auf dem Asphalt aufschlage, mir klappern die Zähne, ich sehe Sterne. Benommen spüre ich, wie ich auf den Rücken gedreht werde, mit meinem Rucksack als dicker Klumpen unter mir. Alles verschwimmt mir vor den Augen, aber ich erkenne Cliffs wütendes Gesicht über mir. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen. Sein Unterarm drückt gegen meine Brust, meine Kehle, hält mich fest.
Ich hätte weglaufen können, zuvor. Ohne Brennan. Ich hätte weglaufen sollen. Warum hab ich es nicht getan?
Cliff faucht sinnlose Drohungen. Was er mir alles antun will. Schmerzen und Demütigungen. Seine Lippen bewegen sich faszinierend langsam zwischen den blutverschmierten blonden Barthaaren. Alles andere ist schnell passiert, aber dieser Augenblick lässt sich Zeit. Ich begreife, dass er mich töten wird. Jeder hat eine Zerreißgrenze, und ich habe seine gefunden. Ich sehe das in seinen grünbraunen Augen, die mir zu nah sind. Ich will mich wehren, aber meine Muskeln gehorchen nicht. Ich nehme meine Umgebung wahr, als würde ich noch ganz benommen aus einem Traum erwachen, ich kann sehen, ich kann hören, aber ich kann mich nicht bewegen. Vielleicht bin ich durch den Sturz gelähmt. Vielleicht ist es am besten, wenn es hier und jetzt zu Ende geht.
Ich schaue weg. Dieser wütende Fremde soll nicht das Letzte sein, was ich sehe. Ich schaue zu den dürren Bäumen hinter dem Müllcontainer, wo ich das Rohr gefunden habe. Mit meinen brillenlosen Augen kann ich mir leicht vormachen, dass es ein schöner Anblick ist. Ich blinzele. Meine Lider sind so langsam, so träge, dass sie das Einzige sind, was ich spüre. Und dann wünsche ich mir etwas. Ich wünsche mir, dass der Produzent im Laufschritt hinter den dürren Bäumen hervorkommt. Oder Cooper oder Emery oder Wallaby oder von mir aus auch einer von den emsigen Praktikanten. Egal wer, Hauptsache, er ist real und schreit Cliff an, dass er aufhören soll. Das ist mein Wunsch, und wie alle wirklich großen Wünsche wird er sich nicht erfüllen, das weiß ich.
Das hier ist nicht Teil der Show.
Nichts hier ist Teil der Show.
Schon seit langem ist gar nichts mehr Teil der Show.
Etwas in mir löst sich, ich spüre ein fast angenehmes Gefühl des Entkrampfens. Ich muss nichts mehr erklären. Ich habe gekämpft. Ich habe gekämpft und mich abgemüht und alles gegeben – und ich bin gescheitert. Es liegt ein gewisser Frieden darin, alles in meiner Macht Stehende getan zu haben, ohne eigene Schuld gescheitert zu sein.
Wenigstens habe ich nicht aufgegeben.
Ein nasses Geräusch, ein Stöhnen. Meine Augen zucken widerwillig zu Cliff zurück. Ein Paar grünbraune Abgründe starren durch mich hindurch. Ich spüre ihn auf mir, aber das Gewicht ist jetzt anders – reine Schwerkraft. Cliffs Mund bewegt sich, schnappt nach Luft. Und dann bricht er zusammen. Sein Kinn fällt auf meine Stirn. Sein blutiger Bart bedeckt meine Augen. Ich müsste eigentlich schreien, aber ich bin nur verwirrt. Ich begreife nicht, wieso er auf einmal tot ist und nicht ich.
Ein Trick, denke ich. Die Show, das ist alles Teil der –
Die Leere und der Schmerz in Cliffs grünbraunen Augen können nicht gespielt sein.
Aber meine Brille ist kaputt, und ich –
Du hast es gesehen.
Ich schließe die Augen. Ich spüre grobes Haar an den Lidern, ich spüre seine lastende Schwere. Ich sehe Brennan schlaff zu Boden fallen. Ich spüre das Rohr, das gegen Harrys Knie knallt, das Knirschen. Ein Schraubstock legt sich mir ums Herz, um die Kehle, als mir schlagartig bewusst wird, was das alles bedeutet, und ich presse die Augen noch fester zu, weil ich sonst nichts tun kann. Aber es ist nicht genug, nichts ist genug, das weiß ich.
Ich lebe, und die Welt ist genau so, wie sie zu sein scheint.
Ich kann nicht atmen. Ich will nicht atmen. Ich muss atmen.
Seit wann? Wann hat sich alles verändert?
Über mir ächzt Brennan, als er versucht, Cliff von mir runterzuziehen. Er ruft den Namen, den er für meinen hält. Das Kinn des Toten rutscht von meinem Gesicht und schlägt dumpf auf den Asphalt.
Eine Attrappe, denke ich verzweifelt, aber ich bin unter etwas gefangen, das weitaus schwerer ist als der Mann auf meiner Brust.
»Mae!«, höre ich. »Mae, sag doch was!«
Der Felsbrocken war aus Styropor.
Das Blut war künstlich.
Die Hütte war blau.
Oder nicht?
Die Hütte war blau, ja, ganz sicher. So viel Hellblau, Ballons und Decken und Geschenkpapier. Das Licht war blau, alles war blau.
Die Innenseiten meiner Lider sprühen Funken. Ich sehe rotes Licht ringsum.
Die Vorhänge waren rot.
Eine orange Vase auf dem Tisch.
Meine Augen lassen sich nicht fest genug schließen. Ich sehe braune Farbe, rote Bordüren.
Ich habe das Kleine sterben lassen.
Ein hustendes, schreiendes Baby in den Armen seiner toten Mutter. Ein Haus, das nicht so blau war, wie ich mich erinnern möchte. Ich habe das Baby gesehen und bin in Panik geraten. Ich bin weggelaufen. Ich habe es sterben lassen.
»Mae«, eine ferne Stimme in meinem Ohr.
Ich wusste es nicht. Woher hätte ich es wissen sollen?
»Mae, bist du verletzt?«
Eine endlose Ewigkeit. Fleckige rosa Wangen, verkrustete Augen, die leicht pulsierende Fontanelle oben auf dem Kopf. In den Schreien war kein statisches Rauschen zu hören, sondern reine Not. Ich ließ die Decke fallen und redete mir ein, dass alles Lüge wäre, aber die einzige Lüge war meine eigene. Ich wusste es.
Ich öffne die Augen. Brennans Gesicht ist dicht vor meinem, und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. Ich blicke an ihm vorbei und sehe die Machete unten aus Cliffs Rücken ragen. Mein Rücken ist kalt. Ich liege in dem schnell abkühlenden Blut des Toten.
»Ich hab ihn getötet«, sage ich. Meine Stimme ist ein Schluchzen, aber ich spüre keine Tränen. Ich spüre das kalte Blut am Rücken, die Trockenheit im Mund, das Pochen in der Stirn. Die Wärme und den Druck von Brennans Hand. Ich schaue wieder in Brennans Gesicht. Es ist hager, aber nicht länglich. Seine Wangen wären eigentlich rund. Noch nicht mal ein Anflug von Bartflaum. Das ist nicht das Gesicht eines Jugendlichen, das ist das Gesicht eines Kindes; er ist ein Kind. Ein Kind, das mir das Leben gerettet hat, das einem erwachsenen Mann eine dreißig Zentimeter lange Klinge in den Rücken gestoßen hat.
»Kannst du dich bewegen?«, fragt er.
Wieso habe ich nicht gesehen, wie jung er ist?
»Mae! Kannst du dich bewegen?«
Mir ist schlecht, und ich bin ein Häufchen Elend, und meine Muskeln sind steif und widersetzen sich, aber ich stelle fest, dass ich sie unter Kontrolle habe. Ich nicke. Brennan hilft mir hoch. Die Kleidung klebt mir am Leib, blutgetränkt. Ich rieche es, rieche frischen Tod.
Ich höre einen leisen Schrei, ein erbärmliches Stöhnen, und da sehe ich, dass Cliffs Finger zucken. Der Mann mit der Machete im Rücken ist nicht tot. Ein Geruch nach Fäkalien steigt mir in die Nase. Was ich da rieche, ist nicht der Tod, sondern Sterben.
Brennans Hand ist an meinem Arm. Er zittert. Wir zittern beide, glaube ich.
Ein schabendes Geräusch hinter uns. Ich drehe mich unsicher um, ziehe Brennan mit.
Harry kommt auf uns zugekrochen, schleift das Bein nach, das ich zertrümmert habe. Ich spüre den Schädel eines Kojoten nachgeben, und ich falle beinahe um, aber der Junge ist da, und ich bleibe auf den Beinen.
Brennan, leise: »Wir müssen hier weg, Mae.«
In Harrys Stimme grollen Drohung und Trauer mit, und Cliffs Stöhnen zu unseren Füßen wird lauter, und sein Kopf bewegt sich, rollt von einer Seite zur anderen. Er ist ein toller Hund, der von einer schlecht aufgestellten Falle verstümmelt wurde. Er ist ein Kojote, und ich dresche noch immer auf ihn ein.
Harry ruft irgendetwas. Ich höre die Tränen für seinen Bruder. Er robbt sich näher, eine rhythmische, verschwommene Kontur.
»Mae.« Brennans Arm umfasst meine Taille, und ich lasse es zu, weil ich mich ungeheuer wackelig auf den Beinen fühle.
»Stopp!«, brüllt Harry. Wir bleiben stehen, weil das Wort einmal etwas bedeutet hat, alles bedeutet hat. Ich wünsche mir, dass Harry schwungvoll aufspringt, Cliffs Hand nimmt und ihn auf die Beine zieht, dass die beiden sich verbeugen und »Reingelegt!« rufen.
Wie sehr ich mir das wünsche.
Aber keiner der Brüder kann aufstehen, und Harry weiß anscheinend nicht, was er sagen soll. Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass wir stehen bleiben. Er starrt uns bloß an, und Gedanken an die Show drängen sich immer wieder in mein Bewusstsein, obwohl ich weiß, dass sie falsch sind, und die Schreie eines Babys hallen mir durch den Kopf.
Harry starrt uns weiter an – oder vielleicht seinen Bruder, ich kann seine Augen nicht sehen –, und ich höre Cliffs flatterndes Atmen, während sein Körper um jede weitere Sekunde Existenz kämpft, trotz der Schmerzen, trotz des unabwendbaren Endes. Sich an ein nutzloses Leben klammert, wie der menschliche Körper es nun einmal tut.
Während ich seinem Röcheln lausche, trifft mich plötzlich die Erkenntnis wie ein Messerstoß ins Herz.
Mein Mann.
Wenn. Dann.
Der Ausgang dieses logischen Rätsels ist unausweichlich.
Harry hat sich auf sein unversehrtes Knie gehievt. Er greift nach einem Einkaufswagen und zieht sich daran hoch. Der Kraftakt mit dem aufgehenden Licht im Hintergrund wirkt inszeniert, und ich will, dass er inszeniert ist. Der Himmel ist unglaublich hell. Ich suche nach einer Drohne. Dann setzt die Erkenntnis wieder ein, schnell und niederschmetternd, und Brennan zieht stärker an meinem Arm, will losgehen. Mein einziger Gedanke ist, dass ich ja vielleicht wieder falschliege, weil ich möchte, dass es so ist, und ich gerate völlig in Verwirrung und weiß nicht, welchen Erinnerungen ich trauen kann. Ich suche nach irgendetwas Konkretem und denke plötzlich an den Linseneintopf. Ich habe ihn gekocht, ich weiß, dass ich ihn gekocht habe, er ist im Supermarkt, und für einen Moment ist die Existenz dieses halbvollen Topfes das Einzige in meiner jüngsten Erinnerung, von dem ich weiß, dass es real ist.
Ich habe plötzlich den absurden Impuls, Harry und Cliff den Linseneintopf anzubieten, als könnte ich dadurch, dass ich das einzige Wahrhaftige mit ihnen teile, die Welt ungeschehen machen und mich nach Hause befördern. Ich wäre wieder bei meinem Mann, und er wäre am Leben, und ich wäre wieder die, die ich vorher war, und der letzte Monat wäre nicht mal mehr ein Traum, nicht mal ein Gedanke – er wäre nie geschehen. Doch plötzlich beginnt Cliff zu schreien, und in dem Schrei liegt etwas Flüssiges, ein Gurgeln wie von Blut oder Galle. Harry macht einen Schritt auf uns zu, fällt dann wieder zu Boden und landet neben seinem Bruder. Meine Kehle ist gelähmt, ich kann nichts sagen, und Brennan übernimmt die Führung. Wir wenden uns von den hilflosen Brüdern ab und humpeln zusammen auf die Straße zu, in die einzige Richtung, in die ich gehen kann.