21

Es war ein komisches Gefühl, Charlies Blut vom Boden zu wischen. Der süße Charlie, der Kerl, der mir in einer Baseballkappe Geschenke mitbringt. Mein bekloppter Freund Charlie.

Neil half mir, ihn hochzuhieven, und erklärte sich bereit, ihn nach Hause zu fahren, wo auch immer er zu Hause war. Dass ich nicht einmal wusste, wo er wohnte, bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Wir dachten alle, dass er irgendwie betreut wurde, doch niemand wusste Genaueres. Himmel, was sollte ich nun mit Charlie machen? Er war mein Freund gewesen. Er hatte zu unserer bunten Truppe gehört. Ich hatte mir nie etwas dabei gedacht, mit ihm allein zu sein. Das also ist Charlie, wenn er keine Medikamente nimmt? Der Vorfall würde alles zwischen uns ändern. Was war bei diesem Unfall mit seinem Gehirn passiert? Wer war er, bevor der Lkw ihn überfahren hatte, vor all den Operationen und bevor er Job und Familie verloren hatte? Ich beschloss, mit Neil darüber zu sprechen, ob wir uns nicht die ärztlichen Unterlagen von Charlie beschaffen sollten. Anscheinend war es ja nicht besonders schwer, an vertrauliche Dokumente zu kommen. Der Inhalt meiner Akten war jedenfalls gerade in allen Einzelheiten über Channel Eleven öffentlich gemacht worden. Ich wollte genauer wissen, was mit Charlie passiert war. Auf unsere Weise liebten wir ihn alle. Ich wollte glauben, dass er wirklich nur seine Medikamente vergessen hatte.

Die Tür ging auf und Rauser kam rein. «Ich brauche was zu futtern», verkündete er. «Und wir müssen reden. Hör zu, Keye, klar, dass du sauer bist, aber nur damit du es weißt, ich habe mich dafür eingesetzt, dass du am Fall beteiligt bleibst. Es war nicht meine Entscheidung. Also komm bitte wieder runter.»

Ich schwieg.

«Wollen wir hier abhauen und zum Chinamann gehen?» Er grinste mich an. «Schon mal was von chinesischem Essen gehört?»

«Wir nennen es einfach Essen.»

Er legte einen Arm um mich. «Wenn der Witz nicht so alt und mies wäre, würde ich lachen», sagte er, lachte aber trotzdem. «Wie geht’s dir? War eine echt beschissene Woche, was?»

Hinter Rauser bewegte sich etwas. In der offenen Tür stand Jacob Dobbs. Er machte ein Gesicht, als hätte jemand einen fahrengelassen.

«Oh, welch Freude. Der Prinz der Finsternis.» Mein Blutdruck stieg sofort. Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Hass ist ungesund.

Rauser kicherte und Dobbs sagte: «Sachlich und charmant wie immer.»

«Wir wollten gerade los», sagte Rauser kühl. Dobbs hatte sich bei Rauser bestimmt nicht beliebt gemacht, indem er, kaum in der Stadt angekommen, eine Pressekonferenz gegeben hatte, ohne vorher mit den ermittelnden Beamten über den Fall zu sprechen. Auch mir war die Galle hochgekommen, als ich das wichtigtuerische Arschloch dort auf der Treppe gesehen hatte, doch die Wahl des Ortes war genial gewesen. Dobbs wusste genau, dass er mit einer Pressekonferenz auf der Treppe des Gerichtsgebäudes dem Mörder eine Nachricht sandte. Wir wissen jetzt, wo wir suchen müssen. Wir sind dir auf den Fersen. Und zugleich hatte er so den Familien der Opfer ein Gefühl von Sicherheit, Schutz und Autorität vermittelt.

Dobbs ignorierte Rauser. «Hübsches Plätzchen», sagte er und ließ seinen Blick durch mein Loft schweifen. «Wenn man Beton mag. Sie sind also tatsächlich wieder auf die Beine gekommen, wie ich sehe. Na ja, abgesehen von der bedauerlichen Presse.»

«Was kann ich für Sie tun, Jacob?» Ich hatte ein Lächeln aufgesetzt, bei dem mir alle Muskeln wehtaten.

«Ich dachte eigentlich, Sie würden mich erwarten. Ich hatte doch gesagt, dass ich gerne Ihre Notizen und Unterlagen über die Wunschknochen-Fälle haben würde.» Er zog sein Jackett aus und hängte es ordentlich über die Lehne von Neils Schreibtischstuhl.

Rauser hob resigniert die Arme. «Hast du irgendwas im Kühlschrank? Ich muss was essen.»

Dobbs folgte Rauser in die Küche. «Gute Idee. Ich sterbe vor Hunger.» Er krempelte seine Hemdsärmel hoch, während Rauser und ich den Kühlschrank durchsuchten. «Besonders diese Sache mit dem Brief an Sie gefällt mir nicht», sagte er. «Ich möchte nicht, dass Sie noch tiefer hineingezogen werden.»

Natürlich nicht.

«Außerdem wüsste ich gern», fuhr Dobbs mit einem dünnen Lächeln fort, «warum der Täter versucht hat, gerade mit Ihnen zu kommunizieren. Liegt es einfach daran, dass Sie als Teil dieser Ermittlung verfügbar und deshalb Freiwild waren, oder haben Sie ihn irgendwie aufgefordert? Sie müssen sich missachtet gefühlt haben, nachdem Sie gefeuert wurden.» Er machte eine kurze Kunstpause und setzte dann hinzu: «Wieder einmal.»

«Aufgefordert?»

«Sie hatten keinen anderen Kontakt mit dem Mörder? Gab es keine Briefe vor dieser E-Mail, die Sie angeblich von ihm erhalten haben? Vielleicht dachten Sie, es würde helfen, wenn Sie Kontakt mit ihm aufnehmen.»

«Das ist lächerlich, und das wissen Sie.» Ich verlor allmählich die Geduld. Ich klatschte etwas Käse und Salat auf ein Brot, kleckste ein bisschen Senf drauf und knallte es auf einen Teller vor Dobbs.

«Er hat Rosen ins Krankenhaus geschickt», berichtete Rauser und beschrieb die Grußkarte.

«Über einen Floristen?», fragte Jacob.

Rauser nickte. «Als der Laden gestern Morgen aufmachte, fanden die Angestellten einen Brief mit dem Auftrag und einer Barzahlung. Also haben sie den Strauß geliefert. Wir haben den Umschlag sichergestellt, konnten aber keine Spuren entdecken.»

Dobbs wandte sich wieder an mich. «Auch noch Rosen? Eine Mail, eine Manipulation am Wagen und nun Rosen. Interessant. Gibt es noch etwas, was Sie uns sagen möchten? Sie würden die Ermittlungen doch nicht behindern, oder?»

«Jetzt machen Sie aber mal halblang.» Rauser zog einen Stuhl heran und setzte sich Dobbs gegenüber. «Keye behindert uns nicht. Sie hat nicht drum gebeten. Sie ist hier das Opfer.»

Ich schlug mit der Hand auf den Tisch. Dobbs’ Sandwich machte einen Hüpfer auf dem Teller. Rauser sah mich an, als hätte ich ihm eine geknallt. «Ich bin kein Opfer.»

«Hey, hey, was ist das denn? Beziehungsstreit?» Dobbs’ Augen funkelten provokativ auf eine Weise, dass ich mich sofort wieder unwohl fühlte. So wie früher. Seine Augen, seine Worte, seine Geschichten, seine Hände. Beim FBI hatte ich eine Menge Zeit damit verbracht, ihm aus dem Weg zu gehen.

Rauser war aufgesprungen und hatte seine rechte Faust geballt. «Worauf wollen Sie hinaus, Dobbs?»

«Moment, Moment.» Ich hob meine Hände. «Immer mit der Ruhe. Rauser, setz dich, bitte. Verschnaufen wir mal alle kurz, okay?»

Rauser nahm sein Sandwich und ließ sich auf den Stuhl fallen.

Ich schaute Dobbs an. «Ich würde nie absichtlich in welcher Form auch immer mit einem Verdächtigen in Kontakt treten. Niemals. Das wäre nicht vorschriftsmäßig, unmoralisch, unprofessionell, dumm und gefährlich.» Und um des lieben Friedens willen sagte ich, mir sei klar, wer in diesem Fall das Sagen hatte, nämlich er allein. Was natürlich völlig gerechtfertigt sei, denn er habe es verdient und sei sowieso ungefähr der verdienstvollste Typ auf Erden. Bevor meine Schleimerei vollends ins Lächerliche abdriftete, hörte ich auf. Rauser stöhnte leise und stopfte sich alte Chips in den Mund. Ich ging zum Kühlschrank, nahm die Plastikfolie von dem Teller mit Neils Keksen und stellte ihn wie ein Friedensangebot vor Jacob Dobbs.

Dobbs betrachtete mich skeptisch, ehe seine Miene milder wurde, er die Hände aneinanderlegte und sein Kinn auf die Fingerspitzen stützte. Eine Geste, die Nachdenklichkeit anzeigen sollte. «Dann begraben wir das Kriegsbeil, oder?», sagte das selbstgerechte kleine Arschloch. «Was meinen Sie?» Er nahm sich einen Keks und biss hinein. «Geben Sie mir Ihre Unterlagen, und wir machen zusammen ein bisschen Brainstorming?»

Ich durchschaute seine Taktik. Ich sollte ihm alles überlassen, was ich zur Ermittlung beitragen konnte, und er würde dann natürlich als Einziger die Anerkennung einstreichen.

«Selbstverständlich», sagte ich und legte ihm einen weiteren Keks auf den Teller.

Rauser machte ein mürrisches Gesicht, und wir aßen schweigend. Nachdem Dobbs sein Sandwich und vier Kekse verputzt hatte, erhob er sich und entschuldigte sich höflich zur Toilette. Während er weg war, versuchte ich, Neils Espressomaschine in Gang zu kriegen.

Dann gingen wir mit unseren Kaffeetassen in den Hauptraum und ließen uns auf den ledernen Sitzelementen nieder.

Dobbs gähnte und legte seine Füße hoch. «Unkontrollierte Wut», sagte er und gab ein geheimnisvolles Brummen von sich, wie es sich Ärzte und Automechaniker angeeignet haben. Er las laut aus dem vorläufigen Profil und den Opferanalysen vor, die ich im Krankenhaus beendet und dann zu Hause ausgedruckt hatte, als würde er einen Aufsatz bewerten. Ich hatte kein Problem damit. Wenn man die Kritik von Kollegen an der eigenen Arbeit nicht verträgt, sollte man sie nicht aus der Hand geben. Außerdem war Dobbs bei aller Selbstgerechtigkeit und Faulheit einmal ein verdammt guter Kriminologe gewesen, den ich bewundert und dem ich sogar vertraut hatte. Ich fragte mich, wann er begonnen hatte, nicht mehr in jedem Fall nach der Wahrheit zu suchen. Wann war sein Ruhm zum wichtigsten Antrieb seiner Arbeit geworden? Was hatte ihn verändert?

«Sehen Sie überhaupt kein Moment der Vergeltung in den Taten?» Er sah mich an.

Rauser beugte sich vor. «Jemand hat mich verletzt, und ich lasse es an einem anderen aus, weil er mich an den erinnert, der mich verletzt hat? Meinen Sie das?»

«Genau», sagte Dobbs.

«Es wurde sehr häufig zugestochen. Die Angriffe haben zum Teil sehr lange gedauert», entgegnete ich. «Das kann nicht einfach Vergeltung sein. Es ging darum, die Opfer leiden zu sehen.»

Dobbs brummte erneut. «Möglich, dass es bei den Taten zu Sadismus kam. Aber die ungeheure Wut, die sich in ihnen zeigt, deutet darauf hin, dass sie persönlich motiviert ist. Ausgehend von der Verbindung, die Sie zwischen den Opfern hergestellt haben, könnte man annehmen, dass der Mörder aus einer Familie stammt, die möglicherweise in ähnliche Gerichtsprozesse verwickelt war. Vielleicht waren Mutter oder Vater oder Geschwister als Kläger oder Beklagte irgendwie von einer ungünstigen Entscheidung betroffen. Und die hat direkt oder indirekt irgendeine Auswirkung auf das Leben des Täters gehabt.» Dobbs sah Rauser an. «Sie werden die Vergangenheit des Verdächtigen dahingehend untersuchen müssen. Sobald Sie einen Verdächtigen haben, natürlich. Neben den anderen Dingen, die Dr. Street bereits aufgelistet hat, wie die Mobilität des Berufs, das reife Alter, Spenden an Kinderorganisationen et cetera.»

«Das erste und die letzten beiden Opfer haben eine gewisse emotionale Reaktion beim Täter ausgelöst», räumte ich ein. «Anne Chambers, das erste Opfer, hat wesentlich mehr Brutalität erfahren als die anderen. Nur bei LaBrecque, dem letzten Opfer, war es ebenso. Was war der Auslöser? Wir wissen, dass es kein Zivilrechtsprozess gewesen sein kann. Weder LaBrecque noch Anne Chambers waren in ihrer Vergangenheit in dergleichen verwickelt. Und bei David Brooks zeigte der Täter fast eine gewisse Fürsorge und Achtung, Brooks wurde schnell und anscheinend geräuschlos ermordet und dann zugedeckt. Ich habe dazu ein paar Theorien, aber die sind im Moment noch sehr vage.»

«Ach, kommen Sie, Keye, seien Sie nicht so bescheiden», sagte Dobbs. «Raus damit. Vielleicht führen sie uns irgendwie weiter.»

«Na schön. Ich stimme Ihnen zu, dass dieses Ausmaß an Gewalt normalerweise auf eine persönliche Beziehung hindeutet. Aufgrund der Art und Weise, wie Anne Chambers ermordet wurde, sowie der Tatsache, dass ihr die Brustwarzen entfernt wurden, die ein Muttersymbol sind, und dass sie im Genitalbereich verstümmelt wurde, glaube ich, dass sie die Mutterfigur im Leben des Täters repräsentierte, eine Mutter, zu der eine sehr gestörte und von Konkurrenz geprägte Beziehung bestand. David Brooks könnte einen geliebten und begehrten Vater repräsentiert haben, zu dem vielleicht sogar eine inzestuöse Beziehung bestand. Allein Brooks durfte ohne zu leiden sterben. In den anderen Fällen war das Leiden der Opfer der Antrieb. Das sagt etwas Wesentliches über die Pathologie des Mörders aus. Es deutet auf unkontrollierte Wut und Sadismus hin. Die Bedürfnisse und Wünsche der Opfer interessieren ihn nicht. Das Töten des Opfers ist nur eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Im Grunde räumt er nur auf, nachdem er seine Phantasien ausgelebt hat.»

«Und welche Phantasien sind das?», fragte Rauser.

«Das ist zweifellos kompliziert», sagte Dobbs. «In einem der Briefe wurde der Begriff vielschichtig verwendet, und der trifft es sehr genau. Es geht um eine Menge Dinge, um Sex, Macht, Rache, darum, nicht gefasst zu werden, sich wichtig zu fühlen, Journalisten einzubeziehen. Wenn er seine Briefe in der Zeitung sieht oder davon hört, fühlt er sich wahrscheinlich fast genauso gut, als würde er an den Tatort zurückkehren. Und mit Ihnen beiden zu kommunizieren muss ein besonderer Kitzel sein. Er zieht Sie beide in seinen privaten kleinen Kreis, und das nährt seine Wahnvorstellung, dass er der Mittelpunkt ist, das Machtzentrum. Jetzt, wo ich hier bin, wird sich dieser Kreis erweitern», sagte Dobbs. «Ich bin gespannt, wie unser Täter damit umgeht.»

Ich stimmte Dobbs zu. «Sie sind in der Öffentlichkeit äußerst präsent. Wahrscheinlich wird er jetzt auch mit Ihnen kommunizieren.»

Dobbs schien daran Anstoß zu nehmen. «Ich bin in der Öffentlichkeit nur präsent, weil ich dafür bezahlt werde.»

Aber sicher. Niemand würde dir Mediengeilheit vorwerfen.

«Und wie passt LaBrecque da rein?», wollte Rauser wissen.

«Keine Ahnung», gab ich zu. «Das Auswahlverfahren, das wir festgestellt haben, also die Verbindung zum Zivilrecht, trifft nicht auf LaBrecque zu. Welche Verbindung auch immer zu ihm besteht, sie ist persönlich. Wir können sie in diesem Stadium noch nicht bestimmen.»

«Unser Techniker hat die Herkunft des Computers ermittelt, von dem die Mail kam», berichtete Rauser. «Er steht in einem Internet-Café in der Innenstadt. Es gibt dort keine Kameras. Ab Ende der Woche wird der Laden überwacht.»

Dobbs lehnte sich gemütlich in die weichen Sitzelemente zurück. «Ja, äh», brummte er, beendete den Satz aber nicht.

Rauser zog sein klingelndes Telefon aus der Tasche und ließ Dobbs und mich allein.

Dobbs legte seine Hände hinter den Kopf und lächelte mich an. «Gut gemacht, Dr. Street. Sie haben hart daran gearbeitet, und das merkt man. Ich hätte kein besseres Bild zeichnen können.»

«Ich hatte im Krankenhaus ein bisschen Zeit.»

«Wie geht es Ihnen übrigens?»

«Gut», antwortete ich. Sein Interesse war mir unangenehm.

«Was beim FBI zwischen uns passiert ist, tut mir leid, Keye.»

Ich schwieg. Ich glaubte nicht, dass er irgendetwas bereute, und ich war bestimmt nicht bereit, sein Gewissen zu erleichtern. In meinen letzten Monaten beim FBI hatte ich einige Probleme gehabt. Ich kämpfte. Ich stand unter Beobachtung. Jacob Dobbs hatte einen ziemlich vernichtenden Bericht über mich geschrieben, in dem er meine Entlassung empfahl. Wenn ich mit ihm schlief, würde er sich stattdessen für einen bezahlten Urlaub aussprechen. Das gab er mir recht deutlich und unverblümt zu verstehen. Ich hätte einen Entzug gebraucht, eine helfende Hand und keinen Tritt in den Arsch. Dobbs hatte mir die Zeit beim FBI mit seinen ständigen Bemerkungen und Annäherungsversuchen beinahe unerträglich gemacht und sich dann völlig von mir abgewandt.

Rauser kehrte zu uns zurück. «Wir haben das Restaurant gefunden, in dem Brooks vor seinem Tod gegessen hat. Die Kellnerin hat ihn auf dem Foto wiedererkannt. Sie hat ihm einen Tisch gegeben und die Weinbestellung aufgenommen, weil die Schicht gerade wechselte und der neue Kellner noch nicht da war. Sie sagt, es wäre eine Reservierung für zwei gewesen, auf den Namen John Smith. Originell, was? Und bei der Weinauswahl hat er sie fast zum Wahnsinn getrieben. Er wirkte, als hätte er ein Rendezvous. Als der Kellner kam, ist sie gegangen. Die zweite Person hat sie nicht mehr gesehen. Aber wir haben Namen und Adresse des Kellners. Balaki und Williams sind schon unterwegs zu ihm. Einen Kreditkartenbeleg konnten wir nicht ermitteln. Der Typ hat alles bar bezahlt, das Essen, die Drinks, das Hotel. Verheiratet, er wollte offensichtlich keine Spuren hinterlassen.»

«Gibt es schon was aus dem Gerichtsgebäude?», fragte ich.

«Unsere Leute überprüfen noch die Überwachungsbänder. David Brooks ist das einzige Opfer, das darauf zu sehen ist, aber bisher sind wir erst sechzig Tage zurückgegangen. Brooks war fast jeden Tag im Gericht. Die Fahrstühle selbst werden leider nicht überwacht, aber die Hallen davor sind voll mit Kameras. Wir überprüfen jede Person, die nicht dort arbeitet und mehr als zweimal auftaucht. Wird noch eine Weile dauern, bis das alles gesichtet ist.»

Die Tür ging auf. «Mann, das war total verrückt», sagte Neil und ging an uns vorbei in die Küche. Er machte den Kühlschrank auf und sah dann zu Rauser. «Ich musste Charlie nach Hause bringen.» Ihm war nicht anzusehen, ob er sich fragte, was ich Rauser über den Vorfall mit Charlie erzählt hatte. Sein Blick wanderte zu Dobbs.

«Neil Donovan, Jacob Dobbs», stellte ich die beiden vor.

«Aha, Dobbs.» Neil erkannte den Namen sofort. «Der berühmte Dobbs, richtig? Nett, Sie kennenzulernen.» Er nickte Dobbs zu und drehte sich dann wieder zum Kühlschrank um.

«Apropos Charlie», sagte Rauser. «Er ist häufig auf den Bändern des Gerichts zu sehen, offenbar taucht er mehrmals die Woche dort auf. Haben meine Kollegen mir erzählt.»

Mir wurde kalt. Erst heute hatte mich Charlie daran erinnert, dass man nie wissen kann, was im Inneren eines Menschen vorgeht. Charlie hat eine bösartige Ader. Das hatte ich erlebt. Charlie, der Kurier. Charlie, der sich regelmäßig im Gerichtsgebäude von Fulton County aufhielt.

Rauser nickte. «Jeder wird überprüft, ohne Ausnahme.»

Neil lachte und öffnete eine Sodadose. «Totale Zeitverschwendung. Mann, Charlie kann sich kaum daran erinnern, mal zu baden. Er ist viel dort, weil die Kurierfirma, für die er arbeitet, Unterlagen zu Immobilien braucht und eine Menge Aktenkram für Anwälte rumkutschiert. Ich habe mich tatsächlich mal bemüht, mit ihm über sein Leben zu reden. Daher weiß ich das.» Er schaute Rauser an. «Hat dir Keye erzählt, dass sie heute ein bisschen Bruce Lee mit ihm gespielt hat? Ich musste auf dem Weg anhalten, weil er kotzen musste. Es war echt brutal.»

«Wer ist Charlie?», fragte Dobbs.

«Ein Freund», sagte ich ausweichend.

«Was war los?», wollte Rauser wissen.

«Er hat ein bisschen über die Stränge geschlagen, mehr nicht», antwortete ich.

«Über die Stränge geschlagen? Inwiefern?» Rauser lächelte nicht.

Ich verdrehte die Augen. «Beruhige dich, Cowboy. Ich bin damit fertiggeworden.»

«Wusstet ihr, dass er in einer Seitenstraße der Dekalb Avenue in einem ziemlich hübschen Reihenhaus wohnt?», fragte Neil. «Ich dachte, er lebt in irgendeinem Heim oder so.»

«Weil du so viel über sein Leben weißt, oder wie?», meinte Rauser.

Neil suchte noch immer nach etwas Essbarem. «Hey, habt ihr euch jetzt doch über die Kekse hergemacht?» Er grinste. «Mann, es sind ja kaum noch welche übrig.»

Wir schauten Dobbs an. Er war mit den Händen hinter dem Kopf und offenem Mund einfach eingeschlafen.

Rauser sah mich an, als hätte sich mein Kopf gerade einmal um die eigene Achse gedreht. «Hast du Dobbs etwa die Haschkekse gegeben? Dir ist ja wohl klar, dass damit ungefähr eine Million Probleme auf mich zukommen!»

«Ach, ich bitte dich», sagte ich. «Vorhin bist du noch aufgesprungen und wolltest ihm eine knallen. Hätte das keine Probleme gemacht?»

«Das war nur Spaß», entgegnete Rauser.

Ich schaute zu Dobbs hinüber. «Sieht er nicht aus wie ein Engel, wenn er schläft und schnarcht?»

«Wenn er stoned aufwacht und rauskriegt, dass du ihm Haschkekse vorgesetzt hast, macht er dir das Leben zur Hölle.» Rauser kriegte sich gar nicht wieder ein.

«Wer weiß», sagte ich. «Vielleicht wacht er beschwingt und lammfromm auf.»

«Klar, und vielleicht kommt gleich Madonna rein und wackelt mit dem Arsch für uns.»

«Die Madonna oder einfach eine Madonna?»

Rauser zuckte mit den Achseln.

«Welche wäre dir denn lieber?»

«Zum Arschwackeln?»

«O Mann.»

«Bestimmt nicht die Madonna.»

Rauser und ich suchten unsere Sachen zusammen, denn wir wollten los, allerdings nicht in die gleiche Richtung. «Hey», rief Neil. «Was soll ich mit dem schlafenden Engel machen?»

«Gib ihm einen starken Kaffee und ruf ihm ein Taxi, wenn er aufwacht», sagte ich. «Ach, und kein Wort über die Kekse, okay?»