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Ich verbrachte meine Tage wieder damit, das Vorleben von Kindermädchen zu überprüfen, Vorladungen zuzustellen, für Tyrone Kautionen einzutreiben und für Larry Quinns Schadenersatzfälle langwierige Überwachungen durchzuführen, also mit all den Aufträgen, über die ich mich einmal beklagt hatte. Doch nachdem ich der Gewalt und dem Bösen in Gestalt des Wunschknochen-Mörders gefährlich nahe gekommen war, betrachtete ich das Leben mit anderen Augen. Ich wusste jetzt, dass ich nie wieder zurück in die Finsternis wollte.

Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass der nächste Nackenschlag folgen würde. Ein Unterstützer bei den Anonymen Alkoholikern hatte einmal gesagt, dieser Zustand sei bei einem Abhängigen normal. Wir hatten unser Innenleben und unsere Abhängigkeit und unsere Dämonen so lange versteckt, dass wir immer dunkle Vorahnungen in uns trugen.

Charlie Ramsey war im Gefängnis und wartete auf sein Gerichtsverfahren. Er würde Atlantas Straßen bestimmt nie wieder sehen. Zwei weitere Frauen hatten sich gemeldet und ihn als ihren Vergewaltiger identifiziert. Charlies Verbrechensliste umspannte fast zwei Jahrzehnte, und das in seinem Haus gefundene Messer und die Blutspuren hatten ihn schließlich überführt und sein Schicksal besiegelt. Der Staatsanwalt war zuversichtlich, dass Charlie für die Vergewaltigungen und mindestens zwei der Wunschknochen-Morde, nämlich die an Dobbs und an Melissa Dumas, verurteilt werden würde. Die Faser, die mit dem Bodenbelag von Charlies verstecktem Wrangler übereinstimmte, war für sich genommen nicht belastend genug, kam aber zum anderen Beweismaterial erschwerend hinzu. Am wichtigsten und meiner Meinung nach am aufschlussreichsten aber war, dass das Morden aufgehört hatte. Natürlich gab es auch keine Briefe oder E-Mails oder Rosen mehr. Ich fragte mich, was Charlie in seinem arglistigen und geschädigten Gehirn für mich vorgesehen hatte. Hätte ich ein weiteres Foto an der Tafel in der Ermittlungszentrale werden sollen? Jacob Dobbs hatte er ermordet, nicht weil der Profiler in sein Opferschema passte, sondern weil Dobbs prominent gewesen war. Charlies Intentionen hatten sich ausgedehnt. Er hatte angefangen, für die Schlagzeilen zu morden und sich daran zu berauschen, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Das war für einen Serienmörder nicht ungewöhnlich, aber es war besonders beängstigend.

Ich hatte mich nicht nur vollkommen in Charlie getäuscht, auch mein Täterprofil war, im Nachhinein betrachtet, erschreckend unzutreffend gewesen. In Charlies Vergangenheit deutete nichts auf Missbrauch hin. Ich war mir sicher gewesen, dass Anne Chambers und David Brooks Elternfiguren symbolisiert hatten. Absolut sicher. Mit anderen Einschätzungen hatte ich allerdings richtiggelegen, zum Beispiel was seinen Ehrgeiz betraf, als Footballstar und auf dem komplizierten Gebiet der Biophysik. Mein Rat hatte gelautet, nach einem Überflieger, einem Star in seinem Fachgebiet zu suchen. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass jemand, der es so weit gebracht hatte, einmal in die Rolle eines behinderten Faktotums schlüpfen würde, wie Charlie es getan hatte. Andererseits hatte er wahrscheinlich keine andere Wahl gehabt. Nach dem Unfall war es ihm nicht mehr möglich gewesen, ein normales Leben zu führen. Wir hatten erfahren, dass Charlie, der schon früh in seinem Leben durch Gewalttätigkeit und sexuelle Aggression aufgefallen war, nach dem Unfall noch unberechenbarer geworden war. Aufgrund der Gehirnverletzung und der dadurch verursachten kognitiven Defizite hatten sich Charlies impulsive Art und seine Verhaltensprobleme verstärkt. Er litt an chronischen Schmerzen, Migräne und Depressionen und konnte sich nur schwer konzentrieren. Nach der Operation und der Rehabilitation hatte er versucht, ins Berufsleben zurückzukehren, war aber verbal ausfällig geworden und hatte in erregten Momenten sogar Kollegen bedroht. Das Verhaltensmuster, das ihn sein ganzes Leben verfolgt hatte, hatte sich noch stärker ausgeprägt. Ich hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es erklärte einiges über Charlie und wie er zu dem werden konnte, der er war. Und doch – meine Analyse war in vielerlei Hinsicht furchtbar falsch gewesen. War das ein Zeichen? Vielleicht war ich nicht so großartig in meinem Beruf, wie ich geglaubt hatte.

Die Tage waren wieder kürzer und kühler geworden. Der Herbst hatte begonnen, das Laub an den Bäumen verfärbte sich. Braune Papierbeutel, vollgestopft mit Gartenabfällen, säumten die Gehwege in Winnona Park, wo meine Eltern wohnen. Die klare Luft war durchzogen mit dem Rauch von Kaminfeuer.

Mein Bruder Jimmy, der dem Drängen meiner Mutter, nach Hause zu kommen, jahrelang resolut widerstanden hatte, war zu Thanksgiving hergeflogen. Leider hatte er seinen Freund Paul nicht mitgebracht, den ich fast genauso liebe, wie Jimmy ihn liebt. Später am Tag wollte ich unbedingt mit ihm über Webcam sprechen.

Jimmy und Rauser hatten sich vor ein paar Jahren, als ich aus dem Entzug kam, kennengelernt und von Anfang an bestens verstanden. Heute dauerte es nicht lange, und die beiden saßen gemütlich im getäfelten Wohnzimmer meiner Eltern und schauten gemeinsam mit meinem Vater Football. Alle drei sind große Cowboy-Fans. Mutter, die seit unserem Eintreffen um Rauser und Jimmy herumscharwenzelte, versorgte sie mit Fleischbällchen und kaltem Bier, während sie das Abendessen vorbereitete.

Auch meine Cousine Miki kam zum Essen. Miki ist Fotojournalistin. Sie hat hellblondes Haar und blaue Augen, und genauso verschieden wie unser Äußeres sind die Welten, in denen wir leben. Sie ist die Tochter der Schwester meiner Mutter, Florence, und als Miki vor Jahren an Feiertagen plötzlich ohne ihre Mutter auftauchte, wurde uns gesagt, Tante Florence sei nach Europa gegangen. Später entdeckten wir, dass «Europa» nur ein Kodewort für «Klapsmühle» war. Seit Mikis zwölftem Lebensjahr war Tante Florence in einer psychiatrischen Anstalt. Ich erinnere mich, dass wir Tante Florence einmal zu Hause besuchten, bevor sie nach «Europa» ging. Im Garten stand ein Hausboot. Niemand redete darüber, jeder tat so, als wäre das vollkommen normal, doch ich weiß noch, wie Florence über die Rampe des gestrandeten Hausbootes herunterkam, um uns zu begrüßen, als würde sie darin wohnen. Jimmy schlich sich auf das Boot, als gerade niemand hinsah, und erzählte mir später, er hätte Kleiderständer und Schminksachen und Kaffeedosen voller Münzen entdeckt.

Die Arme meiner schönen und talentierten Cousine sind von den Handgelenken bis zu den Ellbogen vernarbt. Mit ungefähr siebzehn hat sie den Kampf gegen ihren Körper begonnen. Schnitte, Anstaltsaufenthalte, Drogen, Essstörungen und jahrelange Fehldiagnosen folgten. Jetzt ist sie fünfunddreißig, und ich weiß überhaupt nichts über ihr Leben, aber ich bin unglaublich froh, dass in unseren Adern nicht das gleiche Blut fließt. Ich bin selbst verrückt genug. Doch glücklicherweise fehlt es mir entweder an Tiefe oder an Geduld für langfristige Depressionen.

Am späten Nachmittag versammelten wir uns im Esszimmer. Obwohl die hohe Decke, die Türbögen und die Wände im Lauf der Jahre unzählige Male gestrichen und verschönert worden sind, fühle ich mich in dem Zimmer immer in meine Kindheit zurückversetzt. Die Wände sind blassgelb, der Tisch und die Stühle aus Eiche, und in der Ecke steht der Schrank mit dem Porzellan. Meine Mutter hat einen eher altbackenen Geschmack. Den Tisch hatte sie an beiden Enden ausgezogen, damit das ganze Essen Platz hatte. Bevor wir uns hinsetzten, nahmen wir uns zum Gebet an die Hand, wie es in meiner blütenweißen, baptistischen Südstaatenfamilie Tradition ist. «Wir danken dir, Herr», begann mein Vater, «für das viele gute Essen und, äh, dafür, dass Miki und Keye, die sich beinahe mit Drogen und Alkohol umgebracht hätten, bei uns sind.»

Ich riss die Augen auf. Mein Vater hatte den Kopf gesenkt und kniff die Augen zusammen. Jimmy räusperte sich, um ein Lachen zu unterdrücken. Miki sah mich an. Sie grinste.

«Um Himmels willen, Howard!», sagte mein Mutter scharf.

«Und ich danke dir, Herr», fuhr Dad fort, «für meine noch immer schöne Frau und meinen schwulen Sohn.»

Jetzt hob jeder den Kopf.

«Amen», sagte Rauser laut und bestimmt und setzte sich.

«Amen», wiederholten wir anderen schnell und nahmen auch Platz.

«Höchst interessant», meinte meine Mutter und warf Dad einen bösen Blick zu. «Möchte jemand Kartoffeln?»

Auf dem Tisch stand eine riesige Schüssel Kartoffelbrei mit Knoblauch, dazu gab es geschmorte grüne Bohnen, geröstete süße Kartoffeln mit Mango, Koriander und frischgehackten Jalapenas, panierte und gebackene Ziegenkäsestücke auf grünem Salat mit Fenchel und Süßkirschen sowie für jeden eine gefüllte Wachtel. Zum Nachtisch hatte Mutter Jimmys Lieblingskuchen gebacken, einen Cobbler mit Brombeeren, die sie im Sommer gepflückt und eingefroren hatte, außerdem einen Kürbiskäsekuchen mit Ahornsirupglasur und gerösteten Pecannüssen, auf den ich mich immer das ganze Jahr freue.

«Für Sie habe ich extra etwas Pikantes gemacht», sagte Mutter lächelnd zu Rauser. Sie hatte beobachtet, dass er fast über alles, was sie ihm hinstellte, roten Pfeffer streute.

Rauser nickte und griff nach den süßen Kartoffeln. «Sie sind die beste Köchin, die ich kenne, Mrs. Street. So ein Essen kriegt man sonst nirgendwo.»

«Ich koche ja auch gerne», sagte Mutter und errötete. «Besonders für einen Mann mit gutem Appetit. Kochen ist etwas Sinnliches. Das merkt man schon, wenn man eine Mango schält.»

Ich sah Mutter an. Sie flirtete doch tatsächlich mit Rauser.

«Peinlich», brummte Jimmy.

Mein Dad schien es nicht zu bemerken. Ich warf einen Blick auf die Wassergläser mit Rum und Eierflip und fragte mich, wie viele die beiden wohl heute schon gekippt hatten.

«Das war nicht immer so», sagte mein Vater. Solange ich mich erinnern kann, hatte ich ihn über die Kochkünste meiner Mutter lästern hören. Meistens war es sein einziger Beitrag zu unseren Feiertagsgesprächen. «Am Anfang unserer Ehe war es so schlimm, dass wir nach dem Essen gebetet haben.»

«Howard», fauchte meine Mutter. «Dieser Witz war schon vor dreißig Jahren nicht lustig. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum du glaubst, er könnte jetzt lustig sein.»

«Ich fand ihn lustig», sagte Miki, ohne aufzusehen. Sie untersuchte den truthahnförmigen Serviettenhalter aus Keramik neben ihrem Teller.

Mutter sah erst sie an und dann wieder meinen Vater. «Howard, du hast die Tochter meiner einzigen Schwester gegen mich aufgestachelt. Ich hoffe, du bist zufrieden», zeterte sie wie eine betrogene Scarlett O’Hara. Je mehr sich meine Mutter als Opfer fühlt, desto mehr wird sie zu einer Südstaatenmatrone.

«Keye, wo steckt Diane?», fragte Jimmy, wahrscheinlich in der Absicht, das Thema zu wechseln. Mein Bruder Jimmy ist der geborene Friedensstifter und ein Fachmann im Ablenken meiner Mutter. «Ich hatte gehofft, sie zu sehen, wenn ich hier bin.»

Ich lächelte. «Sie hat was Neues am Laufen.»

«Aha», meinte Jimmy nickend. Wir hatten alle seit Jahren Dianes Beziehungskarussell miterlebt. Sie war nicht der Mensch, der allein glücklich sein konnte.

Mutter hob resigniert die Hände. «Die einzige Frau auf Gottes Erden, die dir gefallen hat, und sie ist strohdumm.»

«Diane ist nicht dumm, Mutter», sagte Jimmy. «Sie ist süß. Und du wirst immer die einzige Frau in meinem Leben sein.»

Mutter war gerührt. «Du bist einfach das schönste Wesen, das mir jemals unter die Augen gekommen ist, weißt du das?»

Ich musste ihr zustimmen. Mein Bruder ist ein schöner, gutgebauter Mann mit haselnussbraunen Augen und dunkler Schokoladenhaut. Seine Herkunft ist ein Rätsel. Über seine leiblichen Eltern ist rein gar nichts bekannt, aber seit er in dieser reizbaren Familie gelandet ist, war er immer der Ruhepol.

«Du solltest öfter nach Hause kommen», sagte Mutter. «Es ist nicht mehr so wie früher. Mittlerweile wohnen in der Nachbarschaft mehrere afroamerikanische Familien, und China muss irgendwo ein Tor aufgemacht haben, denn überall laufen kleine chinesische Mädchen herum.» Sie tätschelte die Hand meines Vaters. «Howard, wir waren unserer Zeit voraus.»

Ich verdrehte die Augen, und Jimmy musste wegsehen. Die meiste Zeit unseres Lebens hatten wir an diesem Tisch Probleme gehabt. Beim Tischgebet hatte ich ihn häufig zum Lachen gebracht, und so etwas ließ Emily Street nicht durchgehen.

Es dauerte nicht lange, bis Rauser seine Wachtel praktisch vollständig verschlungen hatte und zum zweiten Mal seinen Teller füllte. Er bediente sich noch einmal großzügig von den geschmorten Bohnen. Mutter macht sie nach Art des Südens mit einer schweren Pilzsoße und gibt Brotkrumen und gebratene Schalotten darüber. Schon vom Hingucken kriegt man einen Herzinfarkt. Eine Schüssel Chips hat weniger Fett.

«Keye, kochst du eigentlich auch mal für diesen Mann?», fragte Mutter. Und dann sagte sie, an Rauser gewandt: «Ich habe ihr nämlich ein paar Dinge beigebracht, müssen Sie wissen.»

Rauser tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab. «Wir lassen uns eher was kommen», sagte er und sah mir dann lächelnd in die Augen. «Und damit bin ich ganz zufrieden.» Zu meiner Überraschung beugte er sich zu mir und küsste mich sehr sanft auf den Mundwinkel. Unter dem Tisch spürte ich seine Hand auf meiner.

«Also, ein Mann wie Sie sollte sich sein Essen nicht kommen lassen müssen», hörte ich Mutter sagen, während ich immer noch Rauser in die Augen sah.

In die darauffolgende Stille verkündete mein Vater plötzlich: «Nach dem Essen möchte ich euch allen etwas zeigen.»

«Er wollte mich partout nicht in die Garage lassen», beschwerte sich Mutter und drohte meinem Vater mit dem Finger. Rauser drückte meine Hand, ließ sie dann los und widmete sich wieder seinem Teller.

Nach dem Dessert schlenderten wir also alle hinaus in den Hof und warteten darauf, dass sich das Garagentor öffnete. Rauser stand neben mir und hatte mir einen Arm um die Schultern gelegt. Als ich zu ihm hochsah, küsste er mich auf die Stirn. Er war schon den ganzen Tag so anhänglich gewesen.

Mutter hatte ihren Arm um Jimmys Taille gelegt, er hielt Mikis Hand. Auch die Nachbarn waren gekommen und warteten mit uns darauf, dass mein Vater sein neuestes Projekt enthüllte.

Als sich das Garagentor langsam hob und Dads neues Hobby zum Vorschein kam, stockte uns allen der Atem. Ein fast zwei Meter hohes, abscheuliches Metallmonstrum stand vor uns. Wir sahen es an, kniffen die Augen zusammen, warfen uns Blicke zu und sahen dann wieder in die Garage. Niemand sagte ein Wort.

Mein Vater wirkte durcheinander. «Das ist eine Skulptur», erklärte er. «Ein Adler mit einer Ratte im Schnabel.»

Jemand sagte Igitt! Doch schließlich hatte Jimmy die gute Idee zu klatschen. Alle applaudierten und jubelten, und mein Vater machte einen feierlichen Diener.

«Verdammter Idiot», flüsterte Mutter und legte sich die Hände vors Gesicht. «Nicht nur, dass er jedes Jahr mit Glühbirnen Weihnachten aufs Dach schreibt. Jetzt auch das noch!»

Mein Vater ist Legastheniker, will es aber nicht zugeben.

«Lust auf einen Spaziergang?», fragte mich Rauser nach der Enthüllung.

Schweigend schlenderten wir bis zum Ende von Derrydown und überquerten Shadowmoor Drive. «Übrigens», sagte Rauser, als wir über die Holzbrücke zum Spielplatz hinter der Grundschule von Winnona Park gingen, «ich habe mit Jo endgültig Schluss gemacht.»

«Wer ist Jo?», meinte ich und grinste ihn an.

«Keye, als du in dieser Nacht auf der Interstate von der Straße abgekommen bist, dachte ich, mein Herz bleibt stehen.»

Wir waren bei den Schaukeln auf dem Fußballplatz hinter der Schule. In den Häusern am Inman Drive und Poplar Circle, den beiden Straßen, die an das Schulgelände grenzten, brannten Lichter. Es war ein altes Viertel, in dem mittlerweile viele junge Familien in renovierten Eigenheimen wohnten. Ich sah einen Wagen neben dem Park anhalten, die Scheinwerfer gingen aus. Häufig treffen sich Jugendliche hier. Manchmal parken die Leute abends auf dem Schulhof und lassen ihre Hunde auf dem Fußballfeld laufen.

Rauser stellte sich direkt vor mich und hielt meine Hände. «Ich dachte immer, man sollte nichts überstürzen. Doch in dieser Nacht wurde mir klar, wie schnell sich alles verändern kann und wie schnell die Zeit vergeht. Ich hätte dir schon längst sagen sollen, dass ich dich liebe, Keye.»

Ich betrachtete die vertrauten Falten um seine Augenwinkel. Es sah immer so aus, als müsste er gleich lachen. Ich betrachtete sein dichtes graumeliertes Haar und seine breiten Schultern, und mir wurde klar, dass ich nicht mehr empfindungslos war. Ganz im Gegenteil. Ich wollte diesen Mann, der mich so gut kannte und mich trotzdem liebte.

«Als ich dich damals anrief und Jo ans Telefon ging …», begann ich.

«Ich wusste, dass du total eifersüchtig warst», sagte er verschmitzt grinsend.

«Ich war überhaupt nicht eifersüchtig.»

«Aha», meinte er. «Und vielleicht kommt gleich Jodie Foster anspaziert, genau hier in diesem dämlichen Park.»

«Und? Hast du nicht etwas vergessen? Tanzt sie nicht auf dem Tisch oder wackelt mit ihrem Hintern oder so was? Ich liebe diesen Teil.»

Rauser schaute mich an, als hätte ich gerade mitten in der Kirche die Hosen runtergelassen. «Um Gottes willen, Keye, ich spreche von Jodie Foster. Ein bisschen mehr Respekt, ja?»

Ich lehnte mich an ihn, und wir lachten. Als er seine Arme um mich schlang, schmiegte ich mich an ihn. Er roch nach frischer Luft und Aftershave, und mir fiel auf, dass ich ihn den ganzen Tag noch nicht mit einer Zigarette gesehen hatte.

Mit einem Mal gab er einen kaum wahrnehmbaren Ton von sich, ein kurzes Oh, so leise wie ein leichter Windhauch. Als ich zu ihm hochschaute, sah er mich mit einer seltsamen Mischung aus Erschrecken und Verwirrung an.

«Rauser? Was ist los?»

Seine Stirn legte sich in Falten, er hielt die Hand hoch. Angst durchzuckte mich. Blut. Mein Gott! Blut! Was zum Teufel –

Der zweite Schuss kam genauso leise und unvermittelt und traf Rauser in die Schläfe. Seine Beine knickten weg, er stürzte zu Boden. Ich ließ mich auf ihn fallen.

O Gott, o Gott.

Mit der rechten Hand riss ich mir den Schal vom Hals und den Mantel auf, zog mit der linken mein Handy hervor, wählte mit dem Daumen den Notruf und presste dann meinen Schal auf die Wunde in Rausers Brust.

«Rauser, sag was. Rauser, kannst du mich hören? Bleib bei mir. Verdammt, bleib bei mir.»

Aus der Wunde strömte unglaublich viel Blut. Es war so viel, dass es sich auf dem trockenen Boden sammelte, ehe es versickerte. Lieber Gott, lass ihn nicht sterben. Ich werde nie wieder trinken. Mich nie wieder beklagen. Nie wieder mit meiner Mutter streiten.

Ich suchte mit den Augen die Straße ab und hob gleichzeitig Rausers Kopf etwas an und schob meinen Mantel unter ihn. Mein Herz raste, während sein Puls schwach war und sein Blut durch meinen Schal hindurchsickerte.

«Notruf hier, sagen Sie mir, worum es sich handelt und wo Sie sich befinden.»

«Polizeibeamter niedergeschossen.» Ich glaube, ich habe geschrien, aber ich kann es nicht beschwören. Zeit und Geräusche und Lichter, nichts war mehr normal. Ich konnte meinen eigenen Atem hören, als wäre ich in einer Badewanne untergetaucht. «Die Grundschule in Winnona Park. Auf dem Spielplatz hinter der Schule», sagte ich zu der Frau in der Zentrale.

Mein Gott, wir sind auf dem Spielplatz. Noch vor einem Augenblick hat er mich in seinem Arm gehalten. O nein 

«Unbekannter Schütze», sagte ich. Ich hatte das Gefühl, eine Palette mit Ziegelsteinen wäre mir auf die Brust gefallen. Ich konnte nicht mehr normal atmen. «Der Polizeibeamte ist Lieutenant Aaron Rauser, Mordkommission Atlanta. Herrgott, er atmet kaum noch. Rauser, bleib bei mir.»

Ich erhöhte den Druck auf seine Brust. Mein Schal war durchtränkt. Und es kam immer mehr Blut. Die Telefonistin versuchte mich am Telefon zu halten. Was ich gesehen hätte. Wie ich heiße. Einzelheiten. Schickte sie Beamte in eine gefährliche Situation?

«Keine Ahnung, wo der Schütze ist. Ich glaube, auf dem Poplar Circle. Ich heiße Keye Street. Herrgott, beeilen Sie sich doch!»

Und dann sah ich es. Die Scheinwerfer gingen an, der Wagen raste im Rückwärtsgang von uns weg, an der Schule vorbei, wendete und raste auf der Avery davon.

Ich schrie die ganze Zeit heulend Rauser an. Bleib bei mir, Rauser. Ich liebe dich doch. Bleib bei mir.

«Ein Fahrzeug verlässt den Tatort schnell auf der Avery, Richtung Kirk Road.»

«Können Sie erkennen, was für ein Fahrzeug?»

«Nein, mein Gott, es ist zu dunkel. Wo bleibt der Rettungswagen, verdammt? Rauser, stirb mir nicht weg.»

Mein Handy piepte, das Signal, dass ich eine Textnachricht erhalten hatte. Reflexhaft nahm ich es vom Ohr, um aufs Display zu sehen. Ich dachte nicht mehr nach, ich reagierte nur noch. Es war, als stünde ich neben mir, alles kam mir total unwirklich vor.

Meine Finger waren von Rausers Blut so feucht, dass mir das Telefon beinahe aus der Hand rutschte.

«Jetzt sind nur noch wir beide übrig», stand auf dem erleuchteten Display. «Mit den herzlichsten persönlichen Grüßen. W.»