24

Die Klimaanlage hatte schon seit ein paar Stunden den Geist aufgegeben, als wir in die City Hall East kamen. In der dritten Etage war es so heiß wie in einer Restaurantküche. Mit seinen detektivischen Fähigkeiten entdeckte Rauser in einer Besenkammer in einem unteren Stockwerk einen Ventilator und schleppte ihn hoch, bevor ihn sich jemand anders schnappen konnte. Das Ding war aus Metall und verrostet, quietschte bei jeder Umdrehung und wirbelte die Notizen auf, die Rauser mit einem Aschenbecher beschwert hatte. Wir befanden uns mit den Detectives Andy Balaki und Brit Williams im Beobachtungsraum hinter einem einseitig verspiegelten Fenster. In den Vernehmungszimmern hatte Rauser keine Ventilatoren aufgestellt. Er mochte es, wenn es dort heiß war, und hätte nicht davor zurückgeschreckt, selbst im Sommer die Heizung aufzudrehen, damit sich nur ja keiner zu wohl fühlte.

Wir benutzten Beobachtungsraum 3. Abgesehen vom Sichtfenster sah er genauso aus wie die meisten alten Büros des Gebäudes. Ein paar Fenster auf der anderen Seite zeigten hinaus auf die North Avenue und ließen Licht herein. Die Wände waren im typischen Behördengrün gestrichen, und wenn man sie berührte, blätterte die Farbe ab. Auf einem langen Tisch standen drei Monitore, auf denen man die Verhöre beobachten konnte, wenn man nicht durch das Sichtfenster schauen wollte. Auch in den Büros der Beamten gab es Monitore, um die Vorgänge in den drei Vernehmungszimmern zu verfolgen. Rauser lief unruhig umher und wartete darauf, dass Charlie hereingebracht wurde.

«Wo ist unser weltberühmter Profiler?», fragte Detective Brit Williams.

«Der versucht wohl einen Parkplatz für sein weißes Pferd zu finden», meinte Balaki grinsend.

Rauser schaute auf seine Uhr und warf mir einen Blick zu. «Er müsste längst hier sein. Aber er fühlt sich nicht besonders gut.»

«Von mir aus kann er in seinem hübschen Hotelzimmer bleiben, denn wenn Arschlöcher fliegen könnten, wäre Dobbs eine 767», sagte Williams, während er mit den alten Fenstern kämpfte. Die Fenster waren stärker. «Wie lange sind diese Scheißteile eigentlich schon zu? Hundert Jahre?» Sein weißes Oberhemd klebte ihm am Rücken. Er drückte und klopfte gegen die Rahmen, fuhr mit den Händen an ihnen entlang und versuchte mit Gewalt, den Griff umzudrehen. Als er in ein klebriges Spinnennetz griff, fluchte er laut und sah sich nach etwas um, an dem er es abwischen konnte.

«Hey, Einstein», sagte Balaki. «Das Ding da unten, das wie ein Knochen aussieht, das ist ein Schloss. Du musst es erst anheben, bevor du das Fenster aufkriegst.»

William hob das Schloss, drehte den Griff, und das Fenster teilte sich in drei Flügel und öffnete sich zur Straße hinaus. Heißer Wind und Abgase strömten herein. Meine Augen fingen sofort an zu brennen. Unten auf der North Avenue knallte die Sonne auf ein Meer aus Fahrzeugen, die durch die mittägliche Rushhour krochen.

Balaki kam mit den Händen in den Taschen herüber und blickte eine Weile mit mir hinaus. «Sehen Sie die Dialyseklinik auf der anderen Straßenseite? Gestern habe ich einen Typen gesehen, der drüben auf dem Parkplatz gepinkelt hat. Das gehört sich doch nicht, oder?»

Nachdem er alle Fenster geöffnet hatte, zog Brit Williams einen Stuhl an den Tisch und setzte sich dem Sichtfenster zugewandt hin. Schweißperlen glitzerten auf seiner sehr dunklen Haut. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt und der oberste Knopf geöffnet. So leger hatte ich ihn noch nie gesehen. Er legte einen Notizblock vor sich, zog einen Stift aus seiner Hemdtasche und schnippte ein paarmal mit dem Daumen dagegen.

Rauser ging weiter auf und ab.

Dann öffnete sich die Tür des Vernehmungszimmers, und Charlie wurde von einem uniformierten Polizisten hereingeführt. Balaki und ich nahmen Platz. Charlies rechtes Auge war dunkelblau und geschwollen, seine Nase mit Heftpflaster überzogen.

«Hey», meinte Balaki. «Sie haben aber echt die Scheiße aus ihm rausgeprügelt, was, Street?»

Charlies schiefes Lächeln war wieder da. Ebenso die komische Angewohnheit, den Kopf zu neigen und die Knie ganz leicht nach innen zu biegen. Alles erweckte den Eindruck, dass mit Charlie etwas nicht ganz stimmte. Das war der Charlie, an den ich mich gewöhnt hatte, den ich sogar liebgewonnen hatte. Wenn er in diesem Moment schauspielerte, wenn er in all den vergangenen Jahren geschauspielert hatte, dann war er sehr gut darin.

Charlie war um halb sieben am Morgen verhaftet worden. Die Polizisten hatten an seine Tür gehämmert und ihm mitgeteilt, dass er der Nötigung und der versuchten Vergewaltigung beschuldigt wurde. Dann hatten sie ihn auf seine Rechte hingewiesen und abgeführt. Rauser hatte die Verhaftung absichtlich am frühen Morgen vollziehen lassen. Er wollte, dass Charlie unausgeruht war. Während der darauffolgenden Anhörung hatte Charlies Anwalt, Ricky Stickler, dargelegt, dass keine Fluchtgefahr bestand, dass Charlie nicht einmal einen Führerschein oder eine Kreditkarte besaß und dass er unter ärztlicher Aufsicht stand. Der stellvertretende Staatsanwalt hatte dagegen geltend gemacht, dass Charlie schon früher wegen Gewalttätigkeit gegen Frauen auffällig geworden war und zudem wegen anderer Verbrechen vernommen und deshalb vor Gericht gestellt werden musste, doch der Richter hatte gesagt, dass weder die Beweise noch die Gründe ausreichten, um den Verdächtigen in Gewahrsam zu nehmen, und dass frühere, abgeschlossene Fälle aus anderen Staaten nicht zugelassen werden konnten. Solange Charlie absolut keinen Kontakt mit dem mutmaßlichen Opfer – also mit mir – hatte, würde er eine Freilassung auf Kaution erwägen. Wenn Charlie einer Vernehmung zustimmte, würde die Kaution auf fünfzigtausend Dollar festgesetzt werden.

Ricky Stickler stolzierte ins Vernehmungszimmer, setzte sich neben Charlie und tätschelte seine Hand. «Sie sind hier im Nu wieder raus, Charlie. Der Papierkram wird schon erledigt.»

Williams verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und deutete mit einem Nicken auf Charlies Anwalt. «Hochangesehene Kanzlei. Ziemlich teuer für einen Fahrradkurier.»

Ein paar Minuten beobachteten wir die beiden Männer auf der anderen Seite des Fensters. Stickler löste seine Krawatte und zog sein Jackett aus. Die Hitze im Raum zeigte Wirkung. Sein weißes Hemd war zerknittert.

Rauser schaute auf die Uhr, tippte eine Nummer in sein Telefon und wartete. «Wo zum Teufel bleibt denn unser neuer Superstar? Das Arschloch geht nicht mal ans Telefon. Williams, komm mit. Wir warten nicht länger.» Er stopfte sich das Hemd in die Hose und grinste. «Wie sehe ich aus?»

«Supersüß», sagte Balaki, und alle lachten. Bullenhumor. Ich verstand ihn nicht immer.

Balaki und ich schauten zu, wie erst Williams ins Vernehmungszimmer schlenderte, dann Rauser. Der Raum war trist, nur ein Tisch, vier Stühle, an den Wänden ein paar alte Heizungsanschlüsse. Keine Fenster. Rauser setzte sich auf einen Stuhl Ricky Stickler und Charlie gegenüber und ließ einen Aktenordner auf den Tisch fallen. Williams setzte sich ans Tischende.

«Entschuldigen Sie die Hitze. Aber so ist das eben in alten Gebäuden, nicht wahr? Wollen Sie ein Wasser oder so?» Rauser wartete auf die Antwort, die Nein danke lautete, betrachtete dann Charlie einen Moment und lächelte freundlich. Ich sah die Falten an seinen Augenwinkeln. «Mensch, Charlie, was ist denn mit dir passiert? Bist du vom Fahrrad gefallen, oder was? Du bist ziemlich übel zugerichtet, Kumpel.»

«Ich weiß, dass Sie böse sind», sagte Charlie. Er nuschelte wieder vertraut. Ganz leicht, wie jemand, der ein Glas Wein zu viel getrunken hat. «Es tut mir so leid. Es tut mir total leid. Ich liebe sie. Ich wollte das nicht.»

Rauser nahm den Ordner und schien darin zu lesen. «Hier steht, dass du so etwas schon dreimal getan hast, Charlie. Hast du es damals gewollt?»

«Lieutenant», schaltete sich Stickler ein. Er war ein hübscher Typ, so um die dreißig, mit rötlich blondem Haar. «Charlie ist bereits mehrmals untersucht worden. Wir haben haufenweise Ultraschallaufnahmen, die Gehirnschädigungen zeigen. Er nimmt ungefähr zwanzig Psychopharmaka. Ihm sind die Medikamente ausgegangen. Er ist kein aggressiver Typ. Oder, Charlie?»

Charlie schüttelte den Kopf. «Nee. Ich bin ein netter Typ.»

Rauser klappte den Ordner zu. «Drehst du manchmal durch, Charlie? Willst du manchmal alles kaputt schlagen und irgendjemanden in Stücke reißen?»

«Antworten Sie nicht darauf», befahl Stickler.

«Jaaa», sagte Charlie, so langgezogen wie Dustin Hoffman in Rain Man. «Ich drehe echt durch.»

«Scheiße», brummte Balaki. «Er verteidigt sich überhaupt nicht. Wird schwer werden, einen Richter davon zu überzeugen, dass er prozessfähig ist.»

«Hast du schon mal jemanden umgebracht, Charlie?», fragte Rauser.

«Nein, Sir, Mr. Mann.» Charlie schüttelte heftig den Kopf.

«Ach so, du hast dich also nur auf Vergewaltigung verlegt?»

Stickler hob eine Hand und wurde lauter. «Beantworten Sie das nicht. Lieutenant …»

«Ihr Mandant steht im Zusammenhang mit einer Mordermittlung, Herr Anwalt», unterbrach Williams ihn. «Und wir haben eine Abmachung. Sie sollten ihm lieber raten, die Fragen zu beantworten, sonst holen wir ihn morgen wieder ab und übermorgen und überübermorgen, so lange, bis wir zu einer Klärung kommen. Haben Sie verstanden?»

«Lassen Sie uns über ein paar Daten sprechen», sagte Rauser zu Ricky Stickler. «Wenn Ihr Mandant ein glaubwürdiges Alibi hat, dann gibt es keine Probleme.»

Stickler wurde rot, seine Wangen glühten. Unter seinen Achseln hatten sich Schweißflecken gebildet. «Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Charlie? Charlie würde seinen eigenen Arsch nicht erkennen, wenn er vor ihm stehen würde. Natürlich hat er kein Alibi. Er kann sich nicht mal daran erinnern, was er zum Frühstück gegessen hat, oder?»

«Ich habe gar nicht gefrühstückt», sagte Charlie. «Ich habe Hunger.»

Rauser schaute in seine Notizen. «Charlie, du hast jeden glauben lassen, dass du von der Kirche lebst, nicht wahr? Du hast angedeutet, dass sie dir eine Wohnung verschafft hat, und jetzt finde ich heraus, dass du in einem hübschen Reihenhaus am Inman Park wohnst.»

«Es verstößt nicht gegen das Gesetz, seine Vermögensverhältnisse für sich zu behalten», sagte Stickler. «Charlie hat nach dem Tod seiner Eltern ziemlich viel Geld geerbt. Er muss vorsichtig sein. Wir haben ihm das immer wieder eingeschärft. Unsere Kanzlei verwaltet das Vermögen.»

«Und was ist mit der rührseligen Geschichte, dass dich Frau und Kinder verlassen haben?» Rauser schüttelte den Kopf. «Es stimmt nicht. Du hast die Scheidung eingereicht, Charlie. Ich habe die Unterlagen hier. Und du musstest erst ausfindig gemacht und vor Gericht geladen werden, ehe du Unterhalt gezahlt hast. Verstehst du, warum ich mich über dich wundere, Charlie? Manchmal benimmst du dich wie ein zurückgebliebener Trottel und manchmal wie ein widerwärtiges Arschloch.»

«Tja, da ich darin keine Frage erkennen kann, sind wir hier wohl fertig», sagte Stickler und schaute Charlie an. «Komm, Charlie. Es ist sowieso zu heiß hier.»

«Jaaa, es ist echt scheißheiß hier drin», sagte Charlie und brach in das Lachen aus, das wir alle kannten. «Neil mag es, wenn ich Scheiße sage. Ich mag Neil. Mögen Sie Neil auch, Mr. Mann?» Er wollte aufstehen.

Rauser griff blitzschnell über den Tisch und packte Charlie am Handgelenk. «So viel Geld, und du radelst in einer Kurieruniform durch die Stadt.»

«Die Arbeit ist ein wesentlicher Aspekt seiner andauernden Genesung», sagte der Anwalt. «Diese Menschen benötigen ein wenig Selbstwertgefühl, Lieutenant.»

«Ersparen Sie mir das», entgegnete Rauser. Er hatte Charlie nicht losgelassen und starrte ihm direkt in die Augen. «Mit der Masche kommst du überall rein, nicht wahr, Charlie? Haben dir Elicia Richardson und Lei Koto deshalb die Tür aufgemacht? Hast du ein Paket geliefert? Warst du verschwitzt, als wenn du ein Glas Wasser bräuchtest?»

«Ich kenne diese Leute nicht», antwortete Charlie. Er versuchte seinen Arm wegzuziehen, doch Rausers Griff war offensichtlich wie ein Schraubstock.

«Der arme Charlie mit einem Paket an der Tür, ganz verschwitzt und durstig.»

«Lieutenant Rauser, lassen Sie meinen Mandanten los.»

Rauser richtete sich auf. Er beugte sich über den Tisch, bis er ganz nah vor Charlies Gesicht war. «Ich habe gehört, dass du gut mit einem Messer umgehen kannst, Charlie. Ich will dein Messer sehen.»

«Können Sie ihm etwas nachweisen?», wollte Stickler wissen. «Ich dachte, Sie hätten etwas in der Hand.» Er zog sein Jackett von der Stuhllehne und legte seine Visitenkarte auf den Tisch. «Wenn Sie weitere Fragen haben, rufen Sie mich an. Gehen wir, Charlie.»

«Das lief ja großartig», murmelte ich.

«Der Lieutenant wollte ihn nur ein bisschen verunsichern und sehen, was als Nächstes passiert», meinte Balaki.

Doch Rauser war noch nicht fertig. Als Stickler und Charlie das Vernehmungszimmer verlassen wollten, stellte sich Rauser Charlie in den Weg. «Ich werde einen Durchsuchungsbefehl für dieses hübsche Reihenhäuschen kriegen», sagte er ganz ruhig, «und dann zerlegen wir es in alle Einzelteile. Wage es nicht, irgendwelches Beweismaterial verschwinden zu lassen. Du bist erledigt, Charlie. Es ist nur eine Frage der Zeit.»

Damit ließ er die beiden stehen und verließ das Vernehmungszimmer.

«Kein Geständnis?», meinte Balaki mit einem Grinsen, als Rauser und Williams zu uns kamen.

«Na ja», brummte Rauser. «Da kommt schon eher Nancy Pelosi hier rein und tanzt auf dem Tisch.»

«Ja, Baby», sagte Balaki und blähte den Hals auf. «Jetzt kommen wir zur Sache.»

Wir schauten ihn entgeistert an, eine peinliche Stille trat ein. «Wir werden den Kerl rund um die Uhr überwachen, und zwar in zwei Schichten», sagte Rauser dann. «Eine Schicht übernehmen Velazquez und Bevins.»

Die Detectives stöhnten. Es bedeutete Zwölf-Stunden-Schichten quälend langweiliger Arbeit. Lange zu arbeiten waren sie gewöhnt. Doch das Herumsitzen und Warten machte die Polizisten verrückt.

«Dann übernehmen wir die erste Schicht am Abend, okay?», schlug Balaki vor. «Wir brauchen nur einen Moment, um unsere Frauen zu küssen und die Thermoskannen zu füllen.»

Rauser sah mich an. «Aber wo steckt eigentlich Dobbs?»

«Sei doch froh.»