4.

»Die Regeln für eure erste Challenge sind einfach«, sagt der Moderator im gleißenden Nachmittagslicht auf der Wiese. »Ihr habt jeder ein Bandana und einen Kompass in den euch zugewiesenen Farben. Für die Dauer dieses Abenteuers wird alles, was speziell für euch bestimmt ist, mit diesen Farben markiert sein. Und zwar angefangen mit«, er dreht sich um und zeigt auf eine Reihe von kurzen farbigen Stöcken, die auf der Wiese verteilt sind, »denen da.«

»Stöcke?«, fragt Asia-Girl leise in die Runde. »Wozu sollen die sein?«

Der Moderator bedeutet ihr zu schweigen, strafft die Schultern und fährt fort: »Mit Hilfe eures Kompasses sollt ihr zu einer Reihe von Kontrollpunkten finden und schließlich zu einer Box, die ein Päckchen enthält. Öffnet das Päckchen nicht.« Er lächelt und lässt den Blick über die aufgereihten Kandidaten wandern, hakt dann die Daumen in die Hosentaschen und nimmt eine lässige Haltung ein, die signalisiert, dass er etwas weiß, was die Kandidaten nicht wissen. Was er natürlich auch tut. Als Moderator hat er das Privileg, vieles zu wissen, was sie nicht wissen. »Sucht eure Farben und nehmt eure Plätze ein«, sagt er.

Die Kellnerin hält den Kompass bereits in der Hand, ebenso wie zwei andere: Tracker und Zoo-Girl. Zoo hat ihren Kompass nicht gebraucht, um zum Sammelpunkt zu gelangen, aber sie hat ihn trotzdem aus dem Rucksack geholt, sobald der Dreh anfing. Sie hat dabei gelächelt, und sie hat gelächelt, als sie losging, den Kompass unnötigerweise in der Hand, und in nord-nordöstlicher Richtung dem Pfad folgte, der sie, wie ihr gesagt wurde, zur ersten Challenge führen würde. Sie lächelt noch immer, als sie wieder auf den Farbpunkt am Kompass blickt, der ihr gleich aufgefallen ist – babyblau. Genau dieses ungezwungene Lächeln macht Zoo-Girl so beliebt bei ihren Kollegen und den Studenten in dem Wildschutzgebiet und Tierpflegezentrum, wo sie arbeitet – kein richtiger Zoo, aber so was Ähnliches. Die Produzenten gehen davon aus, dass dieses ungezwungene Lächeln sie auch bei den Zuschauern beliebt machen wird.

Zoo sieht ihren Stock: Ihre Schritte beschleunigen sich, sie hüpft fast. Vor einigen Monaten hat sie einen Orientierungskurs belegt. Sie weiß, dass man Magnetnadel und Orientierungspfeil aufeinander ausrichten und den Kompass dicht vor die Brust halten muss. Sie weiß, dass sie ihren ersten Schritt als »und« und ihren zweiten Schritt als »eins« zählen muss. Sie denkt, dass es Spaß machen wird, ihre Kenntnisse anzuwenden. Bisher ist die ganze Sache ein großer Spaß. Sie beeilt sich, will ihre Anweisungen möglichst schnell aus einer Plastiktüte neben dem blauen Stock holen.

Ein schlaksiger junger Mann mit welligem rotbraunen Haar läuft ihr in den Weg. »Entschuldigung«, sagt Cheerleader in einem bissigen Ton, der sein Unbehagen verrät. Er hasst die Wildnis, hasst es, dass die Farbe des Bandanas, das wie ein Einstecktuch aus seiner Hemdtasche lugt, Pink ist. Er hat sich für die Show beworben, weil er mit einer Kommilitonin aus seinem Cheerleader-Team gewettet hat. Aber eigentlich sollte sie hier mitmachen – sie ist Flyer im Team und der mutigste Mensch, den er kennt. Cheerleader hat nicht damit gerechnet, ausgewählt zu werden, und das Angebot nur deshalb angenommen, weil er keine bessere Alternative für die Semesterferien hatte – und weil er die Chance, eine Million Dollar zu gewinnen, ja wohl unmöglich ablehnen konnte, auch wenn die Chance minimal ist. Als ihm klar wurde, dass die Dreharbeiten erst Mitte August anfangen würden und er ein Freisemester würde nehmen müssen, hatte er sich bereits vertraglich verpflichtet.

Die Macher der Show sind einhellig der Meinung, dass der feindselige Ton, den Cheerleader gegenüber der freundlichsten Kandidatin angeschlagen hat, hervorragend in die Rolle einführt, die sie ihm zugedacht haben: der tuntige Typ, der in dieser Umgebung so deplatziert wirkt, dass er eher zur Karikatur eines Mannes wird. Darauf angesprochen, wird der leitende Produzent argumentieren, dass sie einfach nur der Story gefolgt seien, die diese Eröffnungsszene vermittelte. Das ist natürlich Augenwischerei: Sie haben diese Einstellung ausgesucht, diesen Moment, dieses kurze Aufblitzen einer der vielen charakterlichen Facetten des jungen Mannes. Er hätte vieles sein können – ängstlich, hilfsbereit, neugierig –, doch stattdessen ist er jetzt ein Arsch.

An einem orangen Stock nicht weit von Cheerleader ist Bio angekommen, die Biologin, die ihr Bandana als Stirnband trägt, mit dem Knoten seitlich, über einem Ohr. Auch Bio ist homosexuell – na bitte, ist doch fair, werden sie sagen: Ihr dürft ihr die Daumen drücken. Aber Bio, die an einer kleinen staatlichen Schule Naturwissenschaften unterrichtet, ist die Art von Lesbe, die niemandem Angst macht: gute Figur, feminin, keine, die ihre sexuelle Orientierung demonstrativ zeigt. Sie hat lange, dunkle Korkenzieherlocken, und ihre milchkaffeebraune Haut ist gut gepflegt. Sie trägt häufig Kleider zur Arbeit und ist stets geschmackvoll geschminkt. Sollte ein Heteromann sie sich mit einer anderen Frau vorstellen, dann wahrscheinlich mit ihm zusammen als flotten Dreier.

Air Force tritt an einen dunkelblauen Stock zwischen Bio und Cheerleader. Er mustert Bio von oben bis unten und sieht dann zu, wie Cheerleader seufzt und versucht, sich die Nervosität aus den Fingern zu schütteln. Schon seit Jahren müssen Schwule beim Militär ihre sexuelle Orientierung nicht mehr verheimlichen, und Air Force geht nicht selbstverständlich davon aus, dass Cheerleader über keinerlei Fähigkeiten verfügt, die in den kommenden Wochen erforderlich sein werden. Sein erster Gedanke ist sogar: Ich wette, der hat mehr drauf, als man meint.

Die Kandidaten lesen ihre Instruktionen. Der Moderator winkt, damit sie ihn ansehen, während Kameraleute unauffällig Posten beziehen, ohne einander ins Bild zu geraten. Minuten werden zu Sekunden verkürzt. Der Moderator ruft: »Los!«

Tracker fällt in Trab, die Augen auf irgendeinen fernen Punkt gerichtet. Rancher schreitet gemächlich los. Zoo grinst und fängt an, leise vor sich hin zu zählen, während sie den Kompass im rechten Winkel zu ihrem Oberkörper hält. Cheerleader schaut sich um, studiert dann unsicher seine Karte und den Kompass. Die Kellnerin dreht sich um die eigene Achse und sieht kurz Bio an, die mit den Schultern zuckt.

Der Ingenieur beobachtet erst einmal die anderen. Er trägt sein weinrotbraun gemustertes Bandana um den Hals wie Rancher, aber bei diesem schlaksigen, bebrillten jungen Amerikaner chinesischer Abstammung wirkt es ganz anders. Der Ingenieur hat sein Leben lang noch nie überstürzt gehandelt, mit Ausnahme von einigen wenigen Abenden auf dem College, als er nach ausgiebigem Alkoholgenuss aus der Rolle fiel. Einmal ist er nackt über den Campus geflitzt. Es war vier Uhr morgens, und außer dem Freund, der mit ihm gewettet hatte, sahen ihn nur zwei Leute. Ingenieur ist stolz auf diese Erinnerung, auf seine Spontaneität in dem Moment. Er wünschte, er könnte öfter spontan sein. Deshalb ist er hier – eine gründlich durchdachte Entscheidung, sich einer Situation auszusetzen, die Spontaneität verlangen wird. Er will lernen.

Ingenieur sieht sich seine Anweisungen an: eine Reihe von Stichpunkten. »Einhundertachtunddreißig Grad«, sagt er. »Zweiundvierzig Schritte.« Er dreht die Kompassdose, bringt einen kleinen Skalenstrich kurz vor der 140-Grad-Markierung in Übereinstimmung mit einer Linie vorn am Kompass. Er weiß nicht, wie lang ein Schritt sein soll, aber er wird experimentieren, bis er die Antwort kennt, was schnell der Fall sein wird.

Die zwölf Kandidaten verteilen sich wie Gasmoleküle gleichmäßig auf der weiten Fläche der Wiese.

Tracker bleibt an der Baumlinie stehen und späht in die Zweige über ihm, springt dann in die Luft und packt einen kräftigen Ast mit beiden Händen. Er zieht sich hinauf in den Baum. Alle Kandidaten, die gerade in seine Richtung blicken – sieben an der Zahl –, bleiben stehen und schauen zu, doch Zoo und Air Force sind die Einzigen, die das Publikum zu sehen bekommen wird. Zoo macht große Augen, beeindruckt. Air Force runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, weniger beeindruckt.

Tracker lässt sich vom Baum fallen, landet federnd im Gras darunter. In der Hand hält er ein rotes Fähnchen. Er will keine Spur hinterlassen, nicht mal auf der Spur, der er folgen soll. Er richtet sich auf, steckt das Fähnchen in die Tasche, wirft einen Blick auf seine Instruktionen und den Kompass und geht dann in Richtung des zweiten Kontrollpunkts.

Black Doctor tut sich schwer, seinen ersten Kontrollpunkt zu finden. Er macht zweierlei Fehler.

Erster Fehler: Nachdem er den Kompass auf die angegebenen zweiundsechzig Grad eingestellt und sich in die Richtung gedreht hat, blickt er zu Boden und marschiert los. Er will sein Fähnchen nicht übersehen, falls es im hohen Gras versteckt ist. Ein vernünftiger Gedanke von einem vernünftigen Mann. Doch es ist eine erwiesene, wenn auch unerklärliche Tatsache, dass man mit verbundenen Augen nicht in einer geraden Linie gehen kann, und Black Doctor verbindet sich praktisch selbst die Augen, weil er ins Gras starrt. Mit jedem Schritt schwenkt er unmerklich nach rechts, so dass er nach und nach vom Kurs abkommt.

Zweiter Fehler: Er zählt jeden Schritt als einen, statt sich an den Und-eins-und-zwei-Rhythmus zu halten. Als Black Doctor seinen vermeintlichen Kontrollpunkt erreicht, findet er dort bloß Gras und niedriges Gestrüpp. Er bleibt stehen, um die anderen zu beobachten, und sieht, wie Air Force und Rancher ihre Fähnchen finden. Er sieht, dass Zoo ihr Fähnchen findet. Er registriert, dass alle drei am Rand der Wiese fündig geworden sind – er hingegen ist erst in der Mitte. Er orientiert sich neu, richtet die Augen auf einen Baum und marschiert dann schnurstracks darauf zu.

Er wird seine senffarbene Markierung finden, allerdings nicht in dem Baum, auf den er zusteuert, sondern in einem weiter links, und er wird die in seinen Anweisungen für jeden der folgenden Kontrollpunkte angegebene Schrittzahl verdoppeln.

Bio und Asia-Girl werden es auf ähnliche Weise lernen, ebenso wie Ingenieur und zwei Männer, die bislang nur ganz kurz eingeblendet wurden – der Große fällt durch sein rotes Haar auf, der andere hat überhaupt nichts Auffälliges an sich.

Die Kellnerin und Cheerleader werden es nicht lernen. Sie irren auf der Wiese herum und werden immer frustrierter. Viermal kehrt die Kellnerin zu ihrem violetten Stock zurück, stakst dann ungefähr in die richtige Richtung, wobei sie »eins-zwei-drei-vier …« zuerst murmelt, dann brüllt und bei siebenundvierzig stoppt, im Kreis herumgeht und die Hände zum Himmel reckt. Sie hat schon regelrechte Kornkreise ins Gras getreten.

Sie setzt sich hin, und Cheerleader, der auch nicht weiterweiß, verlässt seinen Pfad und geht zu ihr. »Ich glaube, wir machen irgendwas falsch«, sagt er.

»Ach nee?«, schnaubt sie und winkt ihn weg. Cheerleader wirkt wie jemand, den sie im richtigen Leben sympathisch finden könnte, aber hier ist er eindeutig ein Bremsklotz. Sie weiß, dass ihr keiner helfen wird, wenn er in ihrer Nähe ist und auch noch Hilfe braucht.

Der Moderator ist in der Szene auffällig abwesend. Man hat ihm gesagt, er soll sich im Hintergrund halten. Er starrt auf sein Handy, weil er eine E-Mail von seinem Agenten erwartet.

Tracker ist bei seinem vierten Fähnchen angekommen und liegt in Führung. Air Force, Rancher und Zoo haben jeweils drei gefunden. Bio steht unter ihrem zweiten und sucht und sucht und lächelt dann, als sie es entdeckt.

Erfolge werden rasch abgehandelt. In der Auftaktfolge muss viel rübergebracht werden, und Erfolge sind nicht das, was die Zuschauer sehen wollen.

Ingenieur stolpert, kann sich gerade noch an einem Baum festhalten, und ein Zweig klatscht ihm ins Gesicht. Er zuckt zurück und reibt sich die schmerzende Stelle.

Nach dreiundzwanzig Minuten – oder, je nach Perspektive, acht, einschließlich Werbeunterbrechung – findet Tracker seine rote Box. Er öffnet sie, sieht das rote Päckchen und einen Zettel. Er liest den Zettel bloß zur Bestätigung. Den Zielpunkt der Challenge folgert er aus dem Pfad der Kontrollpunkte: Zwei Minuten später betritt er zum zweiten Mal die Wiese.

Die Kellnerin und Cheerleader sehen ihn, und im ersten Moment ist Tracker überrascht. Er kann nicht fassen, dass die zwei ihn geschlagen haben. Dann sagt Cheerleader: »Das gibt’s doch wohl nicht«, und Tracker begreift, das sie die Wiese noch gar nicht verlassen haben.

»Gut gemacht«, sagt der Moderator und tritt aus dem Off wieder vor die Kamera. Er schüttelt Tracker die Hand. »Du erhältst deine Belohnung, wenn alle wieder da sind. Im Moment hast du die Wahl: Du kannst dich entspannen, oder du kannst anderen helfen, die ein Problem haben.« Er deutet mit dem Kopf Richtung Kellnerin und Cheerleader. Die Kellnerin wirkt resigniert, und Cheerleader ist wütend vor lauter Frust.

»Ähm«, sagt Tracker, der das erste Mal vor laufender Kamera etwas von sich gibt seit den Interviews vor dem Dreh. Er will seinen Konkurrenten nicht helfen, aber die beiden sehen so jämmerlich aus, dass er sich nicht vorstellen kann, wie sie ihm je gefährlich werden könnten. »Zählt zwei Schritte als einen und haltet den Kompass flach vor euch«, rät er ihnen, denn er kennt sich mit Anfängerfehlern aus. »Und schaut geradeaus, nicht auf eure Füße.«

Die Kellnerin reißt die Augen auf, als würde sie dieser Tipp ehrlich total umhauen. Cheerleader läuft zu seinem pinken Stock.

Air Force betritt die Wiese. Gut dreißig Meter zu seiner Rechten und nur wenige Sekunden nach ihm taucht Zoo auf. Beide haben ihre farbige Box in der Hand, zwei sich duellierende Blautöne.

»Wer als Erster bei mir ist!«, ruft der Moderator den beiden zu. Zoo und Air Force sprinten los.

Air Force geht mühelos in Führung, doch dann tritt er mit dem rechten Fuß in eine Mulde und fällt in eine Art humpelnden Laufschritt, weil er schmerzhaft mit dem Knöchel umgeknickt ist. Er wird langsamer, um den Fuß zu schonen. Zoo bekommt davon nichts mit, rennt in vollem Tempo weiter. Sie erreicht den Moderator mit großem Vorsprung vor Air Force.

»Ich hab’s!«, ruft die Kellnerin am anderen Ende der Wiese. Einen Moment später hat auch Cheerleader sein erstes Fähnchen gefunden.

»Die beiden fangen jetzt erst an?«, keucht Zoo und schiebt sich die Brille höher auf die Nase. Tracker nickt und taxiert sie. Sie sieht ziemlich fit aus. Vielleicht eine Konkurrentin. Er hat bemerkt, dass Air Force auf einmal hinkt, und auch wenn er ihn noch nicht abgeschrieben hat, so stuft er ihn doch als nicht mehr ganz so gefährlich ein.

Der Taschensender von Zoos Mikro drückt ihr nach dem Spurt unangenehm ins Kreuz. Sie rückt ihn zurecht und fragt dann Air Force: »Alles klar?«

Air Force knurrt, dass es ihm gutgeht. Der Moderator überlegt, ob er einen Sanitäter rufen soll. Air Force hat offensichtlich Schmerzen, die er aber genauso offensichtlich zu ignorieren versucht. Und er ist noch auf den Beinen. Der Moderator hat Anweisung, nur in Notfällen medizinische Hilfe anzufordern. Das hier, so befindet er, ist kein Notfall. Er erklärt Zoo und Air Force überflüssigerweise, dass sie die Challenge als Zweite und Dritter bestanden haben, und steht dann einfach da und wartet auf die anderen, während die ersten drei sich einander vorstellen und Smalltalk machen, der nicht gesendet werden wird. Zoo redet am meisten.

Rancher trifft als Nächster ein. An seinem rechten Sporn ist ein Eichenblatt aufgespießt. Kurz darauf folgt Bio. Fünf Minuten später kommt Ingenieur und dann Black Doctor, der verblüfft blinzelnd auf die Wiese schaut. Er hat nicht gemerkt, dass die Anweisungen ihn geschickt in einem großen Kreis geführt haben. Asia-Girl und der rothaarige Mann rennen für den achten Platz um die Wette.

Der Rothaarige gewinnt und stützt die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. Er trägt schlichte Outdoorkleidung und hat sich sein giftgrünes Bandana knapp über dem Ellbogen um den Arm gebunden wie einen Venenstauer. Aber seine Schuhe sehen gothicmäßig aus, und an seinem Hals baumelt an einer Kette ein schweres goldenes Kreuz neben seinem Kompass. Die Kamera zoomt auf das Kreuz, und dann kommt ein vorproduziertes Interview, weil die aktuelle Szene nicht wiedergeben kann, wie der Mann tickt.

Er trägt ein Gewand, das aussieht wie ein schwarzer Absolvententalar – es ist tatsächlich einer – mit einem angenähten weißen Kragen. Sein kupferrotes Haar ist gegelt und lockt sich nach oben wie Flammen. »Es gibt drei Symptome für Dämonenbesessenheit«, sagt der Exorzist. Seine Tenorstimme klingt kratzig und überheblich. Er sticht mit dem Zeigefinger Richtung Decke und fährt fort: »Unnatürliche Körperkraft – wenn zum Beispiel ein kleines Mädchen einen SUV umkippt, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.« Ein zweiter Finger schnellt hoch, gesellt sich zu dem ersten. »Jemand versteht plötzlich Sprachen, die er nie gelernt hat. Latein, Swahili, egal was.« Drei Finger. »Oder jemand weiß Dinge, die er eigentlich nicht wissen kann … den Namen einer fremden Person oder was in einem Safe liegt, dessen Inhalt ihm unbekannt sein müsste.« Er lässt die Hand sinken, greift sich in den Halsausschnitt seines Talars und zieht das goldene Kreuz heraus. »Eine Aversion gegen Sakrales versteht sich natürlich von selbst. Ich habe schon erlebt, wie Haut bei der Berührung mit dem Kreuz anfing zu qualmen.« Er reibt mit dem Daumen zärtlich über das Amulett. »Ich bin kein offizieller Exorzist, bloß ein Laie, der mit den ihm gegebenen Möglichkeiten sein Bestes tut. Nach meiner Berechnung habe ich drei echte Dämonen aus der Welt der Sterblichen vertrieben, und ich habe etwa zwei Dutzend Leuten, die glaubten, besessen zu sein, dabei geholfen, innere Dämonen loszuwerden, die eher metaphorischer Art waren.« Er lächelt, und da ist irgendetwas in seinen Augen – manche werden denken, dass er selbst nicht glaubt, was er da erzählt, dass er eine Rolle spielt; andere werden denken, er ist komplett wahnsinnig, und einige wenige werden in der von ihm projizierten Realität ihre eigene erkennen.

»Es ist meine Berufung«, sagt er.

Auf der Wiese schnauft Exorzist, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und richtet seinen Oberkörper wieder auf. Er sieht jetzt eigentlich ganz normal aus, aber er ist als die Wildcard gecastet worden, als derjenige, dessen Allüren nötigenfalls Leerstellen füllen können, und um die Geduld der anderen Kandidaten auf die Probe zu stellen. Er weiß das, hat das akzeptiert. Er baut darauf, dass den Zuschauern die spezielle Art von Verrücktheit, die er am besten kann, gefallen wird. Seine Einzigartigkeit wird den anderen Kandidaten in ungefähr einer Stunde offenbart werden, und jedem einzelnen von ihnen wird ein Gedanke kommen – ein fast identischer Gedanke, der in die Richtung geht: Wie lange muss ich mit diesem Spinner zusammen im Wald bleiben?

Einige Minuten nach dem großen Auftritt von Exorzist wird Banker vorgestellt, der als letzter der Teilnehmer seine Nahaufnahme bekommt. Er hat mausbraune Augen und Haare und eine Nase wie die des Moderators, nur größer. Sein schwarzweißes Bandana ist ein breites, schiefsitzendes Stirnband. Banker ist als Lückenfüller gecastet worden; schon allein sein Beruf bedeutet, dass die meisten Zuschauer gegen ihn sein werden, weil sie denken, dass er das Geld nicht braucht, es nicht verdient, dass seine Teilnahme an der Show die unermessliche Gier beweist, die für seine Branche typisch ist. Er ist ein Schwindler, ein Parasit, der skrupellose Spekulant.

Man mag Banker in diese Schublade stecken, aber er passt nicht hinein. Er ist als ältester Sohn in einer jüdischen Mittelschichtsfamilie aufgewachsen. Viele Gleichaltrige verbrachten ihre Jugend benebelt von Marihuana und Apathie, Banker dagegen rackerte sich ab. Er lernte fleißig, schaffte es auf eine Elite-Uni. Die Firma, bei der er seit seinem BWL-Studium beschäftigt ist, hat die Krise gut überstanden, war nicht ursächlich daran beteiligt. Sie verdoppelt die Summe, die Banker für wohltätige Zwecke spendet, überhaupt jede Summe, die ihre Mitarbeiter für wohltätige Zwecke spenden, und das nicht bloß aus steuerlichen Gründen. Der Banker hat es satt, seinen Beruf verteidigen zu müssen. Er hat sich eine Auszeit genommen, weil er die Herausforderung sucht, weil er Neues lernen möchte und endlich mal Ruhe haben will vor dem antielitären Zorn der Leute, die angeblich wollen, dass ihre Kinder auf die besten Schulen gehen und lohnende Berufe ergreifen können, aber zugleich jeden ablehnen, der genau das schafft.

Achtundzwanzig Echtzeitminuten nach Bankers Zieleinlauf kommt die Kellnerin zurück auf die Wiese. Der Moderator döst unter einem Sonnenschirm. Die meisten Kandidaten plaudern gelangweilt und schwitzend in der Sonne. Sie nehmen die Ankunft der Kellnerin halbherzig zur Kenntnis. »Ich hab mir das aufregender vorgestellt«, sagt Asia-Girl. »Ich auch«, pflichtet Bio bei. Tracker hat die Augen geschlossen, doch er hört zu. Etwa fünf Minuten später kommt Cheerleader mit seiner pinken Box auf die Wiese getrottet. Niemand begrüßt ihn. Sogar die Kellnerin hat das Gefühl, schon eine Ewigkeit zu warten.

Der Produzent am Set weckt den Moderator, der sein Hemd glattstreicht, mit einer Hand durch sein Haar fährt und sich dann ernst vor den Kandidaten aufbaut, die still in der Reihenfolge ihres Zieleinlaufs Aufstellung bezogen haben. »Die Nacht naht«, sagt der Moderator, eine Aussage, die Tracker verwunderlich findet; er hat ein gutes Zeitgefühl und spürt, dass es erst drei Uhr ist.

Der Moderator fährt fort: »Es wird Zeit, über eure Ausrüstung zu reden. In der Wildnis sind drei Dinge überlebenswichtig: Wetterschutz, Wasser und Nahrung. Jeder von euch hat jetzt ein Päckchen mit dem Symbol für eins dieser drei Dinge.« Nacheinander werden für die Fernsehzuschauer Piktogramme von einem Zelt – wie ein großes A, aber ohne Querstrich –, einem Wassertropfen und einer Gabel mit vier Zinken eingeblendet. »Die Spielregeln sind einfach: Ihr könnt euer Päckchen entweder behalten oder gegen ein anderes eintauschen, ohne zu wissen, was drin ist. Mit Ausnahme unseres Siegers«, sagt der Moderator und deutet auf Tracker, »der drei Päckchen öffnen darf, ehe er sich entscheidet. Und unseres Verlierers«, er sieht Cheerleader an, »der gar keine Wahl haben wird.« Sozusagen eine Art Schrottwichteln, nur dass das Leben eines Kandidaten oder einer Kandidatin davon abhängen könnte, welches Päckchen er oder sie auswählt – zumindest wollen die Produzenten den Zuschauern das weismachen. Das wird zwar niemand glauben, aber zumindest in einem Fall wird es sich ironischerweise bewahrheiten.

»Außerdem bekommt unser Gewinner noch einen weiteren Bonus«, sagt der Moderator, nimmt eine gefaltete silbern-rote Thermodecke von einem Tisch – wie ist die dahin gekommen?, der namenlose Praktikant huscht davon – und reicht sie Tracker. »Die gehört dir, Eintauschen verboten. Fangen wir an.«

Tracker packt die folgenden Dinge aus: Zoos Jodtabletten; Black Doctors Trinkflaschen der Marke Nalgene (zwei, gefüllt); Ingenieurs Notfall-Angelset. Er nimmt die Trinkflaschen und tritt sein Päckchen mit dem Wetterschutzsymbol an Black Doctor ab, der den Tausch gutmütig hinnimmt. Black Doctor hat Angst vor Krankheitskeimen. Er will die Jodtabletten, die ihm erheblich mehr Trinkwasser liefern würden als nur zwei Liter.

Zoo ist als Nächste dran. Sie entscheidet sich für Exorzists kleines Päckchen mit dem Wetterschutzsymbol. Der flapsige Ton, mit dem sie das tut, erweckt den Anschein, als wäre ihre Wahl willkürlich, aber weit gefehlt. Sie vermutet – richtigerweise –, dass die meisten anderen sich auf Nahrung und Wasser konzentrieren werden. Sie weiß, wie man Wasser reinigt, und vermutet – erneut richtigerweise –, dass es noch andere Gelegenheiten geben wird, sich Nahrung zu verschaffen. Niemand wird ihr den eingetauschten, noch verpackten Feueranzünder wegnehmen, den sie jetzt in der Hand hält.

Air Force ist überzeugt, dass er mit der Ausrüstung, die jeder Teilnehmer bereits hat, überleben kann: ein Kompass, ein Messer, eine Ein-Liter-Trinkflasche, ein Erste-Hilfe-Set, ein Bandana in der jeweils zugewiesenen Farbe und eine Jacke nach eigener Wahl. Er behält seine dunkelblaue Box mit dem Gabelpiktogramm. Rancher sichert sich das mit dem Wassertropfen markierte Päckchen der Kellnerin. Asia-Girl nimmt Air Force das Nahrungspäckchen ab, obwohl ihr eigenes ebenso groß ist und auch ein Gabelsymbol hat – Flirtverhalten, schlicht und ergreifend. Ingenieur behält bescheiden sein Angelset und überlegt, was er alles damit bauen könnte. Black Doctor heimst mit gieriger Freude die Jodtabletten ein, was keinen interessiert. Exorzist nimmt die beiden Trinkflaschen von Tracker und gibt ihm dessen ursprüngliches, ungeöffnetes Päckchen zurück. Tracker hat jetzt eine Decke und ein Geheimnis. Bio behält ihr Nahrungspäckchen. Banker tauscht sein dreieckiges Wasserpäckchen gegen die gefüllten Flaschen aus. Die Kellnerin ist an der Reihe, und sie ist durstig. Auch sie schnappt sich die Trinkflaschen und gibt Banker ihr Wetterschutzpäckchen im Taschenformat. Cheerleader bleibt auf dem Päckchen sitzen, mit dem er die Wiese betreten hat. Es ist flach und rechteckig und knistert, wenn er drauf drückt. Er fragt sich, ob es eine weitere Thermodecke ist. Falls ja, dann ist sie dünner als die andere.

All das auf dreißig Sekunden komprimiert. Gemein, denken die Zuschauer, die tatsächlich denken. Die Kandidaten, die als Erste das Ziel erreichten, wurden im Grunde benachteiligt, und die Zweitletzte konnte sich das Beste aussuchen.

Keine Sorge, die Überraschung kommt noch.

Die Kandidaten werden angewiesen, ihre Päckchen auszupacken. Zoo stößt ein begeistertes »Ja!« aus, als sie ihren Feueranzünder sieht. Asia-Girl lächelt; sie hat einen Zwölferpack Schokoriegel. Rancher nickt gleichgültig beim Anblick einer kleinen Metalltasse mit Klapphenkel. Cheerleader entfährt ein erschöpfter Fluch angesichts seines kleinen Stapels schwarzer Mülltüten. Air Force betrachtet achselzuckend eine Packung gefriergetrockneten Kohl. Bio dreht einen ihrer Proteinriegel mit Cookie-Dough-Geschmack um und liest skeptisch die lange Liste der Inhaltsstoffe. Die Kellnerin schielt ihr über die Schulter und fragt: »Sind die glutenfrei?« Bio zieht die Augenbrauen hoch, aber Exorzist kommt ihrer Antwort mit einem keckernden Lachen zuvor. Er hält eine dreigabelige Wünschelrute in den Händen, hebt sie hoch und schwingt sie durch die Luft. Er blickt den Fernsehzuschauern direkt in die Augen und sagt: »Wie passend.« Die anderen elf Teilnehmer schaudern, deutlich sichtbar und unisono.

Die Wünschelrute hat ursprünglich Banker gehabt. Er hat in dem Päckchen eine Steinschleuder vermutet, doch jetzt begreift er, wenngleich dieser Seitenhieb hintersinniger ist als die meisten anderen. Er deutet mit dem Kinn auf die Wünschelrute, schüttelt dann die Schachtel wasserfeste Streichhölzer, die er gerade ausgepackt hat. »Ich bin mit denen hier zufrieden«, sagt er.

Der Moderator tritt mitten ins Bild. »Wie ihr wisst, müsst ihr letztlich alle euer eigenes Lager bauen und allein überleben«, sagt er, »aber heute Abend sind Gruppenlager vorgesehen, und morgen findet eine Team-Challenge statt. Die Teamauswahl treffen unsere ersten drei Gewinner. Captains, eure Teammitglieder bringen die Utensilien mit, die sie derzeit haben und die ihnen auch morgen wieder gehören werden, aber heute Abend gehören sie euch.« Er hält inne, um die Bedeutung des Gesagten sacken zu lassen, und führt dann mit einem trägen Lächeln weiter aus: »Kandidaten, wenn euer Captain etwas von euren Utensilien benutzen, essen oder trinken will, dürft ihr nicht nein sagen.«

»No way«, sagt die Kellnerin. Die Kamera zoomt auf ihr schockiertes Gesicht – es ist ihr Wasser, sie will nichts davon abgeben.

Tracker, Zoo und Air Force treten vor und wählen nacheinander ihre Teams aus. Trackers erste Wahl verwirrt: Rancher und seine Metalltasse. Eine Metalltasse, wo er Wasser oder Streichhölzer oder die Jodtabletten haben könnte? Das muss erklärt werden. Später wird man Tracker allein vor der Kamera die Frage stellen. Die Antwort darauf wird den Zuschauern jetzt schon geboten: »Ich kann den Geschmack von Jod nicht ausstehen. Ich koche mein Trinkwasser lieber ab.«

Zoo entscheidet sich für Ingenieur und sein Angelset. Eine Erklärung ist nicht nötig: Im Fluss schillern Forellen. Air Force wählt Black Doctor, weil der einen kompetenten Eindruck macht, und so gern er das saubere, klare Wasser der Kellnerin hätte, ihre Unfähigkeit erscheint ihm ein zu hoher Preis. Die Auswahl geht weiter, und schließlich werden dem Publikum die Teams mit ihren Ausrüstungsgegenständen im Untertitel präsentiert.

Team eins: Tracker (Thermodecke, Taschenlampe), Rancher (Metalltasse), Bio (Proteinriegel) und Banker (Streichhölzer).

Team zwei: Zoo (Feueranzünder), Ingenieur (Angelset), die Kellnerin (volle Wasserflaschen) und Asia-Girl (eine Packung Schokoriegel).

Team drei: Air Force (gefriergetrockneter Kohl), Black Doctor (Jodtabletten), Cheerleader (extra starke Mülltüten) und Exorzist (Wünschelrute).

Es sind zu viele Informationen: Nur wenige Zuschauer werden sich merken können, wer was hat. Der Moderator versucht es nicht einmal. Er ist müde, sehnt sich nach einer Pause. »Super«, sagt er. »Euer Standort heute Nacht ist diese Wiese. Ihr könnt hier lagern oder im angrenzenden Wald – ganz wie ihr wollt. Wir sehen uns morgen bei Tagesanbruch, und dann gibt’s eure erste Team-Challenge.« Er nickt feierlich und ruft dann: »Schlagt euer Lager auf.«

Während die drei Gruppen sich verteilen, kreist die Drohne über der Wiese. Bis auf Tracker schauen alle nach oben. Exorzist zwinkert neckisch und legt sich die Wünschelrute über die Schulter. Tracker führt sein Team zum nördlichen Ende der Wiese. Zoo nimmt die westliche und Air Force die östliche Seite. Black Doctor bemerkt, dass sein Teamleiter hinkt, und untersucht dessen Knöchel. »Verstaucht«, diagnostiziert er und zieht los, um einen Ast zu suchen, der sich als Krücke eignet. Vom eigentlichen Aufschlagen der Lager wird wenig gezeigt. Tracker und Air Force verstehen was davon, und nachdem sie die verschiedenen Aufgaben zugeteilt haben, sind die Lager ihrer beiden Teams im Handumdrehen fertig.

Zoo fällt es dagegen schwerer, die Führung zu übernehmen. Ihre erste Anweisung ist eine Frage: »Leute, was haltet ihr davon, wenn wir –«, aber niemand hört ihr zu. Die Kellnerin jammert, dass ihr kalt ist; Asia-Girl schimpft mit ihr: »Du hättest ein Shirt anziehen sollen.« Ingenieur inspiziert sein Angelset: ein Lenkdrachengriff, der statt mit einer Leine mit einer Angelschnur umwickelt ist. Der Griff ist für ein Kind konzipiert und zu klein für eine Männerhand. Drei Haken, zwei Senkbleie, zwei kleine Metalldinger, die Wirbel genannt werden und deren Funktion Ingenieur noch nicht durchschaut. Zoo sieht, wie er ein Stück Schnur abwickelt und ihre Stärke testet. Ihre Frage bleibt unbeendet und unbeantwortet.

Trackers Team hat in wenigen TV-Sekunden, was ungefähr zwanzig Echtzeit-Minuten entspricht, ein Feuer entfacht. Kurz darauf, nach einer Werbepause, hat das Team um Air Force einen Wetterschutz fertig, und Cheerleader stellt verblüfft fest, dass seine Mülltüten wichtig sind, um den flachen Unterschlupf wasserdicht zu machen.

Zoo unternimmt einen neuen Vorstoß. Sie geht neben Ingenieur in die Hocke. »Probier das doch mal aus«, fordert sie ihn auf. »Versuch, ob du damit was angeln kannst.« Ingenieur bemerkt ihr flehendes Lächeln und sieht seine eigene Aufregung darin widergespiegelt. Zoo wendet sich an die anderen. »Ich hab den Anzünder«, sagt sie, »also kümmere ich mich ums Feuer. Könnt ihr beide anfangen, einen Wetterschutz zu bauen?« Asia-Girl winkt die Kellnerin weg und sagt: »Lass mich mal machen.« Nach der Aufforderung, aktiv zu werden, offenbart Asia-Girl eine erweiterte Identität: Asia-Schreiner-Girl. Offensichtlich ein Holz-Profi, baut sie den Unterschlupf gekonnt zusammen. Obwohl sie keine Nägel hat und die einzelnen Teile nicht abgemessen sind, macht die Konstruktion einen stabilen Eindruck. Mehr noch, sie mutet sogar schön an, denn das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt, Symmetrisches als schön anzusehen. Selbst der zynische Produzent, dessen Schönheitsempfinden vertrocknet ist wie eine ausgedörrte Zitrone, muss anerkennen, dass der schlanke, symmetrische Unterschlupf einen gewissen idyllischen Reiz besitzt. Die Identität der Figur verengt sich, ein charakteristisches Merkmal wird zugunsten eines anderen abgestreift, und aus Asia-Girl wird Schreiner-Girl.

Zum Abendessen verteilt Tracker Bios Proteinriegel an die Teammitglieder – einen für jeden. Bio scheint nichts dagegen zu haben, und in diesem Fall spiegelt der Schein die Wirklichkeit wider. Die Riegel sind tatsächlich glutenfrei, enthalten aber einen Süßstoff, von dem ihr leicht schlecht wird. Sie isst nur deshalb einen Riegel, weil Übelkeit ein klein wenig besser ist als Hunger. Tracker beauftragt Rancher, ihren Unterschlupf fertigzubauen, und trabt davon, verschwindet im Wald wie ein Gespenst. Ein sehr schnelles Gespenst, der Kameramann kann nicht mithalten. Aufnahmegeräte, die alle dreißig Meter auf Bäumen montiert sind, fangen in kurzen Szenen ein, wie Tracker Stöcke zurechtschneidet und eine Reihe von kleinen Schlagfallen aufstellt. Er hofft, über Nacht etwas zum Frühstück zu fangen. Auch er mag die Proteinriegel nicht; er findet, sie schmecken künstlich.

Am Fluss bindet Ingenieur einen Haken an die Schnur und nimmt einen Wurm, den er unter einem Stein findet, als Köder. Kaum landet der Wurm im Wasser, ist er auch schon wieder verloren. Ingenieur holt ein Senkblei und einen von den Wirbeln aus seiner Tasche, schneidet den Haken ab, bindet den Wirbel an die Schnur. Befestigt Haken und Senkblei daran. Es sieht für ihn nicht richtig aus, Gewicht und Haken so eng zusammen, aber er probiert es trotzdem.

Als der Unterschlupf längst gebaut ist und die Sonne schon untergeht, findet Zoo ihn am Ufer, wo er noch immer sein Glück versucht, noch immer rumprobiert. Jetzt liegt zwischen Wirbel und Haken ein gutes Stück Schnur. »Wow«, sagt sie. »Du hast ja echt was daraus gemacht, womit man angeln kann.«

Ingenieur spürt Stolz in sich aufsteigen. Seine Fingerknöchel sind von dem zu engen Kinderdrachengriff wundgescheuert. »Ich glaube, die nächste Variable, die korrigiert werden muss, ist der Köder.«

»Gute Idee. Aber lieber morgen, sonst finden wir nicht mehr zurück zum Lager.«

Ihr Team begnügt sich mit dem Traumabendessen eines Kindes: so viel Schokolade, wie sie vertragen können, und dann noch mehr hinterher.

Am Ostrand der Wiese fügt Air Force seinem Kohl wieder Wasser zu und teilt ihn mit den anderen, und dann hinkt er mit Hilfe seiner Krücke in den Wald, um ein paar Schlagfallen aufzustellen. So was hat er seit der Grundausbildung nicht mehr gemacht. Black Doctor folgt ihm, um zu lernen, wie das geht. »Wenn wir die Angelschnur hätten, könnten wir Schlingenfallen bauen«, sagt Air Force zu ihm. »Nächstes Mal«, antwortet Black Doctor. Die Fallen von Air Force werden nicht funktionieren, aber ihr Bau ist nicht vergeblich; unsere erste Allianz bildet sich.

Die Nacht senkt sich über die Lagerplätze. Alle sind mehr oder weniger erschöpft, doch die Kellnerin am meisten. Ihr ist seit Stunden kalt, trotz der dünnen Lycra-Jacke über ihrem Sporttop. Sie hat sich am Feuer zusammengerollt, weil ihr die Vorstellung unangenehm ist, mit den anderen ihres Teams Körperwärme auszutauschen. »Hier drin ist es wärmer«, sagt Zoo, die sich in ihre Fleecejacke eingemummelt hat. Die Kellnerin schüttelt den Kopf. Ein Kameramann beobachtet sie, filmt ihr Unbehagen und würde ihr gern seine sehr viel wärmere Jacke leihen. Als die Kellnerin sich mit dem Rücken näher ans Feuer schiebt, ruft er ihr fast eine Warnung zu, damit sie sich nicht das Haar verbrennt, doch da zieht sie es sich schon von allein über die Schulter. Die Kellnerin ist verunsichert. Sie möchte, dass der Kameramann etwas sagt oder geht. Sie weiß, sie sollte reden, nicht mit ihm, aber mit den anderen ihres Teams oder wenigstens mit sich selbst, aber sie friert zu sehr, ist zu müde. Die Nacht wird dunkler. Der Kameramann hat Feierabend. Er zieht sich zurück in das wesentlich komfortablere Camp des Produktionsteams auf einer zweiten Wiese eine Viertelmeile südlich. Dort haben sie Zelte und Grills. Kühlboxen randvoll mit Fleisch und Milch und Bier. Moskitonetze. Die Kameraleute, die den beiden anderen zwei Teams zugeteilt sind, machen gleichfalls Feierabend. Fest installierte Kameras beobachten die Kandidaten weiter.

Diesen Kameras ist es egal, dass die Kellnerin friert oder dass Air Force einen schmerzhaft pochenden Knöchel hat. Sie zeichnen auf, dass Rancher aus dem Unterschlupf kriecht, weil er pinkeln muss, und dass die Kellnerin fortwährend vor Kälte zittert, aber ihnen entgeht mehr, als sie aufzeichnen. Ihnen entgeht, dass Banker anbietet, Bio seine dicke Jacke als Kopfkissen zur Verfügung zu stellen, und dass sich sein Gesicht erleichtert entspannt, als sie höflich ablehnt. Ihnen entgeht, dass Zoo, Ingenieur und Schreiner-Girl sich gegenseitig erzählen, wo sie herkommen und was sie machen, flüsternd, wie Gutenachtgeschichten. Ihnen entgeht, dass Exorzist, der sich in eine Ecke des Wetterschutzes seines Teams verkrochen hat, ein lautloses, aber aufrichtiges Gebet spricht.

Die meiste Zeit zeichnen sie erlöschende Lagerfeuer auf.