Kapitel 4
Jene, die aufs engste mit Phase Eins verhaftet waren, schliefen, als Zainal und Kris im Morgengrauen leise ihr Quartier verließen.
Eine müde Köchin hatte ihren Stuhl nach hinten gegen die Wand gekippt und den Kopf auf die linke Seite fallenlassen, um sich so gut wie möglich auszuruhen. Männer und Frauen an einem weit entfernten Tisch waren in eine erregte Unterhaltung vertieft und tauschten alle möglichen schriftlichen Unterlagen aus.
Obgleich Zainal und Kris die Messe ausgesprochen leise betreten hatten, beendete ihr Erscheinen sofort die Diskussion. Fast jeder Kopf drehte sich in ihre Richtung, um nachzusehen, wer hereingekommen war.
»Zainal! Kris!« Peter Easley erhob sich halb von seinem Platz und winkte sie heran. »Holen Sie sich etwas zu essen und zu trinken und machen Sie mit, okay?«
Die Köchin schlief weiter und schnarchte leise, daher bedienten Kris und Zainal sich selbst von dem Essen, das in den Pfannen warmgehalten wurde, und nahmen sich Tee aus der Kanne. Kris erkannte nicht nur Scott und die meisten Militärs vom Vortag, sondern auch andere, die offenbar zu dieser Konferenz aus anderen Lagern herbestellt worden waren.
»Da haben Sie etwas in Gang gesetzt, Zainal«, sagte Peter, erhob sich und machte für Zainal Platz, während er für Kris und sich selbst Stühle von einem Nebentisch holte.
»Phase Zwei?« fragte Zainal, ließ sich nieder und betrachtete den Wust von Karten und Listen, der den Tisch bedeckte. Er trank von seinem Tee.
»Na klar doch«, sagte Easley, während mehrere Männer am anderen Ende des Tisches ihre unterbrochene Debatte fortsetzten. »Ich habe Mitford beim dritten Mondaufgang ins Bett geschickt. Er konnte die Augen nicht mehr offenhalten.«
»Wie schaffen Sie das denn?« fragte Kris.
»Ach, ich habe vor der Wachablösung ein paar Stunden geschlafen.« Easley zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Sie war einigermaßen beruhigt, obgleich sie bisher in Easley trotz aller Hilfe, die er Mitford während der Abwürfe geleistet hatte, nicht einen Ersatz für den Sergeant gesehen hatte.
»Wir haben herausbekommen, daß eine große Zahl der Abgeworfenen eine militärische Ausbildung absolviert hat, und mehr als genug haben in ihren Heimatländern Kommando-, SAS- oder ähnliche Schulungen absolviert, so daß wir aus dem Vollen schöpfen können, um Phase Zwei zu einem erfolgreichen Unternehmen zu machen«, erklärte Easley mit leiser Stimme. »Was wir jetzt brauchen, sind Informationen von Ihnen darüber …«
»Welche Waffen sich an Bord des Scout-Schiffs befinden«, fiel Scott ihm ins Wort, »wie es im Innern des Transportschiffs aussieht und welche Waffen der Gegner besitzt, damit wir unsere Leute entsprechend ausbilden können.«
Zainal nahm einen Schluck von dem heißen Getränk in seiner Tasse und verlangte ein Stück Papier und einen Schreiber.
»Was ist mit einem Frühstück vorher?« fragte Kris in bissigem Ton, während sie einen Löffel Haferbrei aus ihrer Schüssel aß. »Armee … und Marine funktionieren bestimmt viel besser, wenn sie satt sind.«
»Miss Bjornsen …«, begann Scott betont höflich.
»Vergessen Sie’s«, sagte Zainal mit sehr leiser Stimme, aber er bedachte Scott mit einem kurzen warnenden Blick, ehe er damit begann, die Umrisse eines Transportschüfe aufzuzeichnen. Dabei trank er gelegentlich von seinem Tee. »Zwanzig Leute Mannschaft, nur Drassi mit Waffen. Andere haben Nervenpeitschen …« Zainal schaute Scott lange an. »Sie kennen Nervenpeitschen?«
Scott nickte langsam, und es freute Kris sehr, als sie erkannte, daß er zumindest ein höchst intimes Erlebnis mit diesem Überredungsmittel gehabt zu haben schien.
»Die Crew trägt sie auf dem Rücken.« Zainal demonstrierte, wie die Peitsche an einem Griff befestigt war und wie man sich das Gerät auf den Rücken schnallte. »Die Leute sind bewußtlos kein Problem.« Er zeichnete den Brückenbereich, die Mannschaftsquartiere, wo die Besatzungsmitglieder genauso dicht zusammengepfercht zu schlafen schienen wie ihre unfreiwilligen Passagiere. Dann skizzierte er den Maschinenraum, die Luftaufbereitungsanlage und andere wichtige Bereiche des Transportschiffs, inklusive der Frachträume, die nicht mit Sauerstoff versorgt wurden. Übrig blieb ein freier Mittelteil, in den Zainal nun eine Reihe paralleler Linien einzeichnete.
»Schläfer brauchen nicht viel Platz. Erstes Deck leer, entfernen, nach oben schieben, zweites Deck leer …«
»Wir lagen da drin wie die Sardinen«, berichtete Easley und erschauerte. »Womit schaffen sie es, uns in einen scheintoten Zustand zu versetzen?«
»Schlafen?« flüsterte Kris, denn sie wußte, daß Zainal dieses Wort kannte.
»Das tun nur Eosi. Nicht einmal Emassi kennen die Bestandteile«, antwortete Zainal mit einem gleichgültigen Achselzucken.
»Demnach müssen wir die Wachen ausschalten, dort hindurchstürmen, um die Brücke zu sichern …«
Kris erkannte die Stimme nicht, konnte auch den leichten Akzent nicht identifizieren, viel weniger noch den langen, nicht-weißen Finger, der die eingezeichnete Linie entlanggefahren war, und schaute hoch. Der schlanke Mann hatte sich zwischen Scott und Fetterman gedrängt. Er grinste sie an und tippte gegen eine imaginäre Hutkrempe.
»Hassan Moussa, ehemaliger Angehöriger der israelischen Streitkräfte«, stellte er sich vor.
»Nein.« Zainal schüttelte den Kopf. »Zuerst werden sie ausgeladen, dann bringen wir keine Leben in Gefahr. Sie werden nicht mit Angriff rechnen. Nach dem Abwurf sind sie müde. Wir betäuben alle, die draußen sind. Das reicht vielleicht schon. Dann …« Zainal grinste Moussa an, »stürmen wir zur Brücke und überraschen Drassi.«
Moussa war nicht der einzige, der sich über Zainals Vorschlag amüsierte, die Catteni das Schiff erst entladen zu lassen.
»Ich habe die zuverlässige Information, daß nicht jeder mit besonderer Vorsicht ausgeladen wird«, bemerkte Ainger, der Engländer.
»Ich werde natürlich alles beobachten«, versprach Zainal.
»Hey, Moment mal«, sagte Kris, und sie war nicht die einzige, die die Gefahr in dieser Absicht erkannte.
»Nicht wenn die Catteni versucht haben, Sie zu entführen …«, widersprach Rastancil stirnrunzelnd.
»Drassi wissen das nicht«, sagte Zainal, »aber sie gehorchen immer den Befehlen von Emassi.«
Eine offene Debatte entspann sich, und nachdem er ein paar Sekunden lang zugehört hatte, begann Zainal seinen Haferbrei zu essen und ignorierte den Streit.
»Er meint, er wäre ein Opfer der Entführung …«
»Ein Transportschiff wurde losgeschickt, um ihn zu holen, oder etwa nicht?«
»Können wir ihm wirklich vertrauen?«
»Wenn es so einfach ist, ein Transportschiff zu kapern, weshalb hat es dann noch niemand versucht?«
»Sie haben noch nie gesehen, wie jemand sich mit bloßen Händen gegen Nervenpeitschen gewehrt hat, oder?«
»Wenn Drassi und Emassi niemals miteinander verkehren, wer soll ihn dann erkennen?«
»Und das Risiko ist allemal besser als sichere fünfundzwanzig Prozent Verluste.«
Kris identifizierte Leon Danes Stimme. »Wenn Leon im Schatten steht, kann er einen Emassi ganz gut nachmachen«, äußerte sie über die anderen Stimmen hinweg ihren Vorschlag. Das ließ die anderen verstummen. »Sie reagieren auf den Tonfall und nicht auf die Gestalt.«
»Gute Idee«, sagte Zainal und leckte sich die Lippen. »Er klingt wie Emassi. Er könnte … sogar … mich … täuschen.« Und er schickte Kris einen verschmitzten Seitenblick, während er sein Frühstück fortsetzte.
»Wir können uns später noch für eine Strategie entscheiden«, legte Scott fest. »Wenn Sie fertig sind«, meinte er zu Zainal, der tatsächlich soeben seine Schüssel und seine Tasse geleert hatte, »sollten wir noch einmal die zahlenmäßige Stärke der Mannschaft durchgehen.«
»Ein Drassi-Kapitän«, sagte Zainal und zählte an den Fingern auf. »Ein Drassi-Navigator, ein Drassi-Kommunikator, ein Drassi-Ingenieur, vier weitere als Reserve zum Ablösen und zwölf zum Ausladen.«
»Das wären insgesamt zwanzig. Sind alle am Entladen beteiligt?«
Zainal nickte. »Auch Dienstfreie helfen ausladen. Andere ruhen sich dort aus.« Er deutete auf die Brücke. »Es gibt nicht viel Sicherheit«, fügte er hinzu. »Von dort aus« – er legte den Finger auf die Tür –, »kann man alle mit dem Stunner betäuben.«
»Betäuben?« Scotts Gesicht spiegelte Zweifel wider.
»Warum nicht? Tötungswaffen sind schmutzig.«
»Und wurde nicht entschieden«, ergriff Kris nun das Wort, »daß sie wenigstens eine Chance zum Weglaufen haben?«
»Weshalb?« Die Stimmung am Tisch verhärtete sich.
»Weil wir dann nicht genauso sind wie die Catteni«, sagte John Beverly und erhob seine Stimme über das Stimmengewirr.
»General, ich glaube nicht, daß die Bevölkerung Verständnis für Milde hätte«, sagte Bull Fetterman.
»Weshalb nicht«, sagte Hassan Moussa mit einem listigen Grinsen. »Man könnte eine lustige Jagd veranstalten.«
»Einen Moment, verdammt noch mal.« Kris hatte das Gefühl, als würde ihr gleich das Frühstück hochkommen. »Wir sind keine Catteni. Wir sind Menschen …«
»Sie können als Kriegsverbrecher bestraft werden«, sagte Moussa immer noch grinsend und wartete auf Zainals Reaktion, doch der Catteni konzentrierte sich ausschließlich auf die Fertigstellung seiner Zeichnung und achtete nicht auf den moralischen Disput.
»Wir können das Lager abstimmen lassen«, schlug Yuri Palit vor und erhob sich am anderen Ende des Tisches.
»Die Voraussetzung ist aber immer noch, daß wir uns erst mal das Transportschiff sichern wollen«, sagte Beverly.
»Einen Augenblick, General …«
»Beverly, wir können niemals zwanzig Leute überwältigen …«
»Ein Referendum!«
»Jeder muß sich darüber im klaren sein …«
»Diese Kerle sind Mörder …«
»Wir brauchen nicht genauso zu handeln …«
Kris stand vom Tisch auf und nahm ihr und Zainals Geschirr mit, ehe ihr das Frühstück von diesem haßerfüllten Gerede tatsächlich hochkam. Sie verstand, sagte sie sich, als sie mit dem Geschirr zu den Spülbecken ging, sehr gut, daß sie sich an den Catteni rächen wollten, aber ein solches Gemetzel hätte Menschen nicht besser aussehen lassen als Catteni, und außerdem würde es diese neue Welt und ihren neuen Anfang vergiften und mit all dem Haß und den Vorurteilen belasten, die in fast jedem zu schlummern schienen und nur abgebaut werden konnten, indem man sich ein fremdrassiges Opfer suchte, an dem man sich schadlos hielt.
Fast hätte sie das Geschirr einfach ins Spülbecken geworfen, aber sie bemerkte die immer noch schlafende Köchin und ließ die Schüsseln und Tassen daher behutsam ins warme Spülwasser gleiten. Wenn es nicht zu umgehen war, könnte sie wahrscheinlich auch einen Catteni mit bloßer Hand töten. Es hatte ihr nichts ausgemacht, als Fek und Slav die Entführer getötet hatten, aber sie hatten es ganz bestimmt nicht kaltblütig getan -sie hatten eine schreckliche Angst gehabt, daß man ihren Schwindel aufgedeckt und Zainal mitgenommen hatte. Alle Argumente verschleierten den wahren Sachverhalt. Allein das Prinzip war wichtig. Viel mehr noch hier auf Botany als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in ihrem Leben … selbst in dem Moment, als sie hatte befürchten müssen, von dem Catteni auf Barevi vergewaltigt zu werden.
»Kris!« Zainals Stimme hatte nicht sehr laut geklungen. Er stand am Ausgang und winkte ihr. Die ›Strategen‹ waren derart in ihre Diskussion über Ehre, Gesetz, Prinzipientreue und Integrität vertieft, daß sein Abgang von niemandem bemerkt worden war. Bis auf Easley und Rastancil, die auf ihn zueilten.
»Zainal?« In Easleys ruhiger Stimme lag ein schuldbewußter Ausdruck, und Rastancils Miene war bedrückt.
»Wir schauen nach, welche Waffen und anderer nützlicher Schrott im Scout zu finden ist«, sagte Zainal. »Das ist der nächste Schritt der Vorbereitung für Phase Zwei.« Er ging als erster hinaus, drehte sich dann um und wartete auf Kris, Easley und Rastancil. »Sie sind vernünftige Männer«, fügte er hinzu.
Er marschierte mit einem derartigen Tempo los, daß sogar der langbeinige Easley Schwierigkeiten hatte mitzuhalten. Abrupt blieb er stehen, als vor dem frühmorgendlichen Himmel die Umrisse des Hangars zu erkennen waren, die, wie Kris erkannte, sehr sonderbar erschienen. Zainal räusperte sich knapp und setzte seinen Weg fort.
»Was haben die denn damit angestellt?« fragte Kris, obgleich sie die Antwort zu kennen glaubte.
»Mitford hat den Vorschlag gemacht, die Scheune ein wenig zu tarnen«, sagte Easley. »Nur für den Fall, daß irgend jemand sich hier zu neugierig umschaut. Alles, was sie von oben sehen, sind Metallbrocken. Das Dach trägt deren Gewicht. Die Techniker haben sich davon überzeugt.«
Sie hatten kaum die kleine Besuchertür geöffnet, als eine schattenhafte Gestalt aufsprang und sie ansprach. Die Stimme Vic Yowells war unverkennbar. Er hatte sogar eine Lanze wurfbereit in der Faust. »Wer ist da?«
»Zainal, Kris, Easley und Rastancil«, sagte Zainal, der die Frage durchaus ernst genommen hatte.
»Oh«, seufzte Vic erleichtert. »Ständig kommen irgendwelche Leute her«, schimpfte er. »Und ich habe das Schiff noch nicht mal gesehen, als es gelandet war …« Er schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich möchte ein Schloß an dieser verdammten Tür.«
»Niemand kommt in das Schiff rein, Vic«, versicherte Kris.
»Das habe ich denen auch schon erklärt, aber sie wollten es sich dann wenigstens von außen ansehen, wenn sie schon nicht hinein konnten.«
»Schlafen Sie sich erst einmal aus, Vic«, schlug Easley ihm vor. »Wir brauchen Sie später, und ich finde es gut, wenn Sie hier die Kontrolle übernehmen.«
Vic raffte seine Decke und seine Matratze zusammen und verließ grinsend den Hangar.
»Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals die Chance bekäme, irgend etwas zu landen. Ich möchte nicht, daß es vielleicht beschädigt wird.«
Rastancil gab ihm einen freundlichen Klaps auf den Rücken, als er an ihm vorbeikam, und als Vic die Tür hinter sich geschlossen hatte, war der Hangar wieder dunkel. Rastancil stieß einen Fluch aus, doch Easley knipste eine Taschenlampe an. Kris erkannte sie als eine der Lampen, die bei den Leichen der Entführer geborgen worden waren.
»Sie sind aber schnell«, sagte sie grinsend zu Easley.
»Kriegsbeute sollte auch benutzt werden«, erwiderte er. Kris fragte sich, ob dieser Mann jemals aus dem Konzept gebracht werden konnte. Die ganze Nacht hatte er mit ziemlich engstirnigen Typen herumdiskutiert, und sein Gleichmut schien nicht im mindesten gelitten zu haben.
»Sind Sie immer so?« fragte Kris.
»Wie meinen Sie?«
Sie konnte im Lichtschein sein unschuldiges Grinsen sehen.
»Zainal nennt sie Lamettaschädel«, fügte sie hinzu, da er ihre Frage nicht beantwortete.
»Lamettaschädel?« Er kicherte. »Tatsächlich, das sind sie wirklich.«
»Mein Gott, ich schaffe es noch nicht mal, Sie dazu zu bringen, daß Sie auf einen Scherz eingehen.«
»Oh, ich kann auch lustig sein, Miss Bjornsen. Glauben Sie mir, das kann ich.«
Die Luke wurde geöffnet, und im Schiff flammten Lichter auf und entlockten Easley und Rastancil erstaunte Rufe.
»Lassen Sie nicht zu«, murmelte Easley in Kris’ Ohr, als er den Kopf ein wenig senkte, »daß Zainal die Kontrolle entzogen wird.«
»Er hat nicht vor, sie ihnen zu überlassen«, erwiderte sie flüsternd, während Rastancil lärmend die Leiter ins Schiff hinaufkletterte. Demnach hatte Easley sich entschieden – und zwar für die richtigen Leute –, dachte sie, während sie sich ebenfalls ins Schiff schwang. Vom Luftkissenfahrzeug aus war es einfacher gewesen.
Ein leises Geräusch setzte ein, und Kris spürte, wie frische Luft an ihnen Vorbeistrich.
»Sie verfügen über Ventilation?« fragte Rastancil.
»Die Luft ist … alt«, sagte Zainal. Er machte mit der Hand einen rotierenden Propeller nach. Dann bedeutete er ihnen, sie sollten lieber ins Heck gehen als in die Pilotenkanzel. Sie waren nur ein halbes Dutzend Schritte weit gekommen, als er stehenblieb und an Griffen zog, die in die Wand eingepaßt waren.
Der Schrank, den er geöffnet hatte, war mit einem ganzen Sortiment an Waffen gefüllt, vieles davon war Kris absolut fremd, aber Rastancil stieß einen begeisterten Seufzer aus. Nachdem er sich mit einem Blick von Zainal die Erlaubnis geholt hatte, griff er nach einem gewehrähnlichen Gebilde mit einem dicken Patronenmagazin und einem gedrungenen Lauf. Zainal erklärte ihm jeden Knopf und jeden Schalter. »Sicherung, rot heißt geladen, weiß heißt leer. Erzeugt breiten oder schmalen …« Er schaute zu Kris.
»Kugelregen?« Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger unterschiedliche Abstände an. »Metall? Wunden?« Zainal verringerte den Abstand zwischen den Fingern bis auf einen winzigen Spalt. »Nadel?«
Er nickte.
»Oh, ich habe schon auf der Erde davon gehört. Sie haben giftige Nadeln eingesetzt, als ich mitgenommen wurde. Schlimm.« Rastancil gab die Waffe zurück. »Gibt es auch einschüssige, revolverähnliche Waffen?«
Zainal runzelte die Stirn. Kris formte mit der Hand eine Pistole und gab mit dem Mund ein einzelnes »Peng!« von sich.
»Stunner«, sagte Zainal und deutete auf ein Regal mit acht Waffen. Dann legte er die Hand auf die Waffe daneben, ein langläufiges Modell. »Boden-Luft.« Danach deutete er mit einem Kopfnicken zum Bug. »Die Raumwaffen sind vorne.«
»Was für eine Bewaffnung haben sie?« fragte Rastancil neugierig.
Zainal lachte verhalten. »Raum, Luft-Boden, kleine Satelliten, um Ziele zu markieren. Nicht viel. Es ist schnell und sehr wendig.«
»Demnach vertrauen Sie mehr auf die Geschwindigkeit und die Manövrierfähigkeit des Schiffs als auf seine Artillerie?«
Kris überlegte, welche Worte wohl übersetzt werden müßten, aber Zainal schaute Rastancil aufmerksam an und nickte schließlich. »Ja, Geschwindigkeit und … anderes Wort …« Er schickte Kris einen ratlosen Blick und wedelte mit der Hand und den Fingern.
»Flexibilität?« sagte sie.
»Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Telepathie, Kris?« erkundigte Easley sich.
»Keinen einzigen, aber seit unserem Abwurf bin ich mit Zainal zusammen. Ich weiß, welche Worte er gelernt hat … und er hat ein recht umfangreiches Vokabular«, erzählte Kris, »daher ist diese Suche nach Synonymen zwischen uns eher ein Spiel, mehr nicht.«
Easley kicherte verhalten. »Ich habe den Verdacht, daß er viel mehr Englisch versteht, als die Leute vermuten.«
»Ich habe diesen Verdacht nicht«, erwiderte Kris, und sie meinte es als verkappte Warnung. »Ich weiß es.«
»Das werde ich mir merken.«
Ganz gleich, ob Easley versuchte, sie bei Laune zu halten, Kris spürte deutlich, daß er auf Zainals Seite stand und gerne als Freund betrachtet werden wollte.
Als Zainal schließlich alle anderen Schätze vorgeführt hatte, die der Scout enthielt – wie hochleistungsfähige Ferngläser mit Infrarotsensoren und Nachtsichtfähigkeit; eine Anzahl Komm-Einheiten, Notleuchten, Peilsender, Landkarten und sämtliche Fotos, die er während des Herflugs geschossen hatte, sowie Handkameras, catteni-eigenes Erkundungsgerät, Kompasse, Seile, Rucksäcke, Winter- und Sommerausrüstung, Thermoanzüge und eine Menge andere Dinge, mit denen die Erkundungstrupps weitaus besser ausgestattet wären – summte ihr der Kopf von soviel Information. Mitford würde völlig durchdrehen. Es gab sogar Tauchgerätschaften und zwei Boote, für den Transport zerlegt und sorgfältig verpackt.
»Segel- oder motorgetrieben?« fragte Easley mit neuerwachtem Interesse. Er zeichnete mit einer Hand die Umrisse eines Segels in die Luft und imitierte gleichzeitig mit dem Mund ein Motorengeräusch.
Zainal grinste. »Beides.«
»Das ist ja wie Weihnachten!« rief Kris und hätte am liebsten in die Hände geklatscht.
»Nun, in gewisser Weise ist es so«, gab Easley zu, doch er grinste ebenfalls. »Sie haben mit so wenig soviel erreicht, daher lassen Sie sich durch all das in Ihrem Ideenreichtum nur ja nicht eindämmen. Nicht alles ist achtfach vorhanden.«
»Aber von den Dingen, die wir für Phase Zwei brauchen, sind jeweils acht Exemplare da«, sagte Rastancil nüchtern und deutete auf den Waffenschrank.
Zainal nickte, aber er interessierte sich viel mehr für Kris’ Reaktion auf die Fotos, die er ihr reichte. Sie hatte keine Ahnung, was sie an Bergen und Tälern finden sollte, bis sein Zeigefinger erst auf einen, dann auf einen anderen Punkt deutete.
»Oh, weitere Sackgassen wie das Tal, das wir gefunden haben?«
Er nickte. »Viele sogar.«
»Alle leer?« wollte sie wissen.
Zainal hob die Schultern und lächelte. »Sollen wir nachsehen?«
»Was ist?« erkundigte sich Easley und blickte ihr über die Schulter.
»Unser Erkundungsprojekt«, sagte Kris, ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen.
»Ach, Sacktäler wie das, welches Ihr Trupp entdeckt hat und von dem Mitford erzählte?« Easleys Gesicht drückte seine tiefe Hoffnung aus, daß sie ihm endlich ihr volles Vertrauen schenkten.
»Wird dort etwas fest- oder ferngehalten?« fragte Zainal und lockerte seine Zurückhaltung.
»Ich würde meinen, ferngehalten, wenn man an die nächtlichen Schrecken denkt, die Botany bereithält.« Easley erschauerte ein wenig.
»Haben Sie sie gesehen?«
Er demonstrierte einen Ekel, der wahrscheinlich echt war. »Kein Interesse, aber ich gehe auch nicht … das heißt, ich ging auch nie … in Horrorfilme.«
Rastancil reckte den Kopf, betrachtete die Bilder und nickte anerkennend. »Sehr scharf. Was für eine Kameraausrüstung haben Sie an Bord?«
Zainal lachte. »Das überlasse ich den Experten. Baxter sagt, er war mal Kameramann beim Film. Ich drücke nur auf den Knopf, und nachher …« Er deutete mit einem Kopfnicken auf einen Ausgabeschlitz in der Wand, »kommt das Bild heraus. Zeig sie Mitford, Kris, bitte.«
»Das können wir doch gemeinsam tun«, wandte sie ein.
Zainal schüttelte den Kopf. »Mein Dienst ist heute hier. Beim Vorführen.«
»Führen Sie mich noch ein paarmal herum, Zainal, dann kann ich Sie ablösen«, bot Rastancil an.
»Viele wollen eine Führung«, sagte Zainal mit amüsiertem Ausdruck, daß Rastancil ihn verblüfft musterte. »Ich lerne sehr viel von Kris«, meinte er und legte besitzergreifend einen Arm um ihre Schultern.
»Nun ja, gut«, sagte Rastancil und senkte den Kopf mit einem Ausdruck der Scham, falls ein hoher Militär überhaupt zu einer solchen Regung fähig war. »Es gibt nicht vielleicht ein Verzeichnis aller Ausrüstungsgegenstände an Bord von Baby? Es wäre zwar in Ihrer Sprache abgefaßt, aber wir haben mittlerweile ein paar Leute, die genug Catteni gelernt haben, um es zu lesen.«
»Kommen Sie«, sagte Zainal und winkte Rastancil zu, während er nach vorne zur Pilotenkanzel ging. »Schauen Sie sich gründlich um, Kris, Peter«, fügte er hinzu und deutete auf die anderen Türen an dem schmalen Gang. »Machen Sie sich mit allem vertraut.«
Easley schüttelte verwundert den Kopf. Zainal ging hinter Rastancil her.
»Ein toller Bursche. Ich hätte niemals gedacht, daß ein Catteni so etwas wie Humor haben könnte.«
»Vielleicht hatten sie niemals Gelegenheit, es zu zeigen«, sagte Kris und schob die erste Tür auf. »Pfui! Hier muß schnellstens gelüftet werden. Was für Schweine!« Kleider lagen verstreut auf dem Fußboden und den Kojen herum. Schmutzige Teller und Tassen warteten darauf, gespült zu werden. Ein leerer Bildschirm und eine Fernbedienung waren zu sehen. Easley nahm letztere hoch, legte sie aber gleich wieder zurück, weil er die Beschriftung nicht verstehen konnte. Insgesamt befanden sich vier Kojen im Raum, alle breit genug für Cattenikörper und alle ungemacht und schmuddelig.
Easley warf einen Blick in einen Spind, rümpfte die Nase und schloß ihn schnell wieder. Aber er schaute auch in den anderen Spinden nach. »Einige Ausrüstungsgegenstände könnten für uns nützlich sein. Vor allem die Uniformen für Phase Zwei. Sie müßten nur gewaschen werden.«
Es gab noch zwei weitere Wohnräume, einen mit drei Kojen und einen – offensichtlich das Quartier des Kapitäns – mit einer Koje. Dort fanden sie auch andere Gegenstände, die nur von Kommandopersonal benutzt wurden. Zum Beispiel befanden sich in dem Raum eine Sichtplatte wie die, die Kris auf Barevi gesehen hatte, und ein ganzes Regal voller Scheiben, die zu dem Sichtgerät gehörten. Easley kannte sich damit aus. Er legte eine Scheibe ein und aktivierte das Gerät. Eine Cattenistimme mit monotonem Ausdruck gab einen Kommentar zu dem gedruckten Text auf dem Schirm.
»Nun, sicherlich sehr interessant«, sagte Easley, schaltete das Gerät aus und deponierte die Scheibe wieder an ihrem alten Platz im Regal. »Wo haben sie denn gegessen und sich gewaschen – falls sie das überhaupt getan haben?« Eine der Türen im Abteil des Kapitäns ließ sich aufschieben und gab den Blick auf eine Duschkabine mit einem, wie Kris vermutete, Urinal und einer anderen seltsamen Öffnung frei. Nun, die Catteni hatten in etwa die gleichen Körperfunktionen wie die Menschen. Easley gab einen undefinierbaren Laut von sich, als er über Kris’ Schulter blickte.
Es gab eine andere Zelle, ein Stück den Gang hinunter, in der zwei Benutzer Platz fanden. Die Kombüse befand sich gleich dahinter, fast am Ende des Gangs.
»Wenigstens eine Solokabine«, sagte sie und schaute sich dann die ›Küche‹ und ihre Einrichtung an. Ein Tisch mit gepolsterten Bänken war offenbar der Eßplatz für die Mannschaft, falls sie die Mahlzeiten nicht in ihren Quartieren einnahmen. Aber die Küche war aufgeräumt und sogar sauber. Ach ja, Raisha hatte erwähnt, daß sie an Bord gegessen hätten, daher war sie es wahrscheinlich gewesen, die anschließend für Ordnung gesorgt hatte.
»Ich frage mich nur, was sich dort verbirgt«, sagte Easley nach einem kurzen Blick in die Garderobe und wandte seine Aufmerksamkeit der letzten großen Tür zu, die das Ende des Gangs darstellte. Sie war geschlossen und mit weißen cattenischen Schriftzeichen bedeckt.
»Wenn weiß auf den cattenischen Waffen die Farbe für ›leer‹ ist, könnte das dann auch auf andere Teile der Ausrüstung zutreffen?« fragte Kris.
In dem Augenblick, als Easley seine Hände auf die Schalter legte, erklang ein Alarm.
»Nicht eintreten«, warnte Zainals Stimme aus einem Lautsprecher über ihren Köpfen. »Bitte«, fügte er hinzu.
»Er ist noch nicht ganz assimiliert, nicht wahr?« bemerkte Easley. »Mal sehen, was sie vorhaben. Es sei denn, Sie wollen die Spinde ausräumen. Wir brauchen nämlich möglicherweise saubere Catteni-Uniformen.«
Kris sah ihn streng an. »Das könnte sein, aber ich denke, es würde die Moral unserer Leute stärken, wenn sie mit eigenen Augen sehen könnten, was für Schweine die Catteni sein können.«
»Stimmt!«
»Am liebsten möchte ich ein Verzeichnis all dieser herrlichen Gegenstände anlegen, unter denen, wie ich hoffe, die Scouts als erste auswählen dürfen, was sie brauchen können«, sagte sie und rieb sich die Hände. »Verdammt, ich habe kein Papier.«
»Voila«, sagte Easley und holte einen kleinen Stapel Zettel aus einer Oberschenkeltasche und einen Bleistift aus der Brusttasche.
»Hey, das ist ja fast wie zu Hause. Auch Mitford ist ohne Papier und Bleistift praktisch hilflos.«
»Was meinen Sie denn, wo ich das her habe?«
Grinsend begannen Kris und Easley mit der Inventarisierung ihrer Funde. Sie wurden von einem Klirren an der Einstiegsluke unterbrochen.
»Wer ist da an Bord?« wollte eine ungehaltene Stimme wissen.
»Scott?« rief Easley.
»Mit Fetterman, Reidenbacker und Marrucci«, lautete die Antwort, und die vier Männer kletterten an Bord und drängten sich in den schmalen Durchgang. »Wir haben Sie gar nicht weggehen sehen, Easley.«
Easley lächelte und überging den versteckten Vorwurf. »Ich wollte eine Bestandsaufnahme machen, ehe sich hier das ganze Volk tummelt. Rastancil ist mit Zainal vorne und fertigt einige Ausdrucke an. Ich habe bisher nur sechs Tragegestelle gefunden«, sagte er nun zu Kris und stellte das erste wieder an seinen Platz zurück.
Als sie hörten, wie die Neuankömmlinge nach vorne gingen, grinste Easley Kris an.
»Es hat ganz schön lange gedauert, bis sie uns vermißten, nicht wahr?«
»Ich frage mich«, erwiderte sie, »ob sie zu einer Einigung gefunden haben.«
»Wahrscheinlich nicht. Erst wollen Sie wohl unser neues Baby auf Herz und Nieren untersuchen. Übrigens, die Catteni scheinen wenig von Hygiene zu halten. Bisher habe ich weder Zahnbürsten noch Seife gefunden.«
»Doch, in einer Schublade war so etwas wie eine Waschlotion.«
»Ach ja, in Schublade Nummer neun.«
Wie sich herausstellte, war die Inventur der angenehmste Teil des Tages.