White Trash empfing mich an der Tür, strich um meine Beine, sah ungeduldig zu mir hoch und versuchte mich in die Küche zu treiben. Ich bin davon überzeugt, dass sie sich für einen Border Collie hält, der besessen seine Herde hütet und alle in einem engen, kleinen Kreis zusammenhält. Nach dem Spielen lässt sie ihre spärliche Habe – eine Maus, ein Kissen und einen Ball – ordentlich unter dem Tisch liegen, und als sie an meinem Geburtstag einen Luftballon ergattern konnte, verbrachte sie Tage damit, ihn immer, wenn er wegzudriften drohte, sorgfältig am Faden zurück unter den Tisch zu ziehen. Ich lasse sie machen. Es ist einfacher so. Sie ist sehr eigensinnig. Sie gibt keine Ruhe, ehe sie nicht hat, was sie will.
Pflichtbewusst nahm ich eine Scheibe Truthahn aus dem Kühlschrank, zerteilte sie für White Trash in kleine Stücke, lehnte mich dann mit einer Sprühdose Fertigschlagsahne an die Küchenzeile und hielt mir die Düse direkt vor den Mund. Könnte mehr als eine Portion gewesen sein, dachte ich und sah auf der Dose nach, wie groß eine Portion ist. Zwei Teelöffel. Mmm. Ich nahm noch einen kräftigen Schub. Als White Trash Interesse an meinem Abendessen zeigte, sprühte ich ihr ein bisschen Sahne auf ihren Teller. Sie probierte sie, mochte sie anscheinend, streckte sich und ließ mich in der Küche stehen, ausgenutzt und allein.
Nachdem ich fest und völlig traumlos geschlafen hatte, war ich Mittwochmorgen um acht wieder im Büro. Ich hörte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab. Eine stammte von Tyrone vom Kautionsbüro. «Hey, Baby. Ich hab ’nen Kautionsflüchtling für dich. Ich brauche dich, um ihn anzuschleppen. Keine große Sache. Ein junger Kerl um die zwanzig. Ist mit Alkohol am Steuer erwischt worden und dann nicht vor Gericht erschienen.»
Auch meine Freundin Diane hatte eine Nachricht hinterlassen. «Hey, du, die Zeugenvorladungen liegen fertig auf meinem Schreibtisch, sieben Stück. Bingo. Nächstes Mal musst du mich zum Essen einladen.»
Dann rief meine Mutter an und entlockte mir das Versprechen, Freitagabend zum Essen zu kommen. Freitagabends gibt es hausgemachte Pastete mit Tomatenscheiben und Senfgemüse, danach Bananenkäsekuchen. Dieses Menü wird nur saisonal variiert, dann gibt es Spinat oder Grünkohl anstelle von Senfgemüse.
Bevor wir auflegten, sagte sie: «Ich weiß, dass es mich nichts angeht.»
Oje. Wenn Mutter einen Satz so beginnt, kann man nie wissen, was als Nächstes kommt.
«Dan hat ein paar Fehler gemacht, Keye, aber so sind die Männer eben. Während du unterwegs warst, habe ich mich sehr nett mit ihm unterhalten. Er liebt dich.»
«Ich bringe Rauser mit», sagte ich. Da bist du baff, was? Sie würde beim Essen am Freitag nicht wieder mit Dan anfangen, wenn Rauser dabei war. Sie wusste nicht genau, welcher Art unsere Beziehung war. Verdammt, niemand wusste das. Aber Rauser hatte schon häufig als Schutz gegen Mutters Kuppeleien fungiert.
Ich rief Tyrone zurück, und wir vereinbarten, dass ich kurz vorbeikommen und mir die Unterlagen abholen würde. Es war kein großer Auftrag und brachte nicht viel ein, aber es war wichtig, hin und wieder für Tyrone verfügbar zu sein, sonst würde er mich abschreiben, und man konnte nie wissen, wann man Arbeit brauchte. Die Kanzleien zahlten gut, vor allem Guzman, Smith, Aldridge und Haze, doch die Konkurrenz in der Branche war groß, und mein Vater sagte immer, man solle nicht alles auf eine Karte setzen. Schließlich musste ich jeden Monat eine riesige Hypothek abzahlen. Ich versuche, keine Brücken abzubrechen, egal, wie schmal sie sind.
Ich schweifte in Gedanken ab zu meiner Reise nach Jekyll Island. Als ich ans Meer und die klare Salzluft dachte, versetzte es mir einen Stich. Dort wollte ich sein, am Strand entlangspazieren, einen Hund adoptieren, einen alten Pick-up kaufen und vielleicht sogar White Trash mit Sandkrebsen bekannt machen. Wovon würde ich dort unten leben? Könnte ich ohne Diane und Neil und Rauser auskommen? Ich ließ diesen Film eine Weile in meinem Kopf ablaufen. Dann musste ich an Mrs. Chambers denken, die an diesem schönen Ort lebte und doch in all den Jahren ihren Kummer nicht losgeworden war. Mir ging es nicht anders. Der Kummer verändert sich und wird ein bisschen schwächer, aber wenn jemand, den man liebte, ermordet wurde, muss man mit diesem Schmerz immer leben.
Tyrones Kautionsbüro befindet sich in der Mitchell Street, nur ein paar Straßen entfernt vom Capitol, dem Rathaus und den Gerichten, im fünften Stock eines allmählich verlotternden gelben Stuckgebäudes. In der unmittelbaren Nachbarschaft gibt es mindestens zwölf weitere Kautionsbüros. Am besten gefällt mir Mama Holt Dich Raus – Kautionen & Mehr am Memorial Drive.
Ich nahm die Treppe nach oben. Die Fahrstühle in dem Gebäude waren mir bereits bekannt. Die Knöpfe sind mit Fingerabdrücken verschmiert, der Teppich ist dreckig, und man will lieber nichts anfassen. Im Treppenhaus roch es nach Pisse, aber ich wusste wenigstens, dass ich mich aufwärtsbewegte, was man im Fahrstuhl, der unter der kleinsten Herausforderung ächzte, nicht immer sagen konnte. Was, wenn ich ein klitzekleines Gramm zu viel hatte und er es nicht mehr schaffte? Ich hatte heute schon drei Donuts verdrückt. Überraschungen im Fahrstuhl mag ich überhaupt nicht.
Im Vorraum von Tyrones Büro war es ruhig, der Tisch der Sekretärin unbesetzt. Ich hatte dahinter schon viele verschiedene Gesichter gesehen. Tyrone holte sich für ein paar Tage in der Woche Leute von einer Zeitarbeitsfirma.
«Hey, Keye, alles klar?» Er trug einen zitronengelben Blazer über einem roten Seidenhemd. Als er sich zurücklehnte und seine Beine übereinanderschlug, sah ich, dass die Hose zur Jacke und die Socken zum Hemd passten. Er war der einzige Farbtupfer in dem tristen Büro. Tyrone war eins neunzig groß, hatte die breiten Schultern eines Gewichthebers und Grübchen, wenn er lächelte. Ich fand, er sah gut aus. Er fand das auch.
«Schnappst du mir den Jungen?»
Ich zuckte mit den Achseln. «Was ist drin?»
«Ich bitte dich.» Er lachte und zeigte seine Grübchen. «Komm mir nicht so.» Er nahm einen Umschlag von seinem Schreibtisch und reichte ihn mir. «Der Junge heißt Harrison. Wenn du die Sache übernimmst, sorge ich dafür, dass du nächstes Mal einen guten Auftrag kriegst.»
Lyndon Harrison war innerhalb der Stadtgrenzen auf der Interstate 75 angehalten worden. Bei einem Alkoholtest war herausgekommen, dass er die Promillegrenze minimal überschritten hatte. Als er mit aufs Revier kommen sollte, benahm er sich dem Polizeibeamten gegenüber rüpelhaft, und der stockte die Anzeige wegen Trunkenheit im Straßenverkehr prompt um Widerstand gegen die Staatsgewalt auf. Harrisons Mutter bürgte mit ihrem Haus für die Kaution. Für die sechstausend Dollar, die Tyrone gezahlt hatte, wäre das Haus eine nette Gegenleistung gewesen, aber so ein Typ sei er nicht, sagte er mir grinsend.
Ich folgte der Mitchell Street bis zur Capital Avenue, bog in der Nähe des Grady-Krankenhauses auf die Dekalb Avenue und fuhr nach Osten Richtung Oakhurst, einem Stadtteil von Decatur. Früher war Oakhurst eine heruntergekommene, drogenverseuchte und gefährliche Gegend gewesen. In den letzten Jahren war sie gewissen Verschönerungsmaßnahmen unterzogen worden. Durch die Ausbreitung des Stadtgebietes und die steigenden Immobilienpreise in Atlanta und Decatur, die mittlerweile an mehreren Stellen zusammengewachsen waren, hatte sich das Leben vieler langjähriger Einwohner Oakhursts verändert. Winzige Holzhäuser auf kleinen Parzellen waren plötzlich einige hunderttausend Dollar wert, sodass immer mehr Bewohner verkauften. Allmählich werden die Viertel renoviert oder abgerissen. Doch da manche der alten Einwohner geblieben sind, sieht man heutzutage zwischen renovierten Häusern mit Anbauten und Sicherheitszäunen hin und wieder völlig verfallene Hütten.
Die Harrisons wohnten unweit der MARTA-Station East Lake an der Winter Avenue in einem kleinen weißen Backsteinhaus mit schwarzen Fensterläden und einem gepflegten Garten. Unter den Fenstern blühte Lavendel, und um den Briefkasten waren Gerbera gepflanzt worden. Als ich klingelte, entdeckte mich durch das Vorderfenster ein Golden Retriever, der bellte und gleichzeitig heftig mit dem Schwanz wedelte.
Der Junge, der an die Tür kam, war höchstens achtzehn. Es war nicht Lyndon Harrison, der Kautionsflüchtige, von dem ich ein Foto hatte. Durch das Fliegengitter hindurch roch ich Haschischrauch.
«Hi», sagte ich. «Ist Lyndon da?»
Er lächelte. «Kleinen Moment, okay?»
«Okay», sagte ich. Kaum war er weg, schlüpfte ich in die schmale Diele, in der sich eine Garderobe, ein Spiegel und der Golden Retriever befanden. Er schnüffelte an meiner Hand, bis ich mich bereit erklärte, ihm etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich kniete mich neben ihn und kraulte ihn hinter den Ohren.
«Kann ich dir helfen?», fragte eine männliche Stimme.
«Hi, Lyndon», sagte ich so unbedrohlich, wie ich konnte. Als ich mich aufgerichtet hatte, wanderte meine linke Hand zur Gesäßtasche mit den Handschellen. Die rechte Hand streckte ich aus, aber er nahm sie nicht an. «Mein Name ist Keye Street.»
«Ja, und?»
Lyndon Harrison war ein großer Junge und so spindeldürr, dass er offenbar sehr plötzlich in die Höhe geschossen war. Ich lächelte. Ich hoffte immer noch, dass er keine Probleme machen würde, doch sein mürrischer Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
«Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht deinen Gerichtstermin vergessen hast.»
«Wer bist du, verdammte Scheiße?», wollte er wissen, und da kam der Junge zurück, der mir die Tür geöffnet hatte.
«Was ist los, Baby?», fragte er und schmiegte seinen Kopf an Lyndons Schulter.
«Die will mich vor Gericht zerren», jammerte Lyndon und legte einen Arm um die Taille des Jungen. Seine Augen waren sehr blau und blutunterlaufen, sein Haar weißblond in den Spitzen, er trug weite Jeans, deren Schritt ihm fast zwischen den Knien hing und die mit einem Seil statt einem Gürtel zugebunden war. Ein Kiffer wie aus dem Bilderbuch.
«Du willst ihn ins Gefängnis bringen?», fragte sein Freund. Seine Augen strahlten. Anscheinend hatte er was übrig für dramatische Szenen.
Ich schüttelte den Kopf. «Er muss nur mit mir ins Büro kommen, damit wir einen neuen Termin machen und ein paar Dinge klären können.»
Na ja.
«Dazu habe ich heute keine Lust», verkündete Harrison.
Ach, Jungchen.
«Deine Mama hat mit ihrem Haus für dich gebürgt», erinnerte ich ihn. «Dir ist klar, dass sie es verlieren kann?»
Er sah auf mich herunter, als wäre ich die furchtbarste Langweilerin auf Erden. «Ich komme morgen», sagte er mit einem müden Blinzeln und wandte sich ab.
Ich packte sein rechtes Handgelenk und legte ihm die Handschellen an, und als er sich wie der Blitz umdrehte, ließ ich sie auch um das andere Handgelenk zuschnappen. «Tut mir leid, aber morgen passt mir nicht.»
«Wer bist du?»
«Kautionseintreibung», antwortete ich. «Gehen wir.»
«Cool», sagte sein Freund, als ich Lyndon aus der Tür schob.
«Kann Clifford mitkommen?», wollte Lyndon wissen. Sein Freund und der Hund folgten uns, als wir zu meinem Wagen an der Straße gingen.
«Kann dein Freund nicht auf ihn aufpassen?»
Lyndon schnaubte. «Clifford ist mein Freund, Mensch!»
Ich machte die Beifahrertür auf, half ihm auf den Sitz, zog den Sicherheitsgurt durch die Kette der Handschellen und schnallte ihn an, damit er nicht auf die Idee kam, eine Biege zu machen. «Und wie heißt der Hund? John?», fragte ich.
«Du bist echt eine totale Nervensäge», fluchte Lyndon.
Im Rückspiegel sah ich Clifford und den Hund mitten auf der von Eichen gesäumten Straße stehen. Clifford winkte leicht mit den Fingern, als wir losfuhren.
Liebling, ich bin zu
Hause.
Die Stimme war laut genug, um überall im beschaulichen Haus in
Morningside gehört zu werden. Der Aktenkoffer wurde auf dem Tisch
neben der Tür abgelegt und geöffnet, ein Paar enge Latexhandschuhe
kamen zum Vorschein. Ein Fach im Koffer schnappte auf, und ein
zwölf Zentimeter langes Fischmesser glitt heraus.
Wie war dein Tag?
Die Frage wurde laut, aber freundlich gestellt, die Kühlschranktür öffnete sich, jemand suchte nach einem Snack. Es war wirklich ein langer Tag gewesen, nicht einmal zum Essen hatte die Zeit gereicht. Dann wurde auf den Küchenboden gestampft, heftig und so laut, dass es unten im Keller zu hören war.
Warum so still? Immer noch sauer wegen gestern Abend?
Da rührte sich etwas. Der fette, graugetigerte Kater stand in der Tür und sah neugierig in die Küche. Man kannte sich bisher nur von der Straße draußen. Der Kater machte das Maul auf, aber mehr als ein leises Quieken brachte er nicht hervor.
Wo hast du dich denn versteckt?
Als ein Handschuh abgestreift und die Hand ausgestreckt wurde, zögerte der Kater nicht. Er kam sofort herbei und stupste die Hand mit dem Kopf.
Hast du Futter und Wasser? Komm, ich gebe dir was. Und dann kümmere ich mich um dein Frauchen, dein bedürftiges Frauchen, dein dummes, dämliches, bedürftiges Scheißfrauchen.
Am Küchentisch ein paar Schluck Wasser aus der Flasche und ein paar Scheiben von dem herben weißen Cheddar. Endlich den Tag abschütteln und ein bisschen entspannen, während der graue Kater sein Trockenfutter knabberte.
Tut mir leid, dass ich dich allein lassen muss, mein Freund, aber ich habe unglaublich viel zu tun. So viele Menschen warten. Wird Zeit, dass sie kriegen, was sie wollen.
Melissa Dumas war im erst teilweise fertiggestellten Keller, in dem Waschmaschine und Trockner standen und die Gartenmöbel lagerten, an einen alten Stuhl gefesselt. Einen Tag zuvor war sie, halb bewusstlos, an den Haaren die harte Treppe hinuntergeschleift worden. Ihr Kopf war gegen jede Stufe geknallt, sie hatte leise gestöhnt. Sie konnte nicht ermessen, wie oft auf sie eingestochen worden war, denn sie war immer wieder ohnmächtig geworden. Sie hatte um Wasser gebettelt und nur ein paar Tropfen bekommen, gerade genug, um sie am Leben zu erhalten.
Als sie ein Geräusch hörte, öffnete sie halb die Augen. Was sie sah, erschreckte sie: Die Bestie stand vor ihr, nur mit Papierhaube, Papierüberschuhen und Latexhandschuhen bekleidet.
Weißt du, wie lange du schon hier bist? Kannst du mich verstehen? Wie fühlt sich das an? Hörst du mich? WIE FÜHLT SICH DAS AN?
Als Melissas Kopf auf die Brust sackte, wurde er wieder angehoben. Ein Blick in die Augen, ein sanftes Lächeln. Das Lächeln war echt und nicht spöttisch oder böse gemeint. Manchmal entwickelt sich während der gemeinsam verbrachten Zeit eine gewisse Zuneigung für sie, ja ein Gefühl der Liebe für das, was sie von sich gegeben haben, für die vielen Stunden und die Geduld.
So müde, armes Kind? Keine Sorge. Ich habe die Katze gefüttert.
Ein Seufzen, ein Anflug von Bedauern. Nicht über das, was geschehen war. Nicht darüber, was noch geschehen würde, sondern weil es fast vorbei war.
Na gut, es wird Zeit. Ich muss noch meine Zeichen setzen. Und alles sauber machen.