Chief Connor war stinksauer. Er hatte einen gewaltigen öffentlichen Erfolg errungen, und den wollte er sich von niemandem nehmen lassen. Wütend starrte er den soeben zum Lieutenant ernannten Brit Williams an. «Das wird auf keinen Fall geschehen», knurrte der Polizeichef. In der Nacht, in der auf Rauser geschossen worden war, hatte er Williams die Leitung der Mordkommission übertragen.
«Chief Connor», schaltete ich mich ein. Ich stand neben Williams vor dem riesigen Mahagonischreibtisch im Büro des Polizeichefs. «Wortwahl und Tonfall der Textnachricht, die ich erhalten habe, weisen eindeutig auf Wunschknochen hin. Charlie Ramsey ist ein Krimineller, keine Frage. Er muss im Gefängnis bleiben, aber …»
«Und nach allem, was die Stadt durchgemacht hat, erwarten Sie ernsthaft, dass die Polizei diesen Fall wiederaufnimmt, Dr. Street? Mir ist klar, dass Sie ein persönliches Interesse haben. Das erkenne ich an. Auch wir wollen diesen Heckenschützen fassen, genauso wie Sie, und ich habe klar und deutlich gesagt, dass wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen werden, um diesen Verbrecher vor Gericht zu bringen. Aber aufgrund eines Verdachts, für den es nicht den geringsten Beweis gibt, werde ich nicht einen abgeschlossenen Fall wiederaufnehmen. Wir haben in Ramseys Haus eine Waffe gefunden, die positiv auf das Blut von zwei Opfern getestet wurde, eine Waffe, die an jedem Tatort verwendet worden ist. Diese wissenschaftlichen Tests sind zuverlässig. Wir wissen, dass es sich um die Tatwaffe handelt. Sie kam nicht nur an einem Tatort oder an zwei Tatorten zum Einsatz, sondern an allen Tatorten.» Ich sah auf meine Schuhe. «Der Mörder ist in Haft und wartet auf seinen Prozess», tobte der Chief weiter. «Außerdem haben sich vier Frauen gemeldet und ausgesagt, dass er sie angegriffen und vergewaltigt hat. Eine von ihnen wird sogar bezeugen, dass er dünnen Draht als Fessel benutzt hat.»
«Aber das ist doch genau der Punkt. Sie lebt und kann es bezeugen», unterbrach ich ihn. Williams warf mir einen bösen Blick zu. «Chief, keines der Wunschknochen-Opfer ist vergewaltigt worden. In Charlies Haus oder Fahrzeug wurden keine Beweise gefunden, die ihn mit den Morden in Verbindung bringen, abgesehen von einer Faser eines Bodenbelags, der aber in fünfzehn Kfz-Modellen verwendet wird. Sie haben weder Fotos noch Trophäen gefunden und auch keine Blutspuren an seiner Kleidung, in seinem Badezimmer oder in seinem Wagen. Die Beweise, die Sie haben, wie die Faser oder die DNA-Spuren, belasten ihn nur hinsichtlich der Vergewaltigungen. Glauben Sie wirklich, dass dieser höchst intelligente und organisierte Täter an einem Tatort keinerlei Spuren hinterlässt und an einem anderen völlig achtlos ist? Charlie Ramsey passt einfach nicht ins Täterprofil, Chief. Nie und nimmer.»
«Also, erstens», donnerte der Chief. Er war aufgesprungen, sein Gesicht sah erhitzt aus. Connor ist ein großer, kräftiger Mann, und wenn sich seine Wut gegen einen richtet, ist das wie eine körperliche Bedrohung. «Sie wissen nicht, ob irgendwelche Trophäen existieren und ob jemals Fotos gemacht worden sind. Kriminelle sind Lügner, wie Sie genau wissen, Dr. Street, und wenn wir überhaupt einen Hinweis auf Fotos oder Videos haben, dann nur in den Briefen, in den angeberischen, verlogenen Briefen eines gestörten Mörders. Zweitens, diese Textnachricht, die Sie im Park erhalten haben, könnte von überall und nirgends gekommen sein. Sie stammte von einem Prepaid-Telefon, das man in jedem x-beliebigen Laden für fünfzehn Dollar kaufen kann. Die Schüsse auf Rauser passen in keiner Weise zu Wunschknochen. Es hat nie eine Schusswaffe gegeben, nicht an einem Tatort. Wenn der Verhaftete nicht in Ihr Profil passt, dann ist das Ihr Problem, nicht unseres. Wir haben unsere Arbeit gemacht. Der Wunschknochen-Fall ist abgeschlossen.» Er sah Williams an. «Da draußen läuft ein Heckenschütze rum, der einen sehr guten Freund von mir und einen unserer Kollegen niedergeschossen hat. Ich erwarte, dass Sie ihn fassen. Gestern. Oder war es ein Fehler von mir, dass ich Ihnen die Leitung übertragen habe, Williams? Denn Lieutenant können Sie auch ganz schnell wieder gewesen sein.»
«Es war kein Fehler, Chief», antwortete Williams leise. Seit den Schüssen auf Rauser hatte er wohl nicht mehr geschlafen. Er sah furchtbar aus.
Der Chief wandte sich wieder an mich. «Danke für Ihre Dienste, Dr. Street. Sollte noch eine Rechnung offen sein, sprechen Sie mit Eric Fordice von der Zahlstelle. Lieutenant, ich erwarte jeden Morgen und jeden Nachmittag einen Bericht auf meinem Schreibtisch, bis diese Sache aufgeklärt ist.»
Williams waren die Hände gebunden. Chief Connor weigerte sich, die Wunschknochen-Ermittlung wiederaufzunehmen. Ich wusste, dass er alles in Bewegung setzen würde, um die Person zu finden, die auf Rauser geschossen hatte, aber ich war davon überzeugt, dass seine Beamten die Suche falsch angehen würden. Es würde zu viel Zeit kosten. Und dadurch wären weitere Leben in Gefahr.
Ich wollte Wunschknochen unbedingt fassen. Ich hatte schon davon phantasiert, wie ich ihn abknallen würde. Er hatte mir zu viel genommen. Als Rauser in dieser Nacht zu Boden gegangen war, als sein Blut durch meine Kleider hindurch auf meine Haut gesickert war, hatte Wunschknochen mein Leben tiefer zerschnitten denn je und mir das Herz gebrochen.
Diese Nacht läuft in meiner Erinnerung noch immer wie ein alter Film ab, dunkel und wackelig. In einem Moment verschwommen, im nächsten überdeutlich. Ich war mit einem der Polizisten ins Krankenhaus gefahren. Die Sanitäter hatten mich nicht in den Rettungswagen lassen wollen. Sie hätten zu viel mit Rauser zu tun, sagten sie, es wäre zu eng. Ich dachte nur: Und wenn er stirbt, und ich bin nicht bei ihm?
Jimmy und Miki waren ins Krankenhaus gekommen und die ganze Zeit bei mir geblieben. Auch meine Eltern, Neil und Diane waren da gewesen. Rauser war noch in der Nacht lange operiert worden. Die Ärztin sagte etwas über die Nähe der Verletzung zum vorderen Teil des Gehirns, sie sprach von der gefährlichen Wunde in der Brust, vom Blutverlust, dem Risiko einer Infektion und tausend anderen Komplikationen. Ich schwöre, als sie da stand und mit uns sprach, sah ich zwar, wie sich ihr Mund bewegte, doch die Worte erreichten mich nicht. Sie hätte auch die Gebärdensprache benutzen können. Als sie ein paar Stunden später wieder ins Wartezimmer kam, war ihre Miene noch düsterer.
Rauser hatte während der Operation einen Herzinfarkt erlitten, sagte sie. Jimmy musste mich halten, damit ich nicht zusammenklappte. Man hatte ihn wiederbelebt, doch er rang um sein Leben. Er war in eine Art Koma gefallen. Er atmete zwar selbständig, aber das war auch schon alles. Und an dieser Stelle zucken die Ärzte die Achseln und machen ein mitleidiges Gesicht und sagen einem, man solle das Beste hoffen, sich aber auf das Schlimmste vorbereiten. Wie geht das, zum Teufel? Mir kam es so vor, als hätte ich wie Rauser ein Loch in der Brust. Mach einfach weiter, sagte ich mir, denk nicht darüber nach, schnapp dir den Scheißkerl, der das getan hat. Gleichzeitig war ich so traurig und erledigt, dass ich kaum einen Schritt tun konnte, doch diesem Gefühl durfte ich mich nicht ergeben, sonst würde ich ganz zerbrechen. Das wusste ich. Ich wollte etwas trinken. Für Kummer und Trauer war ich nicht der Typ. Beweg deinen Arsch. Hol dir diesen Scheißkerl!
Eines von Rausers Kindern war in der Stadt, sein Sohn. Seine Tochter plante, in den nächsten Tagen zu kommen. Aaron, nach seinem Vater benannt, war sechsundzwanzig und gut aussehend und hatte zu Hause ein zweijähriges Kind. Er war sehr nett zu mir, benötigte jedoch Zeit mit seinem Vater, besonders jetzt. Niemand wusste, was geschehen würde. Rauser hatte irgendwann einmal eine Patientenverfügung aufgesetzt, in der er einer künstlichen Ernährung für begrenzte Zeit zustimmte, auf keinen Fall aber wollte er am Leben erhalten werden, wenn er nicht mehr selbständig atmen konnte. Immer wenn ich in sein Zimmer kam, betete ich, dass sich sein Brustkorb noch hob und senkte. Wie drastisch sich das Leben seit unserem Spaziergang am Thanksgivingabend verändert hatte, als ich mich an ihn lehnte und wir über seine albernen Witze lachten. Im Kopf spielte ich diese Szenen tausendmal ab.
Schließlich verließ ich das Krankenhaus und versuchte, ohne meinen besten Freund zurechtzukommen. Auf dem Parkplatz stand mein alter Impala, den mein Vater nicht nur hatte reparieren, sondern auch mit neuen Sicherheitsgurten, einer Alarmanlage und einem GPS-Gerät ausstatten lassen. Ich fuhr nach Hause, um zu duschen und etwas zu essen. Zum Essen musste ich mich regelrecht zwingen. Ich war so ausgelaugt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Aber wie isst man, ja wie schluckt man, wenn man entzweigerissen wurde?
Ich schloss die Augen und atmete die kalte Luft ein. Bald ist Weihnachten. Verdammt. Wie sollte ich Weihnachten ohne Rauser überstehen?
Schnapp dir diesen Scheißkerl, schnapp ihn dir.
Nachdem ich White Trash gefüttert hatte, legten wir uns gemeinsam aufs Sofa. So erschöpft ich auch war, ich wollte nicht zu lange vom Krankenhaus weg sein. Ich hatte unglaubliche Angst, dass er starb und einfach zu atmen aufhörte, während ich nicht bei ihm war. Jetzt sind nur noch wir beide übrig. Falsch, du Arschloch. Du hast nicht gut genug gezielt. Rauser lebte noch, und ich würde nicht zulassen, dass er starb. Ich werde dich finden, gelobte ich. Doch dann übermannte mich die Müdigkeit, und ich schlief mit White Trash in meinen Armen ein.
Als Rausers Haus gebaut wurde, damals, als Eisenhower Präsident war, hatten ein paar Zimmer genügt. Später hatte er im Hauptraum eine Terrassentür eingesetzt und als zusätzliches Zimmer eine geschlossene Veranda angebaut, außerdem hatte er den Hof eingezäunt, damit der Hund Auslauf hatte, den er haben wollte, wenn er sich zur Ruhe setzte. Zum Ausbau des Dachbodens war er noch nicht gekommen, aber er hatte bereits ein paar Wände eingerissen, sodass der Raum hell und offen war.
Als ich ins Badezimmer ging, sah ich seinen Rasierer auf dem Rand des Waschbeckens liegen und roch sein Aftershave. Im Krankenhaus war mir Rauser wie eine Hülle erschienen, die ich zwar berühren, aber nicht erreichen konnte. In diesem Haus hatten wir zusammen unzählige Spiele der Atlanta Braves gesehen und literweise süßen Eistee getrunken und jedes Gericht gegessen, das man sich in der Stadt kommen lassen konnte. Ich musste daran denken, wie er mich an Thanksgiving angesehen, wie er meine Hand genommen und meiner Mutter gesagt hatte, dass er mit unseren Essgewohnheiten ganz zufrieden sei.
Ich ging in die Küche und stellte den Gasherd an. Rausers Kaffee war so wie er: rau und unvollkommen. Und er verdrehte einem den Magen wie Batteriesäure. Ohne irgendein Maß kippte Rauser einfach Kaffeepulver in einen Topf mit Wasser, brachte es zum Kochen und schüttete die Brühe direkt in einen Becher. Es war der beste Kaffee, den ich jemals getrunken hatte.
Einmal war ich an einem Samstagmorgen in aller Frühe bei ihm aufgetaucht. Er war in Unterhose an die Tür gekommen und hatte mich verquollen angeblinzelt. Ich hatte geheult, weil schon wieder irgendetwas Blödes mit Dan passiert war, irgendein Seitensprung oder eine andere Enttäuschung. Mit seinen struppigen, abstehenden Haaren hatte Rauser wie Don King ausgesehen. Er gähnte und nahm mich in den Arm, zog sich dann ein T-Shirt an und stand an seinem Herd und machte seinen Kaffee. Er war immer ein unglaublich guter Freund für mich gewesen. Ohne ihn in diesem Haus zu sein, war unerträglich. Allein mit seiner Art und Weise hatte er es ausgefüllt.
Ich machte mir einen Kaffee nach Rausers Art und suchte nach den Tagebüchern und Jahrbüchern, die ich ihm bei Starbucks gegeben hatte. Ich fand sie in dem Hinterzimmer, das er als Büro benutzte. Es wurde Zeit, sich wieder damit zu beschäftigen, wo die Morde begonnen hatten. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich auf Jekyll Island gewesen war, Katherine Chambers besucht und ihr Haus mit den Sachen ihrer ermordeten Tochter verlassen hatte. Plötzlich hatte ich die Idee, die Unterlagen mit ins Krankenhaus zu nehmen, um sie an Rausers Seite durchzugehen und mich mit ihm auszutauschen. Ich wollte, dass er weiterhin fest im Leben verwurzelt blieb. Ich wusste nicht, wie viel er verstehen oder ob er mich überhaupt hören konnte, aber wenn es auch nur eine winzige Chance gab, ihn an den Ermittler zu erinnern, der er gewesen war, dann wollte ich sie nutzen. Er war mir schon zu sehr entglitten.
Ich sammelte die Papiere und Notizen zusammen, die Tagebücher und Jahrbücher und stapelte alles aufeinander. Zuoberst lag das Jahrbuch der Hochschule für Kriminologie und Strafrecht. Ich setzte mich auf Rausers Schreibtischstuhl. Wir hatten von Anfang an vermutet, dass der Mörder ein umfassendes Wissen über Spurensicherung und Beweisaufnahme hatte. An jedem Tatort hatte sich gezeigt, dass er geschult genug war, um keine Spuren zurückzulassen. Er versteht das Locard’sche Austauschprinzip besser als die Polizei von Atlanta, hatte ich Rauser in der Ermittlungszentrale gesagt.
Hatte er sich sein Wissen an der Universität angeeignet? Hatte Wunschknochen die Grundlagen der Forensik auf dem Campus der Florida State University gelernt? War Anne Chambers ihrem Mörder dort in der Abteilung für Kriminologie und Strafrecht über den Weg gelaufen?
Ich beugte mich über die Liste von Anne Chambers’ Seminaren und Kursen. Doch laut ihres Studienplans hatte sie keinen Grund gehabt, sich im Gebäude der Kriminologen aufzuhalten. Ich sah mir den Campusplan an. Anne hatte im Smith-Wohnheim gewohnt, in einem der älteren Gebäude. Das hatte ich auf der Karte bereits rot markiert. Ich fuhr mit dem Finger von ihrem Wohnheim die Tennessee Street hinunter bis zur Call Street und von dort zur Hochschule für Kriminologie. Auf der Karte wirkte das wie ein weiter Weg, doch ich erinnerte mich, dass der Campus ziemlich übersichtlich war und die einzelnen Gebäude nicht so weit verstreut lagen wie bei einigen anderen Unis. Trotzdem, es war ein ganzes Stück. Hätten sich eine Studentin im zweiten Jahr und ein Serienmörder dort über den Weg laufen können? Wo? Wenn nicht in einem Seminar, dann vielleicht in einer anderen Gruppe, in einem Club oder in einer Freizeiteinrichtung?
Ich zog eine Schreibtischschublade auf, um nach einem Stift zu suchen, entdeckte stattdessen aber eine ungeöffnete Schachtel Zigaretten und Rausers angelaufenes Zippo. Ich erinnerte mich an den Benzingeruch, den das Feuerzeug verströmte, wenn er sich eine Zigarette ansteckte. An Thanksgiving war mir aufgefallen, dass er kein einziges Mal nach draußen gegangen war, um eine zu rauchen. Er versuchte aufzuhören. Ich hatte ihn seit Jahren dazu gedrängt. Und er hatte mit Jo Schluss gemacht. Als mir klarwurde, dass sich Rauser ganz bewusst auf ein Leben mit mir vorbereitet hatte, hätte ich fast angefangen zu heulen.
Ich klappte das Album des Jahres auf, in dem Anne Chambers getötet worden war, und begann, es noch einmal Seite für Seite durchzugehen. Ich wollte mir erneut jeden noch so blöden Schnappschuss ansehen, die Listen der Teams und Clubs und Gruppen, die einzelnen Seminarfotos, die Gruppenbilder und die der Lehrkörper, einfach alles.
Doch plötzlich fiel mir etwas ein, und ich betrachtete wieder den Campusplan. In der Nähe der Hochschule für Kriminologie und Strafrecht an der Call Street befand sich die Kunstakademie. Anne hatte dort im Fachbereich Bildende Künste studiert. Die beiden Gebäude lagen praktisch direkt nebeneinander. Wenn ihre Stundenpläne ähnlich gewesen waren, hätte der Mörder sie jederzeit beim Hineingehen sehen und ansprechen können.
Mein Herz schlug schneller. Musste ich nach einem Studenten suchen? Oder nach einem Fakultätsmitglied? Ich erinnerte mich daran, dass die alte Emma gesagt hatte, sie hätte Anne gewarnt. Und Mrs. Chambers hatte erwähnt, Anne wäre von einer Affäre in die nächste gestürzt. Ich kam der Lösung näher. Ich spürte es. Ich kriege dich, du Scheißkerl.