17

Nie war jemand anders als Rauser selbst an sein Telefon gegangen, wenn ich ihn anrief. Noch nie. Ihre Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich war so verblüfft, dass ich sie nicht gleich einordnen konnte.

«Aaron, es ist für dich», rief sie.

Aaron? Ich hörte ein Rascheln, der Hörer wurde weitergereicht, gedämpftes Lachen. «Wer nennt dich so?», fragte ich, als er sich schließlich meldete.

«Eine Freundin», sagte er geheimnisvoll. Seine Stimme klang belegt, ich kannte diesen Tonfall genau. Zu viel Whiskey und zu viele Zigaretten.

«Weißt du, was daran nicht stimmt, Rauser? Du hast keine Freunde», witzelte ich, doch am liebsten hätte ich ihn angebrüllt und mit geballten Fäusten auf seine Brust getrommelt. Mein Gott, es fühlte sich an, als würde er mich betrügen. Er hatte mir nicht einmal erzählt, dass er jemanden kennengelernt hatte.

«Es ist Jo», flüsterte er verschwörerisch, und ich erkannte auch diesen Ton. Er prahlte, mein Gott, er prahlte mir gegenüber tatsächlich mit seiner Eroberung und flüsterte, damit sie ihn nicht hören konnte.

Jo? Wer zum Teufel ist Jo? Verwirrt durchforstete ich mein löchriges Gedächtnis, bis die Verbindung hergestellt war. Die Blutspurenexpertin! Die sagt Aaron zu ihm. Jo Phillips, die amazonenhafte, bescheuerte Blutspurenexpertin! Deshalb war sie also neulich Nacht am Tatort so vertraut miteinander gewesen. Die beiden hatten eine Geschichte laufen. Wann war Rauser schon einmal so fröhlich und humorvoll an einem Tatort gewesen? Sie hatten tatsächlich miteinander geflirtet, während David Brooks mit dem Gesicht in seinem Blut lag! Und ich dachte, sie macht mich an. Ich bin eine Idiotin. Dann fiel mir ein, dass ich Rauser vor ein paar Nächten eine SMS geschickt und keine Antwort erhalten hatte. Ich sank aufs Hotelsofa. Durch die Telefonleitung konnte ich Eis in einem Glas klirren hören. Rauser liebt Eistee. Er kann ihn literweise trinken, süßen Eistee mit viel Zucker. Ich stellte mir vor, wie er mit dem zwischen Ohr und Schulter geklemmten Telefon in seinen Garten schlendert und sich auf die Terrasse setzt, die er eigenhändig gebaut hat, die Sonne im Rücken und ein Glas in der Hand. Er pflegt Liebestöter zu tragen, billige Unterhosen, die man in Dreierpackungen im Supermarkt kriegt.

Ich berichtete ihm, was Neil herausgefunden hatte und dass das Gerichtsgebäude in Fulton der zentrale Ort sein könnte, wo der Täter seine Opfer aufspürt und wo David Brooks und die anderen, die mit Prozessen zu tun hatten, ihrem Mörder begegnet waren.

«Wahrscheinlich bekommt er Kopien aus der Verwaltung. Wird dort Buch darüber geführt, wer Akten mitnimmt?»

«Das werde ich jedenfalls herausfinden», sagte Rauser aufgeregt. «Ich bin schon dort gewesen, wenn Kuriere Gerichtsakten abgeholt haben. Vielleicht ist es ein Kurier. Und jeder mit einem Aktenzeichen, einem Datum und drei Dollar kann Kopien kriegen. Mein Gott, Keye, das ist großartig. Ich danke euch. Mannomann. Ich lasse mir von der Sicherheitsfirma, die das Gericht überwacht, die Bänder geben. Die haben dort haufenweise Kameras. Außerdem stelle ich sofort ein paar Beamte dorthin ab und lasse die Gerichtsmitarbeiter an den Sicherheitskontrollen befragen. Die wissen, wer kommt und geht. Warte mal einen Moment, ja? Ich muss Jo tschüs sagen.»

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Möglich, dass meine Augen ein bisschen hervortraten. Ich hörte gedämpfte Stimmen, Gelächter. O bitte. Nachdem er mich zu lange hatte warten lassen, kehrte das undankbare Arschloch ans Telefon zurück und sagte: «Tut mir leid, Jo musste weg.»

«Wird eine neue Staffel von Xena gedreht?», fragte ich. Ich bemühte mich nicht, meine Verärgerung zu verbergen.

Mr. Sensibel lachte und machte Fauch- und Heulgeräusche, mit denen Männer überall auf der Welt Frauenrivalitäten meinen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, tigerte ich durch mein Zimmer und konnte mich gar nicht mehr abregen. Da lieferte ich ihm solche Informationen, Informationen, die die gesamte Ermittlung in eine neue Richtung lenkten, und er wagte es, mich warten zu lassen, weil er diese Jo verabschieden wollte. Ich war fuchsteufelswild, ohne genau zu wissen, warum eigentlich. Es stand mir nicht zu, wusste ich, aber das half nichts. Schließlich ging ich runter ins Café und aß Limonenkuchen, was besser war, als gegenüber in der Bar zu sitzen und Wodka Lemon zu trinken. Dr. Shetty aber würde es trotzdem mit Sicherheit missbilligen. Mir wurde klar, dass ich Rauser irgendwo im Hinterkopf für mich selbst beansprucht hatte. Er war meine Stütze. Mir war nie eingefallen, dass jemand daherkommen und ihn mir wegnehmen könnte. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich mein Bein gehoben und ihn an Ort und Stelle angepinkelt. Es war absurd.

Ich schlief nicht gut und hatte am Morgen überhaupt keine Lust, mit Buchhaltern Vereinbarungen zu treffen. Ehrlich gesagt, hatte ich zu nichts Lust. Ich war ziemlich durcheinander, und es ist noch nie meine Art gewesen, mich in die Arbeit zu stürzen, wenn mir etwas zu schaffen macht. Ich bin eher der Typ, der die Jalousien runterzieht, ins Bett kriecht und Süßigkeiten in sich reinstopft. Ich trank zwar nicht mehr, doch in vielerlei Hinsicht folgte ich noch immer den gleichen Verhaltensmustern, die ich damals gelernt hatte. Sich abschotten und sich gehenlassen standen ganz oben auf der Liste.

In Denver war es sonnig und knapp zwanzig Grad warm, als ich mein Hotel verließ und einen gemieteten Jeep Liberty bestieg. Es war Samstag. Die Chancen, den Mann, der meinen Auftraggeber bestohlen hatte, zu Hause anzutreffen, standen nicht schlecht.

Aber dann verfuhr ich mich. Irgendwie fehlt mir ein Orientierungssinn, und mit Karten kann ich auch nicht viel anfangen. Da ich außerdem eine angeborene Neigung zum Abschweifen habe, gelingen mir meistens ein paar unbeabsichtigte Stadtrundfahrten, wenn ich unterwegs bin. Heute war es genauso. Die Fahrt, die eigentlich nur eine halbe Stunde gedauert hätte, wurde dreimal so lang, zudem war ich abgelenkt und mit den Gedanken überall, nur nicht bei der Arbeit und der Vereinbarung, die ich an diesem Morgen für meinen Auftraggeber abschließen sollte. Ich musste ständig an Rauser und die Amazone Jo denken, und ich wollte nicht so weit entfernt von den Ermittlungen sein, die gerade jetzt spannend wurden. Aber fesselte mich der Fall wirklich aus tiefem Interesse? Oder kam ich nur deshalb nicht davon los, weil er die Leere füllte, weil er etwas war, in das sich ein obsessiver Charakter mit dem Hang zur Sucht verbeißen konnte?

Jedenfalls hatte ich ziemlich miese Laune, als ich den gemieteten Jeep endlich auf Roy Echeverrias Auffahrt lenkte. Ich hatte kein Mitleid mit irgendeinem schmierigen Buchhalter, der mit den Fingern in der Keksdose seiner Firma erwischt wurde. Der Mann hatte sich mit dem Geld, das er meinem Auftraggeber gestohlen hatte, eine neue Identität gekauft und eine beträchtliche Anzahlung auf ein Haus im Westridge-Bezirk von Highlands Ranch geleistet, in einer zwölf Kilometer südlich von Denver gelegenen, wuchernden Gemeinde vom Reißbrett, mit Golfplätzen, Grünflächen und dem dreitausendfünfhundert Hektar großen Naturschutzgebiet Wildcat Mountain. Nicht schlecht für einen kleinen Angestellten.

Echeverria kniete im Vorgarten und verteilte Holzspan zwischen den Sträuchern unter seinen Fenstern. Er trug Arbeitshandschuhe, Jeans und Gartenschlappen aus Gummi. Er hatte einen dunklen Teint, große dunkle Augen, schwarzes Haar und konnte nicht älter als dreißig sein. Ein recht attraktiver, südländischer Typ, der introvertiert wirkte und dünner als auf dem Foto seines alten Firmenausweises, von dem eine Kopie in meiner Akte steckte.

«Mr. Echeverria», sagte ich, als ich näher kam. «Mein Name ist Keye Street. Ich würde mit Ihnen gerne über einige in Ihrem Besitz befindliche Dinge sprechen, die Eigentum Ihres ehemaligen Arbeitgebers sind.»

Er erhob sich langsam, zog die Gärtnerhandschuhe aus, ließ sie auf den Boden fallen und wischte sich die Hände an der Jeans ab.

«Das muss ein Irrtum sein», sagte er ruhig und sogar mit einem Lächeln. Sein Akzent war deutlich. Aus seiner Akte wusste ich, dass er aus dem Baskenland stammte. «Mein Name ist …»

Ich hielt die Kopie seines Firmenausweises hoch. «Sie heißen Echeverria. Können wir uns diesen Scheiß sparen? Möchten Sie hier reden, oder sollen wir reingehen?»

«Sparen Sie sich den Scheiß», brüllte er zu meiner Überraschung, kam sehr aggressiv auf mich zu, schubste mich mit beiden Händen weg und schrie «Nein!», so wie man es in Selbstverteidigungskursen lernt. Während ich nach hinten umkippte, lief er davon. Die Schlappen schlugen wie Flip-Flops auf den Boden, und Echeverria musste seine Knie ziemlich hochziehen, um nicht zu stolpern. Er sah aus wie ein wild gewordener Schwan.

Ich bin zwar klein, aber schnell. Zwei Grundstücke weiter hatte ich ihn so weit eingeholt, dass ich mich auf seine Beine werfen konnte. Er versuchte sich loszureißen und verlor einen Schuh. Ich hielt ihn so lange fest, bis er stöhnend zu Boden krachte. Er rang nach Luft, und ich kletterte auf seinen Rücken, versuchte, ihn auf den Boden zu drücken und gleichzeitig nach meinen Handschellen zu greifen. Doch er zappelte herum wie ein Fisch an Land, warf mich ab und drehte sich um. Ich schlang meine Arme um seinen Kopf, und wir wälzten uns, bis er mir so fest in die Schulter biss, dass ich loslassen musste. Dann lief er zum Golfplatz und enterte einen der Elektrowagen. Als er über den Rasen davonfuhr, zeigte er mir den Stinkefinger.

«Scheiße!» Ich rappelte mich auf und klopfte den Dreck von mir ab.

Auf einer Veranda wenige Meter entfernt standen eine Frau und zwei kleine Kinder, die mich mit offenen Mündern anstarrten. Kaum tat ich einen Schritt auf sie zu, klammerten sie sich an die Beine der Frau, als wollte ich sie rösten und auffressen.

«Keine Sorge, wir kennen uns», sagte ich und lächelte. «Wir spielen nur ein bisschen.»

Die drei starrten mich immer noch an.

Ich fuhr den Jeep außer Sichtweite, parkte ihn eine Straße weiter und kehrte dann zu Roy Echeverrias Haus zurück. Die Tür war nicht abgeschlossen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, eine Frau niederzuringen und mit einem Golfwagen abzuhauen. Im Bad im ersten Stock fand ich ein Fläschchen Jod, zog den Kragen meines T-Shirts über die Schulter und untersuchte die Bisswunde.

«Scheißkerl.» Es sah nicht schön aus, die Haut hatte sich bereits dunkelrot verfärbt, außerdem tat es höllisch weh. Das Jod brannte und trieb mir die Tränen in die Augen. «Jetzt reicht’s», brummte ich und ging ins Schlafzimmer, wo ich nach kurzer Suche in einem Schuhkarton im Schrank eine 9 mm und Munition fand. Ich lud die Pistole und ging nach unten.

In der Küche stand eine Kanne mit Kaffee, ich schenkte mir einen Becher ein und setzte mich hin. Der Typ trug nur einen Schuh und fuhr einen gestohlenen Golfwagen. Ich glaubte nicht, dass er lange wegbleiben würde, und ich hatte recht. Nach nur einer Stunde ging ganz langsam die Haustür auf. Ich hörte, wie er leise durchs Haus schlich und Schranktüren öffnete und den Duschvorhang zurückriss. Dann spähte er mit großen Augen um die Ecke und sah mich am Küchentisch sitzen. Sein Blick wanderte kurz zur Waffe, dann zum Kaffeebecher, zur Kaffeemaschine und zurück zu mir.

Ich legte meine Hand auf die 9 mm. «Setzen Sie sich, Mr. Echeverria.»

Er fluchte leise, tappte barfuß in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. «Warum geht bei mir nur immer alles schief?»

«Na, super, ein Jammerlappen», sagte ich. «Das hat mir gerade noch gefehlt.»

Später erzählte er mir, dass er einfach ein normales Leben führen wollte, als er sich das Haus und seinen neuen Namen gekauft hatte. Doch seit seiner Flucht war nichts mehr normal gewesen. Er hatte die ganze Zeit Angst gehabt und sich verfolgt gefühlt. Er fürchtete, dass man ihn eines Tages umbringen würde für das, was er getan hatte.

Die Tonbänder befanden sich in einem Banksafe. Gleich Montagmorgen, versprach er, wollte er sie holen, meine Vereinbarung unterschreiben und den Scheck über fünfhunderttausend Dollar annehmen. Nur für den Fall, dass er seine Meinung änderte, lud ich mich selbst für das Wochenende ein. Zuerst protestierte er halbherzig, doch als ihm klar war, dass er mich nicht loswurde, gewöhnte er sich schnell an den Gedanken.

Montagmorgen wusste ich genau, was er getan hatte und wie er seine Tat rechtfertigte. Alles, bis ins kleinste quälende Detail! Ich kannte seine Lebensgeschichte, den Namen seiner Schwester, und ich wusste, dass er mit dreizehn Windpocken gehabt hatte. Ich kannte das Geburtsdatum seiner zweiten Freundin und seine Noten in der Highschool. Der Hurensohn war keine Sekunde still. Hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn selbst umgebracht.

«Auf den Bändern erfahren Sie alles», sagte er zum dreizehnten Mal, beim Kaffee in der Essnische, die mein Auftraggeber bezahlt hatte. «Wie die Chefs dort über Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder, Gott behüte, mit einem Akzent denken. Die erzählen sich Witze bei diesen Treffen. Rassistische Witze. Aber es waren nicht nur die Witze, in der ganzen Firma sind Diskriminierungen an der Tagesordnung.» Er sah mich an. «Die würden auch über Sie lachen. Die würden sich weigern, Sie zu befördern und Ihnen einen angemessenen Lohn zu zahlen. Weil Sie keine Weiße sind.»

Er spielte auf meine Herkunft an, über die ich selbst nichts wusste. Er hoffte, irgendeine versteckte Wut in mir zu entfachen. Aber Fehlanzeige. Mittlerweile war ich ihm und dem Klang seiner Stimme gegenüber schon völlig taub. Wenn er mir erzählt hätte, dass er am liebsten in ein riesiges Fass Erdnussbutter wichsen möchte, hätte ich genickt und gesagt, wie nett.

Ich hörte mir auch die Bänder nicht an, nachdem ich sie in den Händen hatte. Es interessierte mich nicht. Meine Arbeit bestand nicht darin, die Welt vor Arschlöchern zu retten. Ich wollte nur die zweitausend Dollar haben, die mir zustanden, und ohne Kloß im Hals nach Hause gehen. Ich stopfte die Bänder in meinen Koffer, verschloss ihn und nahm ihn als Handgepäck mit ins Flugzeug. Ich hatte meinen Job erledigt, und das war alles, was mich interessierte.

In der Dämmerung des Montagabends beobachtete ich kurz vor dem Abflug durch das winzige Fenster einer 767, wie die Sonne hinter den westlichen Berghängen versank. Da ich völlig erschöpft davon war, die ganze Zeit auf Echeverrias Sofa nicht einzunicken, schlief ich ein, kaum dass sich die Maschine in den weiten Himmel Colorados erhoben hatte.

Ich träumte, ich wäre in einem kleinen Restaurant, in dem der Salat mit Cherrytomaten und kleinen Salzpäckchen auf großen weißen Tellern serviert wurde. Neben meinem Teller lag eine in eine Papierserviette gewickelte Pistole, und daneben stand ein Martiniglas, in dem ein Wunschknochen steckte. Im Traum wusste ich genau, dass der Wunschknochen wichtig und eine Warnung war, und plötzlich bekam ich Angst.

Als mich eine Stewardess fragte, ob ich etwas essen wolle, wachte ich auf. Laut Namensschildchen an ihrem marineblauen Blazer hieß sie Barbra, und Barbra hatte ein bisschen zu viel Lippenstift aufgetragen. Große, furchterregend rote Lippen sind nicht das, was man sehen möchte, wenn einem das Herz rast.

«Koffeinfreien Kaffee», sagte ich und klappte meinen Laptop auf. Dr. Shetty stand darauf, Träume zu analysieren. Für meinen letzten – ich war auf einem Schokoriegel in eine Ziegelmauer gerast – hatte sie Tage gebraucht. Ich beschloss, ihr eine E-Mail zu schicken. Sie würde sich bestimmt freuen.

Und dann sah ich es. In meinem Postfach steckte eine neue Nachricht, wie der Wunschknochen im Glas in meinem Traum. Ich bekam keine Luft mehr. Die Frau neben mir wollte wissen, ob alles in Ordnung sei. Ja, ja, alles bestens, sagte ich.

Der Stil des Briefes war unverkennbar. Ich merkte sofort, dass der Autor dieselbe Person war, die Rauser geschrieben und Menschen gequält und ermordet hatte.

Und nun bekam ich wie vorher im Traum tatsächlich Angst. Der Brief war zwar an Rauser adressiert, doch mein Name erschien in der Copyzeile.

 

Wertester Lieutenant,

Sie fragen sich, warum es bei David anders war, stimmt’s? Was ich mit ihm getan habe, wo ich es getan habe, wie ich ihn zurückgelassen habe, alles war anders. Auch bei William LaBrecque war es anders. Haben Sie schon verstanden, weshalb? Ich sage Ihnen, was sie gemeinsam hatten: Beide waren eine Plage, die ausgerottet werden musste. Zugegebenermaßen aus sehr unterschiedlichen Gründen, trotzdem waren beide eine Schande. Also wirklich, das alles muss Sie doch quälen. Was haben die Psychologen Ihnen gesagt? Dass sich die Methode ändert, dass sich das Motiv ändert, dass wir lernen und uns entwickeln, dass Menschen vielschichtig sind?

Ihre Psychologen wissen so wenig über mich wie Sie.

Dafür habe ich ein paar Dinge erfahren. Beginnen wir mit Ihrer neuen Beraterin. Ich habe ihr LaBrecque gegeben. Wussten Sie das? Und was für ein Kitzel muss das für eine Profilerin gewesen sein. Sie war ganz allein dort draußen auf dem Land und in dieser Hütte. Ich hätte ohne Probleme zurückkehren können. Aha, jetzt habe ich Ihre Aufmerksamkeit. Was überrascht Sie am meisten? Dass ich weiß, dass sie dort war, oder dass mir ihre Vergangenheit beim FBI bekannt ist? Ich habe gesehen, wie Sie gemeinsam eintrafen, um den armen David zu finden. Was hat eine Privatdetektivin an einem Tatort zu suchen, habe ich mich gefragt. Das musste ich herausfinden. Spüren Ihre Kollegen die erotische Spannung zwischen Ihnen? Oder der Polizeichef oder der Bürgermeister? Ich spüre sie. Erregt es Sie, wenn die Kleine meine Taten für Sie rekonstruiert? Sprechen Sie im Bett über mich? Arbeit und Vergnügen muss man auseinanderhalten, Lieutenant, das sollten Sie doch wissen.

Sie denken, ich hätte Fehler gemacht bei David, nicht wahr? Weil ich ihn an einen öffentlichen Ort gebracht und auf diese Weise benutzt habe. Trotzdem konnten Sie in dem Hotelzimmer nichts finden. Verzweifeln Sie nicht, Lieutenant. Es hätte Ihnen nämlich auch nicht geholfen. Ich bin in keiner Datenbank. Meine DNA würde Ihnen nur eines bringen: einen Hinweis beim nächsten Mal.

Übrigens, dieser Name, Wunschknochen, ist lächerlich, finden Sie nicht auch? Die Medien reißen immer alles aus dem Zusammenhang, anstatt die ganze Geschichte zu erzählen. Worauf werden sie sich wohl als Nächstes stürzen? W.

 

Ich lehnte mich zurück und holte bebend Luft. Die Frau neben mir war verschwunden. Ob mit meiner Unruhe und Anspannung auch mein Körpergeruch stärker geworden war? Ich versuchte, möglichst unauffällig unter den Achseln zu riechen. Vielleicht hatte die Frau irgendwo einen freien Platz gefunden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Ich schaute wieder auf die Worte auf meinem Laptop, die Worte eines Psychopathen. Er machte sich über den Namen lustig, den ihm die Medien gegeben hatten, unterzeichnete aber mit W. Er begann, seine neue Identität zu akzeptieren.

Was sollte diese E-Mail? Die Absicht war, so nahm ich an, zwei Drohungen auszusprechen. Mit der ersten kündigte er einen weiteren Mord an. Meine DNA würde Ihnen nur eines bringen: einen Hinweis beim nächsten Mal. Die zweite war etwas kryptischer. Worauf werden sie sich wohl als Nächstes stürzen? Betraf das Rauser? Oder Rauser und mich?

Ich versuchte, mehr über die Urheberschaft der E-Mail zu erfahren. Sie war an Rauser und an mich geschickt worden, weitere Adressen waren nicht sichtbar, und zwar von einer kostenlosen E-Mail-Adresse, die bestimmt nur für diesen Fall eingerichtet worden war und zunächst nichts über den Verfasser sagte. Doch das Internet zu benutzen war mutig, denn Neil und andere Experten konnten den Weg zurückverfolgen und herausfinden, von welchem Computer die E-Mail stammte. Offenbar begann Wunschknochen sich zu langweilen.

Ich musste daran denken, wie ich mich in der Nacht des Mordes an Brooks zu der größer werdenden Menge hinter der Absperrung umgesehen und mich gefragt hatte, ob der Mörder uns beobachtete. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, irgendwas hatte in der Luft gelegen. Sicher hatte die Polizei die Aufnahmen von den Schaulustigen an den einzelnen Tatorten bereits ausgewertet und verglichen und die Leute überprüft. Doch vielleicht sollte ich noch einmal genauer hinschauen. Ich musste daran denken, wie ich im Regen auf dem Feldweg zu der Hütte gefahren war, in der ich LaBrecque gefunden hatte. Ich versuchte, mich genau zu erinnern. Auf der Hauptstraße hatte Verkehr geherrscht, aber ich hatte nicht damit gerechnet, an den Ort eines Mordes zu kommen. Ich sollte einen flüchtigen Verdächtigen finden, einen Frauenschläger, und hatte nur nach seinem blauen Pick-up Ausschau gehalten. Warum LaBrecque? Wie passte er ins Bild? Woher wusste der Täter, dass ich ihn suchte?

Ich habe ihr LaBrecque gegeben. Wussten Sie das? Und was für ein Kitzel muss das für eine Profilerin gewesen sein. Sie war ganz allein dort draußen auf dem Land und in dieser Hütte. Ich hätte ohne Probleme zurückkehren können.

Hast du mir tatsächlich LaBrecque gegeben? Oder hast du einfach Polizeiberichte in die Hände gekriegt und beschlossen, ihn dir selbst zu schnappen? Ein weiteres kleines Drama nur zum Spaß? Oder um die Profilerin zu erschrecken? Warum stört es dich so, dass ich mit diesem Fall zu tun habe? Und warum bist du nicht zurückgekehrt?

Ich trank den Kaffee, den mir Barbra mit den großen roten Lippen gebracht hatte, und spülte ein paar Schmerztabletten runter. Die Schulter tat mir nach Roy Echeverrias Biss noch immer weh, und mein Schädel dröhnte. Der Traum, der Brief, dieser Täter, alles an diesem Fall faszinierte mich und stieß mich zugleich ab, es war, als würde ich meine Zehen in ein Haifischbecken stecken. Das war natürlich einerseits der Reiz und andererseits das Grausige an dieser Arbeit.

Sie fragen sich, warum es bei David anders war, stimmt’s?

Ja, stimmt, sag’s mir. Warum war es bei David anders? Er ist ein weiterer Schlüssel zu deiner Vergangenheit, oder?

Der Mörder nannte das Opfer im Brief nur beim Vornamen. Noch ein Zeichen von Vertrautheit und Zuneigung. Echte oder symbolische?

Auch bei William LaBrecque war es anders. Haben Sie schon verstanden, weshalb?

Nein, verflucht nochmal, habe ich noch nicht verstanden. Aber in dem Moment, als ich LaBrecque am Boden liegen sah, wusste ich, dass du vor mir dort gewesen warst. Ich habe überall deine Zeichen gesehen. Warum drehst du sie um? Rauser hatte mich das auch schon gefragt. Mir fiel immer noch keine Antwort ein.

Ich holte mein Notizbuch hervor und erstellte eine neue Liste der Opfer, und zwar in der Reihenfolge, in der sie ermordet wurden. Ich zog einen Pfeil vom ersten Namen, Anne Chambers, zum letzten, William LaBrecque. Beide waren mit außerordentlicher Wut malträtiert, beide mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden, beide waren durch stumpfe Gewalteinwirkung gestorben. Hatten diese beiden Menschen irgendeine persönliche Verbindung zum Mörder? Oder untereinander? Ich versuchte, mich an die Einzelheiten aus Anne Chambers’ Akte zu erinnern. Ich hatte mir die Polizeiakte sowie die Berichte und Fotos der Autopsie und der Spurensicherung angesehen. Man hatte festgestellt, dass Tatort und Fundort der Leiche identisch waren, was für diesen Täter typisch war. Der Mord an Anne fand in ihrem Zimmer des Studentenheims statt und war besonders brutal gewesen. An ihrem Hals und an ihren Handgelenken hatte es tiefe Schlingenmale gegeben, und sie war mit dem Fuß einer Lampe so heftig geschlagen worden, dass ihre Gesichts- und Schädelknochen zertrümmert wurden. Ich dachte an LaBrecques Gesicht, an das blutige Nudelholz. Nur an diesen beiden Tatorten war die Tatwaffe sichergestellt worden. Nachdem die Opfer so brutal geschlagen worden waren, dass sie bewusstlos oder bewegungsunfähig waren, wurden sie gefesselt, sodass der Mörder mit dem beginnen konnte, was mittlerweile als Ritual zu bezeichnen war: mit dem Stechen und Beißen in den Genitalbereich. Doch auch das war bei Anne Chambers anders gewesen. Bei Anne ging die Brutalität über Steiß, Gesäß und Oberschenkel noch weit hinaus. Sie war mit einem Messer penetriert und Klitoris und Brustwarzen waren abgeschnitten worden. Der Gerichtsmediziner zählte über hundert Stichwunden – eine unfassbare Raserei, der wir so an den vier jüngsten Tatorten nicht begegnet waren. Als hätte es bei seinem ersten Mord eine besondere, persönliche Verbindung gegeben, außergewöhnlichen Hass und Zorn. Ich musste die Laborberichte zu LaBrecque ansehen, um zu vergleichen, ob das Moment der Demütigung in seinem Fall genauso ausgeprägt war.

David Brooks war einem anderen Mörder begegnet als Anne Chambers. Sein Mörder hat sein Leben schnell und von hinten beendet, geräuschlos, und er hatte seinen toten Körper bedeckt, um seine Würde zu schützen. Es gab keinerlei Hinweise auf sadistisches Verhalten. Der Sadist will das Opfer leiden sehen und geilt sich auf am Schmerz und an der Angst des Opfers. Sadistisches Verhalten kann erklärtermaßen keine Taten nach Eintritt des Todes beeinhalten, denn wenn das Opfer tot ist, kann es nicht mehr leiden, nicht mehr schreien oder den Peiniger anflehen. All die Bisse und Stiche in den Genitalbereich waren Brooks nach Eintritt des Todes zugefügt worden. Er konnte den Schmerz nicht mehr spüren. Sie hatten also ein anderes Motiv, ein sexuelles und rituelles, sie mussten irgendein heftiges Verlangen des Mörders befriedigen.

Anne Chambers hatte mehr gelitten, sie wurde länger am Leben erhalten und sexuell verstümmelt. LaBrecque war so brutal geschlagen worden, dass ich sein Gesicht kaum noch erkennen konnte. Brooks hatte am wenigsten gelitten. Obwohl nur er eine Verbindung zum Zivilrecht hatte, war allen drei Fällen etwas gemeinsam: die typische Manipulation des Tatortes, die typischen Stich- und Bisswunden, jedes Mal in den gleichen Körperzonen. Was hatte das zu bedeuten?

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Ich musste mit Rauser sprechen. Ich fragte mich, ob er die E-Mail bereits erhalten hatte und was er darüber dachte. Und ich betete, dass sie nicht an die Zeitungen geschickt worden war.