Ist Fleischessen böse?

Philosophen, Schmerzen, Speziesismus

Eines Tages gingen Dschuang-Tsu und ein Freund am Ufer des Flusses spazieren. »Wie wohl sich doch die Fische im Wasser fühlen!«, rief Dschuang-Tsu aus. »Du bist kein Fisch«, sagte sein Freund, »wie willst du wissen, ob sich die Fische wohlfühlen?« »Du bist nicht ich«, sagte Dschuang-Tsu, »wie willst du wissen, dass ich nicht weiß, dass sich die Fische im Wasser wohlfühlen?« Der Freund entgegnete: »Sicher, ich bin nicht du, doch ich weiß, dass du kein Fisch bist.« Dschuang-Tsu sagte: »Ich weiß es aus meiner eigenen Freude am Wasser.«

Taoistisches Lehrgespräch

Mitten in der Nacht irrte meine damalige Freundin (und heutige Frau) mit mir in einem leeren Lkw ohne Straßenkarte über wahrlich finstere tschechische Landstraßen nach Wien. Mein Umzug nach Berlin stand an. Viel Zeit zu reden. Sie hatte an der Uni gerade das Seminar »Suizid II« besucht. Es ging um den australischen Moralphilosophen Peter Singer, der sich in seinem Buch Praktische Ethik ausführlich Gedanken über das Töten von Menschen und Tieren gemacht hat. Meine Freundin war schon Vegetarierin, seit ich sie kannte. Das war kein Problem für mich, mein Fleischessen war auch keines für sie. Ich kann mich nicht an ernsthafte Diskussionen über Ernährungsfragen erinnern. Vermutlich dürfte ich die üblichen Argumente vorgebracht haben: Es liegt in der Natur des Menschen, es ist gesund, es schmeckt einfach so gut, und der Löwe frisst ja auch das Lamm oder so.

Das Leben ist kein Ponyhof

Heutzutage erstaunt es mich, wenn man sich als zur Moral fähiger Mensch im gegenseitigen Fressen und Gefressenwerden die Natur als Vorbild nimmt. Bei den Themen Gleichberechtigung, Partnerschaft oder Konfliktlösungen würde man zur Rechtfertigung menschlichen Handelns wohl auch nicht auf Vorbilder aus der Natur verweisen wollen (bestenfalls auf die Bonobos). Der Verweis auf die Natur ist umso eigentümlicher, als doch nahezu einzig die Freiheit, moralisch zu handeln, den Menschen von den Tieren unterscheidet. Sie ermöglicht es ihm, sich gegenüber auch nicht menschlichen Lebewesen rücksichtsvoll zu verhalten. Beim Essen wird diese wahrhaft menschliche Fähigkeit ignoriert und auf die Natürlichkeit des Tötens und Fleischverzehrs verwiesen. Dabei kennt die nicht menschliche Natur überhaupt keine Moral. Entsprechend spricht man in der Moralphilosophie schon lange vom naturalistischen Fehlschluss, wenn man vom Sein (der Welt) auf das Sollen, also auf moralische Regeln, schließt. Ein solcher Fehlschluss begründet etwa das »Recht des Stärkeren«. Solch eine »Moral« gehört aber sicher nicht zu unseren zivilisatorischen Errungenschaften.

Der Antispeziesist

Noch zu meinen Wiener Zeiten war – trotz all meiner Fleischlust wie zum Beispiel auf »Blunzngröstel« aus Blutwurst vom Naschmarkt – in mir die Idee gereift, dass Fleisch aus artgemäßer Haltung die bessere Wahl sei. Mir genügte damals die Beteuerung meines Metzgers, dass der Schinken aus einer ebensolchen stamme. Natürlich aß ich überall sonst weiterhin alles Fleischliche, ohne mich über dessen Herstellung zu informieren. Auf der oben erwähnten nächtlichen Lkw-Fahrt jedoch gelangten mit dem Seminarbericht meiner Freundin neue Gedanken zu diesem Thema in mein Hirn und setzten sich dort fest. Das zentrale Argument des Moralphilosophen Peter Singer lautet wie folgt: Die Zugehörigkeit zu einer Spezies (Art) sei kein entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Wesen moralisch berücksichtigt werden sollte oder nicht. »Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, dieses Leiden zu berücksichtigen«, schreibt er in seiner viel diskutierten Praktischen Ethik. Für Singer sind die Empfindungsfähigkeit und dadurch bedingte Interessen entscheidend. Damit spricht er vielen Tieren den gleichen Grad an moralischer Berücksichtigung zu wie Menschen. Ihm geht es dabei nicht – ein häufiges Missverständnis – darum, Menschen schlechter zu behandeln, sondern Tiere besser. Und das schlicht und ergreifend deshalb, weil er keine schlüssige moralische Rechtfertigung dafür sieht, gleichermaßen empfindungsfähige Lebewesen mit eigenen Interessen nicht in derselben Weise zu berücksichtigen wie Menschen. Er kritisiert daher einen (in Anlehnung an Rassismus, Sexismus und Ähnliches sogenannten) Speziesismus, denn dieser knüpfe die moralische Berücksichtigung an die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch und nicht an tatsächlich moralisch relevante Eigenschaften. Für Singer ist es unerheblich, ob sich Arten in anderen Belangen erheblich unterscheiden. Solange ihre Empfindungsfähigkeit ähnlich sei, müssten ihre Interessen ähnlich berücksichtigt werden.

Mit dieser Neuformulierung eines alten philosophischen Problems hat Singer enormen Einfluss auf die Tierschutzethik der vergangenen Jahrzehnte ausgeübt und den Tierrechtsgedanken populär gemacht. Er war allerdings nicht der Erste, der Tieren moralische Rechte zusprach. Auch der Jurist und Philosoph Jeremy Bentham (1748 bis 1832) befand in seinem unter Vegetariern beliebten Zitat aus dem Jahr 1789, dass die Leidensfähigkeit das entscheidende Kriterium für die moralische Berücksichtigung sei: »Es mag der Tag kommen, an dem man begreift, dass die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder das Ende des Kreuzbeins gleichermaßen ungenügende Argumente sind, um ein empfindendes Wesen dem gleichen Schicksal zu überlassen. Warum soll sonst die unüberwindbare Grenze gerade hier liegen? Ist es die Fähigkeit zu denken oder vielleicht die Fähigkeit zu reden? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind unvergleichlich vernünftigere sowie mitteilsamere Tiere als ein einen Tag, eine Woche oder gar einen Monat alter Säugling. Aber angenommen dies wäre nicht so, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht ›Können sie denken?‹ oder ›Können sie reden?‹, sondern ›Können sie leiden?‹«

Der Wurstvegetarier

Als angehender Biologe war ich bereits zu der Ansicht gekommen, dass es keine prinzipielle Grenze zwischen Menschen und (anderen) Tieren gibt, sondern dass Arten lediglich verschiedene Eigenschaften besitzen, die sich zweifellos beträchtlich voneinander unterscheiden können. Somit war ich von Singers moralischen Überlegungen schnell zu überzeugen. Ich »konvertierte« zwar nicht ganz von heute auf morgen zum Vegetarismus, hörte jedoch bald auf, Fleisch zu kaufen und rationierte streng die Wurst. So wurde auf der Studienfahrt nach Russland eine einzelne Ziegenwurst mein wertvollster Proviant.

Die erste Herausforderung stand an, als die Ziegenwurst gegessen war. Während die meisten meiner Kommilitonen und vermutlich alle Russen auf der Forschungsstation mittags Hühnchenschlegel aßen, begnügten ich und zwei, drei vegetarische Mitstreiter uns mit Kartoffelbrei. Sonst nichts. Nach dem dritten Mahl hatte ich genug davon und aß ebenfalls Hühnchen. Meine alte Fleischlust war schnell wieder da, und ich vertagte meine Ernährungsumstellung. Nachts, zur Mittsommernacht am Polarkreis war es entsprechend hell, versuchte ich mich sogar im Fischfang, nur mit Angelschnur und Brot am Haken, blieb aber erfolglos. So musste ich mich an konservierte Bierwurst aus alten Armeebeständen halten. Auf der Rückreise im Zug schenkten mitreisende Russen Wodka in den dafür üblichen Wassergläsern aus. Dazwischen reichten sie unglaublich fette Wurstscheiben. Ob der Wodka für die Wurst nötig war oder umgekehrt, weiß ich nicht. Danach war ich jedenfalls endgültig Vegetarier.

Die Gewissensfrage

Intuitiv mögen die meisten Menschen die Ansicht vertreten, dass ein Mensch generell mehr wert sei als ein Tier. Doch worin bestehen moralisch bedeutsame Unterschiede, die solch eine Bewertung rechtfertigen? Für mich zeigen sich diese ziemlich offensichtlich in der bewusst wahrgenommenen Lebensqualität und Leidensfähigkeit. Zumindest im Vergleich zu Schwämmen oder Korallen, die wie der Mensch zum Tierreich gehören, aber über keinerlei bzw. kein zentrales Nervensystem verfügen. Aber schon bei den äußerst intelligenten Tintenfischen und erst recht bei Wirbeltieren wird es für mich schwierig, darüber zu urteilen.

Erstaunlicherweise ist es mir in meinen nicht gerade seltenen Gesprächen mit Fleischessern über das Fleischessen kaum gelungen, herauszufinden, nach welchen Kriterien sie die Interessen von Lebewesen berücksichtigen. Häufig tauchten Aussagen auf wie, dass man doch lieber einen Menschen aus einem brennenden Haus retten solle als ein Schwein. Bei Hunden waren die Prioritäten schon weniger eindeutig. Doch derlei Überlegungen erinnern mich an die konstruierten Szenarien der – mir glücklicherweise erspart gebliebenen – mündlichen Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer im Kreiswehrersatzamt, in der es zum Beispiel darum ging, dass einzig der Einsatz einer zufällig mitgeführten Maschinenpistole die eigene Freundin vor einer Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten bewahren sollte.

Die Tötungsfrage

Im Alltag muss ich mich glücklicherweise nie zwischen Leben und Tod von Tier oder Mensch entscheiden, sondern nur zwischen dem Leben des Tiers und dem Genuss von Fleischmahlzeiten. Ich muss mich also noch nicht einmal fragen, ob ich Mensch und Tier gleichermaßen moralisch berücksichtigen will, sondern lediglich, in welchem Maße ich Leben oder Wohlbefinden von Tieren überhaupt berücksichtige. Will ich mir das Recht herausnehmen, das Leben eines Tieres für meinen Appetit zu beenden? Als Neuvegetarier war für mich das Leiden der Tiere während der Haltung und Schlachtung zwar ebenfalls von Bedeutung, aber nachgeordnet. Entscheidend fand ich die Tötungsfrage. Entsprechend war das Für-mein-Essen-keine-Tiere-töten-Wollen meine übliche Antwort auf die Frage nach dem Grund meines Fleischverzichts. Damit umzugehen war für Fleischesser vermutlich einfacher, denn hierzu hatten sie einfach eine andere Meinung, die zudem von der Mehrheit der Gesellschaft geteilt wird. Das Quälen von Tieren hingegen lehnen die meisten Menschen ab. Hätte ich gesagt, dass die Haltungs- und Schlachtbedingungen für mich nicht zu rechtfertigen seien, wäre es für die Fragesteller vermutlich unbequemer gewesen, sich zu positionieren. Über die tatsächlichen Bedingungen von Haltung und Schlachtung wusste ich damals jedoch nicht wirklich viel. So kam es nur selten zu einer Diskussion über das »Wie« der Nutztierhaltung, weil wir lieber darüber gezankt haben, ob Tiere überhaupt zum Essen getötet werden dürfen.

Die Leidfrage

Nach wie vor ist sich weder die Moral- noch die Rechtsphilosophie darüber einig, ob das Töten von Tieren überhaupt unmoralisch oder unrechtmäßig ist. Das EU-Tierschutzrecht hält – man höre und staune – Tiere als empfindungsfähige Lebewesen um ihrer selbst willen für schützenswert. Im ersten Paragrafen des deutschen Tierschutzgesetzes in der überarbeiteten Fassung von 1986 heißt es: »Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.« Es mag verwundern (oder nicht), dass es keine Definition dafür gibt, was denn als »vernünftiger Grund« gilt. Im Unterschied zu einer auf den Menschen bezogenen (anthropozentrischen) Ethik wird diese im Tierschutzgesetz vertretene Sicht als pathozentrisch (vom griechischen pathos: Leid, Schmerz) bezeichnet. Dabei messen jedoch Gesetz und Gesellschaft eindeutig mit zweierlei Maß, was sich nur speziesistisch begründen lässt. Die Interessen bewusst empfindender Tiere sind nachrangig, sofern sie mit menschlichen Interessen konkurrieren.

Es erscheint dabei paradox, dass die meisten den Tod von Tieren weniger berücksichtigenswert empfinden als ihr Leiden oder Wohlbefinden. Verbesserungen in der Tierhaltung sollen Leid vermeiden, das Töten selbst aber wird nicht thematisiert. Die große Mehrheit der Bundesbürger findet es jedenfalls gerechtfertigt, Tiere zu Nahrungszwecken zu töten oder, korrekter, töten zu lassen. Die Beweislast, dass es dabei ein moralisches Problem gibt, liegt daher scheinbar aufseiten der Fleischkritiker. Der Leiter des veterinärmedizinischen Instituts für Tierschutz und Tierverhalten in Berlin, Professor Jörg Luy, sieht es anders als die Mehrheit der Bundesbürger. Der Tierarzt und Philosoph hat seine Doktorarbeit über »Die Tötungsfrage in der Tierschutzethik« geschrieben. Wer behauptet, dass es kein moralisches Problem sei, Tiere zu töten, ist nach Meinung von Luy dazu verpflichtet, auch den Nachweis dafür zu erbringen – denn schließlich seien im Falle einer Fehleinschätzung die Tiere die Leidtragenden.

Der Tod ist auch kein Ponyhof

Das Problem diskutieren die Philosophen offenbar schon seit einigen Jahrtausenden. Der Grieche Epikur (341 bis 271 v. Chr.) hat dazu zwei Postulate aufgestellt, die für viele Philosophen bis heute eine wichtige Bewertungsgrundlage für moralisch richtige und falsche Handlungen sind. (Postulate sind die Vorannahmen, die jeder Argumentation zugrunde liegen. Nur wer ein Postulat akzeptiert, wird auch bereit sein, den darauf aufbauenden Argumenten zu folgen. Sind diese logisch korrekt, müssen auch die Schlussfolgerungen als richtig anerkannt werden. Daher kann es bei einer Diskussion hilfreich sein, sich zunächst auf gemeinsam anerkannte Postulate zu verständigen.) Das erste Postulat Epikurs besagt, dass alles Gute und Schlimme auf Empfindung beruht. Das zweite, dass der Tod in der Aufhebung von Empfindung besteht. Der Tod hat, weil er von niemandem empfunden wird, keinen moralischen Status. Damit wäre die angst- und schmerzlose Tiertötung kein moralisches Problem, ebenso wenig aber die angst- und schmerzlose Tötung von Menschen. Letzteres dürfte wohl niemandem behagen.

Der Skeptiker Descartes

Berüchtigt für seine Haltung gegenüber Tieren ist bis heute der »große Aufklärer« René Descartes (1596 bis 1650). Er sah in Tieren nur seelenlose Automaten, deren Tötung oder Quälen moralisch kein Problem sei. Bekanntlich setzte er die Schreie von Tieren mit dem Quietschen einer Maschine gleich. Indizien für das Vorhandensein einer Seele sowie der Fähigkeit zu leiden seien allein die Sprache und die Vernunft, behauptete er. Damit waren die Tiere für ihn raus. Als Skeptiker hielt er das Fehlen einer tierischen Vernunft zwar für nicht nachweisbar, gleichwohl hielt ihn das nicht davon ab, sich gegen den Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« – und damit gegen die Tiere – zu entscheiden. Descartes sah darin einen Vorteil für den Menschen: »Somit ist diese meine Überzeugung nicht so sehr grausam gegenüber den Tieren als vielmehr etwas, womit ich den Menschen, zumindest denen, die sich nicht dem Aberglauben der Pythagoräer [dem Vegetarismus, Anm. d. Autors] verschrieben haben, einen Gefallen tue, indem ich sie von dem Verdacht entlaste, mit dem Verzehr oder dem Töten von Tieren ein Verbrechen zu begehen.« Unheimlich, dass man bisweilen noch heute auf Menschen trifft, die glauben, Tiere könnten keine Schmerzen spüren, weil sie kein Bewusstsein hätten, das den Schmerz wahrnimmt und bewertet. So behauptet der britische Philosoph Peter Carruthers (Jahrgang 1952!), dass der Schmerz von Tieren ungehört in ihrem Bewusstsein verhalle, weil ihnen ein Selbstbewusstsein fehle. Diese unbewussten Schmerzen seien, so Carruthers, moralisch nicht berücksichtigenswert.

Mangelndes Selbstbewusstsein

Derlei Schlussfolgerungen erscheinen mir insbesondere deshalb reichlich vermessen, weil bislang bei Laien wie Wissenschaftlern nur sehr unscharfe Vorstellungen davon existieren, was Bewusstsein und Selbstbewusstsein überhaupt bedeuten. Hier kann mir der philosophische Tierarzt Jörg Luy weiterhelfen. Das, was durch Narkose (Allgemeinanästhesie) ausgeschaltet wird, nennt er Bewusstsein, doch Luy spricht dabei lieber von »bewusster Empfindungsfähigkeit«. »Das ist medizinisch präzise, da so auch die pathozentrisch relevante Allgemeinanästhesie bzw. die finale Betäubung vor der Schlachtung korrekt eingeordnet werden kann, die mit uneingeschränkter Erregungsleitung über die Nerven, aber mit ausgeschaltetem Bewusstsein verbunden ist.« Will man darüber hinaus die teils heftigen, aber unbewussten Reaktionen auf Schmerzreize (Nozizeption) – etwa bei einem OP-Eingriff oder einer Schlachtung – abstellen, muss man zusätzlich Schmerzmittel zur Narkose verabreichen. Erst dadurch wird die Schmerzreaktion unterbunden. Daraus folgt, dass eine bloße Reiz- oder Schmerzreaktion noch kein ausreichendes Anzeichen für deren bewusste Wahrnehmung oder für ein Bewusstsein ist (mehr dazu im Kapitel »Von Aal bis Zander«).

Selbstbewusstsein geht noch darüber hinaus und bezeichnet das Erleben der eigenen Person. Ob ein Selbstbewusstsein vorhanden ist, lässt sich bei Tieren vor allem dadurch überprüfen, ob und wie sie auf ihr Spiegelbild reagieren. Das Bestehen dieses sogenannten Spiegelselbsterkennungstests gilt als notwendiges, aber nicht unbedingt ausreichendes Kriterium für Selbstbewusstsein. Menschen bestehen den Test mit zwei Jahren. Auch Schimpansen, Orang-Utans, Delfine, Elstern und Elefanten sind offenbar dazu in der Lage, des Weiteren möglicherweise Tauben, Kapuzineraffen und junge Schweine! Gorillas meiden direkten Blickkontakt, begutachten ihr Spiegelbild entsprechend gar nicht und scheitern daher beim Test. Eine Ausnahme bildet hier einmal mehr die berühmte (fleischliebende) Gorilladame Koko.

Selbstbewusstsein kann die Qualität von Schmerz oder Wohlbefinden positiv wie negativ beeinflussen: Im Guten etwa bei einer mir notwendig erscheinenden Zahnbehandlung, im Schlechten bei leichten Kopfschmerzen, die ich für einen Hirntumor halte. Es erscheint mir dagegen abwegig, wie der Philosoph Peter Carruthers zu glauben, dass Empfindungen ohne Selbstbewusstsein gar keine moralisch zu berücksichtigende Qualität haben sollten – das würde dann nämlich nicht nur viele Tiere betreffen, sondern streng genommen auch Menschenbabys, die den Spiegelselbsterkennungstest ja auch nicht bestehen.

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»Wie viel Persönlichkeit darf in einem Braten stecken?«, fragt hier der Vegetarierbund bei einer öffentlichen Aktion.

Vernunft und Verträge

Im Unterschied zu Descartes bestreitet der Philosoph Baruch de Spinoza (1632 bis 1677) nicht, dass Tiere Empfindungen haben. Er nennt diese Affekte, befindet jedoch, dass es erlaubt sein solle, »sie nach Gefallen zu gebrauchen und zu behandeln, wie es uns am besten zusagt, da sie ja von Natur nicht mit uns übereinstimmen, und ihre Affekte von den menschlichen Affekten der Natur nach verschieden sind«. Die Idee, man dürfe Tiere nicht schlachten, sei daher »mehr auf leeren Aberglauben und weibisches Mitleid als auf die gesunde Vernunft gegründet«. Er kann, wie auch Immanuel Kant (1724 bis 1804), aufgrund seiner Argumentation den als »Kontraktualisten« bezeichneten Philosophen zugeordnet werden. Diese begründen die moralische Berücksichtigung von Lebewesen durch ihre Fähigkeit, gegenseitige Verträge (Kontrakte) abzuschließen – was natürlich nur der Mensch kann. Auch Kant glaubt, dass der Mensch daher keine direkte moralische Verpflichtung gegenüber den »vernunftlosen« Tieren habe. Einen Nutzen im Tierschutz sieht er dennoch, aber allein, weil dieser von Vorteil für die zwischenmenschlichen Beziehungen sei. Man nennt dies das »Verrohungsargument«. Kant sieht somit den Menschen in der »Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Thiere …, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird«. Immerhin argumentiert er somit für einen Schutz der Tiere, wenngleich aus anthropozentrischen, also auf den Menschen bezogenen Motiven heraus. Die schnelle Tötung landwirtschaftlicher Nutztiere zur Fleischproduktion hält er für moralisch zulässig.

Viele nachfolgende Philosophen kritisierten die letztlich eigennützige Argumentation der Kontraktualisten. Mir selbst erscheint sie auch wenig sympathisch. Gerade in moralischen Fragen halte ich uneigennützige Motive für durchaus angemessen.

Mitleid mit Schopenhauer

Etwas besser gefällt mir da schon Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860). Für ihn ist Mitleid die zentrale moralische Triebfeder. Er formuliert daraus zwar keine Handlungsanleitung (normative Ethik: »du sollst«), sondern will nur beschreiben (deskriptive Ethik: »so ist es«), allerdings wird seine Norm bisweilen deutlich: »Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.« Er empört sich über die »vermeinte Rechtlosigkeit der Tiere«, über den »Wahn, dass unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei«, räumt Tieren also moralische Rechte ein. Anders als etwa Descartes postuliert Schopenhauer, dass es zwischen Tieren und Menschen in moralisch relevanten Bereichen keine gänzliche Verschiedenheit gebe. Gleichwohl hält er wie Spinoza die Leidensfähigkeit von Tieren für geringer als die von Menschen, weil er glaubt, dass diese mit der Intelligenz zunehme. Er hat auch nichts gegen eine schmerzfreie Tötung von Tieren, weil man mit einem nicht mehr existierenden Wesen nicht mehr mitleiden könne. Da ist er offenbar ganz auf Epikurs Kurs vom Ende aller Empfindungen im Tod. Mir persönlich genügt das nicht als Rechtfertigung für einen moralischen Freibrief zur schmerzfreien Tiertötung. Vielleicht reicht Mitleid allein doch nicht aus?

Gleiches gleich behandeln

Den nächsten wichtigen Schritt in Richtung Tierrechte tat Eduard von Hartmann (1842 bis 1906), der auf Schopenhauers Argumentation aufbaut. Er ersetzt den Begriff Mitleid aber durch Gerechtigkeitsgefühl. Da er eine Identifikation mit Tieren für möglich hält, fordert er, den Gleichheitsgrundsatz (Gleiches gemäß seiner Gleichheit auch gleich zu bewerten und gleich zu behandeln) zu berücksichtigen. Dieser ist auch als Gleichheitssatz bekannt und stellt seit der Aufklärung eine unbestrittene Grundlage der Gerechtigkeit dar, wie etwa im Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich …«). Umstritten ist jedoch, inwieweit dieses Gerechtigkeitsprinzip auch zwischen Menschen und Tieren gilt, was sich in der Speziesismus-Diskussion zeigt – also der Diskussion darüber, ob Angehörige einer anderen Spezies unterschiedlich (laut Speziesisten) oder gleich zu behandeln sind (laut Antispeziesisten). Von Hartmann nimmt eine antispeziesistische Haltung ein. Er lehnt die Schädigung von Tieren nicht aus anthropozentrischen Gründen ab, wie etwa Kant, sondern »zuerst und vor allem deshalb, weil wir das moralische Recht jedes empfindenden Lebewesens ohne Ansehen von Stand oder Person, also auch ohne Ansehen von Rasse, Species und Genus zu respektiren haben«.

Perspektivwechsel

Für ein gerechtes Urteil schlägt von Hartmann die Universalisierbarkeitsprobe vor, das Sich-Hineinversetzen in ein anderes Lebewesen. Die moralischen Konsequenzen, die daraus erfolgen, hängen natürlich ganz entschieden davon ab, wie viel man über die Biologie und somit die Fähigkeiten und Eigenschaften des anderen Lebewesens weiß, über das man urteilen möchte. Bis heute ist diese Schwäche eines Perspektivwechsels erkenntnistheoretisch unvermeidbar. Doch könne man nach Ansicht des Tierarztes Jörg Luy für eine moralische Urteilsbildung nicht auf die Einfühlung in das andere Wesen verzichten. Biologische und tiermedizinische Erkenntnisse könnten dabei Vermenschlichungen vermeiden. Trotz verbleibender Unsicherheiten seien Analogieschlüsse von Verhalten, Anatomie und Physiologie des Menschen auf andere Lebewesen daher im Allgemeinen brauchbar. Das sieht auch die Mehrheit der Verhaltensforscher so. Im Falle derselben biologischen Ausstattung muss man davon ausgehen, dass Tiere bei ähnlichen Erlebnissen oder Gefühlsäußerungen zumindest ähnliche Empfindungen haben.

Da ich es selbst schwierig finde, mich ernsthaft in Tiere hineinzuversetzen, behelfe ich mir folgendermaßen: Ich versuche, zumindest Wirbeltiere moralisch mit meinen beiden Hauskatzen gleichzusetzen. Was ich anderen Wirbeltieren zumuten würde, sollte ich demnach gerechterweise auch meinen Katzen zumuten können. Das Schlachten zu Nahrungszwecken fällt da schon mal weg.

Manche sind gleicher

Zurück zu dem Philosophen von Hartmann. Von Hartmann hält trotz seiner Tierrechtsideen den Menschen – ganz speziesistisch – für wichtiger und fordert den Kampf gegen schädliche und unnütze Tierarten, »da die Menschheit höhere sittliche und Kulturaufgaben zu lösen hat als das Thierreich, so steht auch die Pflicht gegen die Menschheit der Pflicht gegen die Thiere voran, und die mitleidige Gutmüthigkeit, welche sich im gegebenen Falle nicht zur Tödtung der Thiere entschliessen kann, ist … unsittlich«. Hier muss ich mich zur »mitleidigen Gutmütigkeit« bekennen. Ich habe das ausgelegte Rattengift in unserem Keller »unsittlich« mit Steinen abgedeckt.

Eine schnelle und schmerzlose Tötung von Nutztieren findet von Hartmann ebenfalls nicht unmoralisch, weil er glaubt, ein natürlicher Tod sei unangenehmer. Mit dem gleichen Argument begründete übrigens auch Jeremy Bentham (der mit der gerne von Vegetariern zitierten Frage »Können sie leiden?«) seinen Fleischverzehr.

Bei mir ist es nicht die Pflicht zum Lösen von Kulturaufgaben, weswegen ich das Interesse von Menschen immer noch über das der Tiere stellen würde. Vermutlich bin ich, wenn ich ehrlich bin, noch immer ein Speziesist. Ich nehme die Interessen mir persönlich nahestehender Menschen und Tiere weitaus wichtiger als die von unbekannten. Das ist sicherlich eine »natürliche« Eigenschaft des Menschen. Eine überzeugende ethische Rechtfertigung finde ich dafür hingegen nicht.

Wenn alles gleich ist

Bei aller Ehrfurcht vor dem Leben des Arztes und Philosophen Albert Schweitzer (1875 bis 1965) erscheint mir seine Idee, alles Leben, also auch das der Pflanzen, Einzeller und Bakterien, ohne Abstufung in die Moral einzubeziehen, alltagsfern und überhaupt nicht hilfreich. Die Fähigkeit, Schmerz oder Lust zu empfinden, sind für Schweitzer moralisch nicht bedeutsam. Daher sieht er zunächst auch keine Lösung in einer vegetarischen Ernährung, weil Pflanzen ja ebenfalls Lebewesen seien, die leben »wollten«. (Später wurde er dann doch Vegetarier.) Schweitzers Ethik lässt mich mit einem Berg unlösbarer moralischer Probleme zurück. »Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten«, schreibt Schweitzer. »Alles Vernichten und Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse.« Seine Ethik gestattet nur unvermeidbare Schäden. Mich aber irritiert, dass, wenn fast alle Handlungsalternativen Leben schädigen oder vernichten, demnach jeder nach eigenem Ermessen mit der Situation umgehen muss. Von einer Ethik wünsche ich mir aber schon, dass sie mir eine etwas größere Entscheidungshilfe ist. Wenn ich mir da, ganz kreiswehrersatzamtsmäßig, vorstelle, mit einem nicht zu bremsenden Auto entweder in eine Gruppe Kinder, Hühner, Ameisen oder Pusteblumen rauschen zu müssen, sind meine Prioritäten klar. Plausible ethische Leitlinien hätte ich jedoch natürlich auch gern für weitaus alltäglichere Situationen.

Kannibalismus

Von Hartmann kritisiert wie Schweitzer eine Abstufung zwischen den Lebensformen, berücksichtigt aber die Empfindungsfähigkeit, die er allerdings auch Pflanzen zuschreibt: »… es ist ein Vorurtheil, dass nur die Thiere unsere Brüder im Reiche des Lebens und der Empfindung seien, die Pflanzen aber nicht.« Somit beurteilt von Hartmann hinsichtlich der Tötungsfrage zu Nahrungszwecken die Grenze zwischen Tieren und Pflanzen als rein willkürlich gesetzt – ein Argument, dem ich auch heutzutage noch erstaunlich oft begegne, wenn es ums Fleischessen geht. Gleichermaßen beliebig verlaufe nach von Hartmann die Grenze zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen, Warm- und Kaltblütern oder Affen und anderen Säugetieren. Wissenschaftlich haltbar und in sich schlüssig sei nur die Grenze zwischen allem Leblosen und Lebendigen (wie bei Schweitzer) oder zwischen unserer Spezies und allen anderen, schreibt von Hartmann. »Im ersteren Falle verabscheut man das Verzehren von zerstückelten Leichen als Kannibalismus, gleichviel ob die getödteten Brüder aus dem Reiche des Lebens Thiere, Pilze oder Pflanzen sind, und respektirt die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens in jeder Gestalt; im letzteren Falle erkennt man die grossen Gradverschiedenheiten der Verwandtschaft mit anderen Lebewesen an und zieht die Grenze für den Kannibalismus da, wo die Natur sie uns durch den eigenen Instinkt und die Analogien des gesammten Thierreichs vorgezeichnet hat.« Klar, dass man sich bei dieser von ihm vorgegebenen Auswahl leicht entscheiden kann. »Will man seine Kost nicht auf vermodertes Laub und abgestorbene Pilze beschränken, so muß man sich nothgedrungen für die andere Seite der Alternative entscheiden, verliert dann aber auch das Recht, von der Inhumanität des Fleischgenusses zu reden«, urteilt von Hartmann. Die vegetarische Ernährung erschien ihm daher nicht erforderlich: »Niemand wird einem Tischnachbarn Braten aufdrängen, wenn derselbe erklärt, der Fleischgenuss widerstrebe seinem Gefühl; wenn mir aber mein vegetarianischer Nachbar vorwirft, mein Fleischessen sei inhumaner, barbarischer Kannibalismus, so weise ich ihn mit der Entgegnung zurück, sein vegetarianisches Gefühl sei eine verschrobene, zimperliche Sentimentalität ohne objektive Begründung.«

Im Interesse der Tiere

Etwa zeitgleich mit Schweitzers Ausdehnung der Moral auf alle Lebewesen, auch die nicht empfindungsfähigen wie Pflanzen und Mikroben, begrenzt der Göttinger Philosoph Leonard Nelson (1882 bis 1927) seine Ethik auf Mensch und Tier. Für ihn liegt der moralisch bedeutende Unterschied in einem »bewussten« Empfinden gegenüber einem unbewussten, das lediglich eine Reaktion auf Reize sei, wie etwa das Zusammenziehen der Blätter einer Mimose. Tierarzt Luy vermutet, dass Nelson der erste Philosoph war, für den Tiere »Personen mit Interessen« sein konnten, wie später für Peter Singer. Da Pflanzen als nicht bewusst empfindende Wesen keine Interessen haben können, sind sie laut Nelson moralisch nicht zu berücksichtigen. Das klingt zwar ein bisschen nach dem Ausschluss der Tiere aus der Moral von Descartes, allerdings erscheinen mir Nelsons Kriterien weitaus plausibler als die von Descartes. Denn trotz manch abenteuerlicher Anekdoten gibt es keine wissenschaftlichen Hinweise, die auf ein Bewusstsein oder Schmerzempfinden bei Pflanzen deuten. Die populäre Behauptung des Amerikaners Cleve Backster, der in den 1960er-Jahren mittels eines Lügendetektors gar telepathische Reaktionen bei Pflanzen nachgewiesen haben will, dürfte ihrerseits einem Lügendetektortest schwerlich standhalten. Jedenfalls ließen sich seine Ergebnisse unter wissenschaftlichen Bedingungen bis heute nicht wiederholen. Da Pflanzen nicht in der Lage sind, zu flüchten oder sich zu verbergen, dürfte es zudem kaum einen evolutiven Selektionsdruck, also genetische Vorteile für Pflanzen gegeben haben, ein Schmerzempfinden zu entwickeln. Ein Sich-Hineinversetzen als Test für eine moralische Berücksichtigung erscheint daher bei Pflanzen nicht sinnvoll. Obwohl es bislang wissenschaftlich nicht nachweisbar ist, dass Pflanzen leiden können, wird diese Annahme gerne benützt, um das Essen von Tieren zu rechtfertigen – nicht etwa, um Pflanzen zu schonen. Solche Argumente zielen meines Erachtens meist darauf ab, dass es egal sei, ob man Tiere oder Pflanzen esse – gestorben werde immer.

Leonard Nelson fordert, die Interessen von Tieren nicht zu verletzen, denn ihre Interessen seien genauso viel wert wie die des Menschen. Tiere sind für ihn vollwertige Moralobjekte, weil sie bewusst Empfindungen werten könnten und damit Interessen hätten. Diese kann man sich als Mensch durch einen Perspektivwechsel vorstellen: Da der Mensch Vernunft besitzt, ist er wegen des Gleichheitsgrundsatzes gegenüber den Tieren verpflichtet, ihre Interessen so zu berücksichtigen, als wenn es die eigenen wären. Tiere hingegen haben, weil sie nicht zu moralischer Einsicht fähig sind, keine Pflichten gegenüber dem Menschen, wohl aber Rechte. Schön für sie, die Theorie.

Wann darf man Tiere töten?

Hinsichtlich einer angst- und schmerzfreien Tötung von Tieren kommt Nelson also zu einem anderen Schluss als seine Vorgänger. Sie ist für ihn falsch, wenn das Interesse des Tieres am Leben mehr moralisches Gewicht hat als das menschliche Interesse an dessen Tötung. Mit ihm gehe ich da endlich d’accord. Nelson beantwortet die Tötungsfrage mit dem Prinzip der Goldenen Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu …« anhand des Perspektivwechsels: »Die Antwort ergibt sich leicht, wenn wir nur die Frage stellen, ob wir, wenn wir selber schmerzlos getötet würden, darum in unsere Tötung einwilligen würden. Wir würden nicht einwilligen, weil unser Interesse am Leben durch die Tötung verletzt wird, mag die Tötung so schmerzlos oder so grausam sein, wie sie will.« Entsprechend fällt auch sein Urteil zur Ernährung mit Fleisch aus: »Wer aber das Leben des Tieres so gering achtet, dass er zum Beispiel die tierische Nahrung der pflanzlichen vorzieht, nur weil er sie für bekömmlicher hält, der sollte sich füglich fragen, warum er nicht auch Menschenfleisch isst.«

Viele mögen Nelson widersprechen und einwenden, Tiere hätten kein Interesse am Weiterleben, weil sie ohne Zukunftsvorstellung seien. Entsprechend differenzieren Peter Singer und vor ihm der britische Philosoph Richard Hare (1919 bis 2002) den Interessensbegriff von Nelson. Nur dort, wo gleiche Interessen vorhanden seien, müssten sie auch gleich berücksichtigt werden: Tiere hätten kein Interesse an Religionsfreiheit, wohl aber an Wohlbefinden und Schmerzfreiheit. Lediglich letztere Interessen seien daher zu berücksichtigen. In den Belangen, in denen Lebewesen ungleich seien, dürften sie auch ungleich behandelt werden. Gegenüber Nelson schränkt Singer somit den Kreis der Lebewesen ein, die für ihn Personen, das heißt Wesen mit Interesse an ihrer Zukunft, sind. Ein Interesse am Weiterleben und damit ein Recht auf Leben hätten nur die Lebewesen, die in der Lage seien, ein Weiterleben zu wünschen. Sie fielen unter ein Tötungsverbot, weil durch die Tötung ihr Interesse am Weiterleben missachtet würde. Singer geht davon aus, dass zumindest Säugetiere und vermutlich auch Vögel eine Vorstellung von Zukunft haben und dass sie nicht einfach nur Geschöpfe sind, die im Augenblick leben. Sie verfügten über ein Gedächtnis, könnten aus Erfahrungen lernen und zeigten zum Teil Erwartungen an die Zukunft, indem sie etwa planvoll handelten. Singer gibt jedoch zu, dass es schwierig wäre, festzustellen, ob ein anderes Lebewesen in diesem Sinne eine Person sei, und plädiert dafür, den Zweifel für das Lebewesen sprechen zu lassen. Ich hingegen habe in den letzten Jahren den Zweifel gegen die Fische sprechen lassen. Sie waren nach meiner Singer-Lektüre für mich weiterhin keine Personen mit einem Interesse am Leben. Da ich ihnen zudem ein echtes Schmerzempfinden absprach, erschien mir ihre Behandlung nicht so wichtig. Gegessen habe ich sie natürlich vor allem, weil ich sie lecker fand und für gesund hielt – zumal ich kein Fleisch von Säugern und Vögeln mehr aß. Die Singer-Argumente gegen ein Lebensrecht der Fische und mein biologisches Halbwissen über ein vermeintlich eingeschränktes Schmerzempfinden von Fischen nutzte ich, um bei ihrem Verzehr kein schlechtes Gewissen zu haben.

Fraglich ist, ob eine Zukunftsvorstellung allein ausreicht, um tatsächlich den Wunsch zu haben, als Individuum weiterzuleben. Gibt es ein messbares Kriterium für einen kognitiven Entwicklungsgrad, der einen solchen Wunsch möglich machen würde? Wenn der Spiegeltest Hinweise auf ein Selbstbewusstsein liefert, würde das Bestehen des Tests darauf hindeuten, dass der Wunsch weiterzuleben ebenfalls vorhanden sein könnte. Bedenkt man aber, dass etwa Gorillas beim Spiegeltest durchfallen, dies aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass ihnen ein Selbstbewusstsein fehlt, könnte vermutlich auch der Wunsch eines Lebewesens, am Leben zu bleiben, leicht übersehen werden.

Utilitarismus und Eigenwert

Singer findet nicht, dass nur Interessen von Lebewesen beachtet werden müssen, die über Fähigkeiten wie Zukunftsvorstellung verfügen. Wenn etwa ein Fisch an der Angel gegen diesen schmerzhaften und bedrohlichen Zustand ankämpft, legt sein Verhalten nahe, dass er ein Interesse hat, diesen zu beenden. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass er auch ein Interesse an seiner eigenen Existenz hat. Moralisch ist es demnach falsch, den Fisch auf diese Weise zu fangen, nicht aber, den Fisch etwa mit einer angst- und schmerzfreien Methode zu töten. Singer setzt für seinen moralischen Segen jedoch voraus, dass man das Leben des schmerzfrei getöteten Fisches durch das Leben eines neuen Fisches ersetzt. Das klingt gleich in zweierlei Hinsicht seltsam. Singer geht zum einen davon aus, dass Wesen ohne Selbstbewusstsein ihre Bewusstseinszustände biografisch nicht miteinander verbinden. Wenn ein Fisch betäubt werde und wieder erwache, wisse er nicht, dass er vorher auch schon gelebt habe, glaubt Singer. »Wenn also Fische in bewusstlosem Zustand getötet und durch eine ähnliche Zahl anderer Fische ersetzt würden (…), gäbe es – aus Sicht des Fischbewusstseins – keinen Unterschied zu dem Fisch, der sein Bewusstsein verliert und wiedergewinnt.« Dass für Singer ein Fisch durch einen anderen einfach ersetzbar ist, liegt an seiner utilitaristischen Grundeinstellung – die zweite Kuriosität. Der Utilitarismus beurteilt Handlungen anhand ihrer »Nützlichkeit« für die Interessen der beteiligten Lebewesen. Demnach sollte man stets die Handlungsalternative wählen, die insgesamt zum kleinsten Schaden oder zum größten Nutzen führt. Aus utilitaristischer Sicht sollten moralische Normen das Wohlbefinden in der Welt vermehren. Das Töten von empfindungsfähigen Lebewesen, die sich wohlfühlen, ist demnach unmoralisch, weil es die Menge an globalem Wohlbefinden verringert. Wird aber ein empfindungsfähiges Wesen durch ein anderes ersetzt, ändert sich an der Glücksmenge in der Welt nichts. Singer selbst hält diese Sichtweise als Argument für den Fleischverzehr für sehr beschränkt, denn sie könne die industrielle Tierhaltung nicht rechtfertigen, in der die Tiere kein angenehmes Leben führen. Auch für eine Rechtfertigung der Jagd auf Wildtiere eigne sie sich nicht, weil ein geschossenes Tier nicht durch ein anderes ersetzt werde. Bei den Situationen, in denen das Töten nicht falsch sei, handle es sich doch um sehr spezielle, findet Singer. So schlussfolgert er, dass es unter praktischen moralischen Grundsätzen besser sei, auf das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken völlig zu verzichten.

Neben Singer erfreut sich in der Tierrechtsbewegung auch die Position des Amerikaners Tom Regan großer Beliebtheit. Ihm zufolge verfügt jedes Lebewesen, das zu einem individuellen Wohlbefinden fähig ist, über einen Eigenwert. Damit sei es Träger von Rechten und dürfe nicht nur als Mittel für fremde Zwecke genutzt werden. Alle diese »Subjekte des Lebens« seien durch individuelle Rechte geschützt.

Rückfälle

Auch wenn ich Singers Argumenten absolut hatte zustimmen können, war seine philosophische Überzeugungskraft nicht so stark, wie ich gehofft hatte. Ich hatte bereits ein Jahr fleischfrei gelebt, dann aber war ich zu Gast in der Schweiz, und Freunde gaben eine Gartenparty mit viel Grillfleisch. Auf dem Fest hielt ich den Verlockungen noch tapfer stand, doch am nächsten Abend wurden die zahlreichen Restwürste aufgetischt. Sie hätten sich höchstens noch einen Tag gehalten, es waren zu viele für unsere Gastgeber. Also half ich ihnen. Ich habe es schon damals gehasst, wenn Lebensmittel »umkamen«, besonders, wenn dafür Tiere umgekommen waren. Meine Frau zweifelt meine jetzige Interpretation der damaligen Situation allerdings an: »Das war dir doch völlig egal, du bist einfach eingeknickt!« Es blieb auch nicht bei einer Wurst – ich gab mich dem Wurstrausch hin –, und das war beileibe nicht die letzte Inkonsequenz dieser Jahre: Als »Vegetarier« zu Gast bei Schwiegereltern oder Freunden stopfte ich mir gelegentlich heimlich Wurstscheiben oder Schinken in den Mund und hoffte, dass mich niemand dabei ertappte.

Fleischporno

Wurstregale in Supermärkten hatten für mich lange eine gewisse Ähnlichkeit mit den Herrenmagazin-Regalen großer Tankstellen und Zeitschriftenläden. Nicht allein wegen des vielen rosig-roten Nebeneinanders, sondern auch wegen meiner »von niederen Instinkten« geleiteten verstohlenen Blicke, mit denen ich das Sortiment gelegentlich begutachtete. In der Tat habe ich mich meist beobachtet gefühlt, wenn ich doch einmal – keine Hefte, nein, wohl aber – Würste im Supermarkt gekauft habe. Sofort verhedderte ich mich im Kopf in Rechtfertigungen gegenüber fiktiven Vegetariern, die mich wegen des Fleischkaufs beschimpfen würden. Oder ich fürchtete, fleischessende Freunde oder Kollegen an der Kasse zu treffen, die sich sofort über meinen inkonsequenten Fleischverzicht ereifern würden. Am liebsten hätte ich beim Bezahlen der Würste gesagt, dass es eine Ausnahme sei (»Ich kaufe den Playboy nur wegen der Autoberichte«). Vermutlich hätte jeder Kassierer gestutzt. Dass ich bei meinen Rückfällen bevorzugt billige Wurst in billigen Supermärkten gekauft habe, lag wohl daran, dass ich fand, das Schäbige passe zu meinem »schäbigen« Tun. Und ich wollte meine Schwäche nicht mit »kultiviertem« Biofleisch etablieren.

Lebensrecht und Tötungsverbot

Zurück zur geistigen Nahrung: Die zeitgenössische Philosophin Ursula Wolf hält es für ein moralisches Tötungsverbot nicht für notwendig, dass ein Tier einen bewussten Willen zum Weiterleben hat: »Mit dieser Überlegung könnte man das Weitermachenwollen jeder Handlung als Indiz für das Weiterlebenwollen auslegen. Die Folge wäre, dass man allen Tieren, die sich bewusst-absichtlich verhalten können, ein moralisches Lebensrecht zusprechen müsste. Das aber können alle Tiere mit Ausnahme der ganz primitiven Formen, sodass das Töten so gut wie aller Tiere unmoralisch wäre. Ich selbst tendiere eher zu dieser weitergehenden Auffassung.«

Naturwissenschaftliche Tierrechte

Kann man eine Allgemeingültigkeit für eine ethische Sichtweise beanspruchen und diese Gültigkeit zudem rational begründen? Das Problem ist, dass es keine allgemeingültigen Werte zu geben scheint. Dazu stellt Jörg Luy fest: »Moses hat die Legitimationsfrage seiner Ethik mit den zehn Geboten in einer nicht zu toppenden Weise gelöst: In Stein gemeißelt, direkt in Gottes Auftrag.« Eine rational begründbare Ethik, wie sie seit der Aufklärung verlangt wird, hat es da viel schwerer. Alle Versuche, eine solche zu formulieren, sind bisher gescheitert. Einen weiteren Versuch hat der Naturwissenschaftler und Tierethiker Martin Balluch unternommen. Er begründet Tierrechte naturwissenschaftlich. Leben, Freiheit und Unversehrtheit sind für ihn allgemeingültige Werte für jedes Wesen, das bewusst empfindet, etwas als gut oder schlecht für sich selbst bewerten kann und somit auch einen Willen hat. Denn der Wille eines Lebewesens ist laut Balluch die Auswirkung seines Bewusstseins auf sein Verhalten. Da die Basiswerte Leben, Freiheit und Unversehrtheit Voraussetzung dafür sind, einen Willen auszuleben, liegen diese auch im Interesse des Lebewesens. Daraus ergeben sich für alle Lebewesen, die diese Kriterien erfüllen, Grundrechte. Die Grundrechte gelten gegenüber einem zu ethischen Entscheidungen fähigen Gewaltmonopol. Das liegt offensichtlich beim Menschen. Was ethisch richtig ist, kommt nach Balluch somit aus der eigenen Bewertung aller bewusst fühlenden Wesen und nicht aus der Beschreibung der Welt. Sonst wäre es ein naturalistischer Fehlschluss, der vom Sein auf ein Sollen schließt. Balluch sieht somit ein Lebensrecht für alle bewusst empfindenden Lebewesen – und das schließt dementsprechend auch ein Tötungsverbot ein.

In Schubladen denken – Grundlegende Positionen der Tier- bzw. Naturethik:

• Anthropozentrismus: Nur Menschen sind (aufgrund von Vernunft, Seele, Selbstbewusstsein, Sprache, Leidensfähigkeit im menschlichen Sinn o. Ä.) moralisch zu berücksichtigen. Nicht menschliche Lebewesen sind Ressourcen, über die man verfügen darf. Tiere und Natur sind nur dann schützenswert, wenn dies dem Menschen nutzt, etwa um zu verhindern, dass der Mensch verroht. (Immanuel Kant, Peter Carruthers)

• Pathozentrismus: Alle empfindungsfähigen (leidensfähigen) Lebewesen sind moralisch zu berücksichtigen. Innerhalb des pathozentrischen Ansatzes gibt es äußerst unterschiedliche Auffassungen darüber, welche empfindungsfähigen Lebewesen moralisch wie viel zählen.

Hierarchismus: Auch wenn (einige) Tiere moralisch um ihrer selbst willen zu berücksichtigen sind, schließt das eine Ungleichbehandlung und die Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke nicht aus. Das Leid der Tiere zählt moralisch, aber nicht in gleicher Weise wie menschliches Leid (»milder Speziesismus«).

Arten-Hierarchismus: Die Interessen von Menschen sind moralisch stärker zu berücksichtigen als die anderer Lebewesen, weil Menschen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit oder ihrer artspezifischen Eigenschaften einen höheren Wert besitzen. Auch andere Gruppen von Lebewesen (zum Beispiel Wirbeltiere) können allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der Gruppe bevorzugt werden. (Carl Cohen)

Gemeinschafts-Hierarchismus: Lebewesen, die mit Menschen in einer besonderen Beziehung stehen, sind moralisch höherwertig. Ihnen gegenüber bestehen Verpflichtungen. (Mary Midgley)

Merkmals-Hierarchismus (Interessen-Hierarchismus): Nicht die Zugehörigkeit zu einer Art ist entscheidend, sondern die (potenziellen) Eigenschaften von Lebewesen (zum Beispiel Bewusstsein) oder ihrer Interessen (zum Beispiel Zukunftsbezug). Neben dem Menschen können auch andere Arten höherwertige Interessen haben. (Gary E. Varner)

Egalitarismus: Die Interessen von Tieren und Menschen sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Lebewesen, die in moralisch bedeutsamer Hinsicht gleich sind (zum Beispiel in puncto Empfindungsfähigkeit), sollen in dieser Hinsicht auch gleich behandelt werden. Die menschliche Vorrangstellung und die Ungleichbehandlung moralisch zu berücksichtigender Lebewesen sind ungerecht (-fertigt). Eine egalitäre Haltung muss nicht pathozentrisch sein, also die Leidensfähigkeit als einzig entscheidendes Kriterium ansehen. Sie kann Tieren Rechte aufgrund eines Eigenwertes zuschreiben, etwa aufgrund ihrer Fähigkeit zur Autonomie. (Leonard Nelson, Richard Ryder, Steven M. Wise)

Schwacher Egalitarismus: Die Gleichberechtigung gilt nur hinsichtlich der Leidensfähigkeit, nicht unbedingt hinsichtlich eines Lebensrechtes. Menschen oder auch einige Tierarten können weitere Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Zukunftsvorstellungen haben, weswegen ihre Interessen schwerer wiegen als die anderer Lebewesen. Auch graduelle Unterschiede in der Leidensfähigkeit können bei der Interessensabwägung berücksichtigt werden. (Peter Singer)

Starker Egalitarismus: Tiere und Menschen sind nicht nur hinsichtlich der Leidensvermeidung, sondern auch hinsichtlich der Autonomie und des Lebensrechts gleichberechtigt. Tiere haben, genauso wie Menschen, moralische Rechte (Tierrechte) oder eine Würde, weswegen in grundlegenden Fragen eine Abwägung mit menschlichen Interessen nicht zulässig ist. Tierrechte beinhalten meist das Recht auf Selbstbestimmung. Die Konsequenz ist die Abschaffung jeglicher Tiernutzung, was in Anlehnung an die Abschaffung der Sklaverei als Abolitionismus bezeichnet wird. (Tom Regan, Helmut F. Kaplan, Carol J. Adams, Paola Cavalieri, Gary L. Francione, Martin Balluch)

• Biozentrismus: Alle Lebewesen sind moralisch zu berücksichtigen – die Eigenschaft zu leben ist dafür ausreichend. Das schließt aber nicht die Nutzung oder Tötung von Lebewesen aus. (Albert Schweitzer, Paul W. Taylor)

• Holismus: Die Natur ist nicht nur in ihren Teilen (zum Beispiel Flüsse), sondern vor allem als Ganzes (zum Beispiel Ökosysteme und Populationen) moralisch zu berücksichtigen, darf aber genutzt werden. (Klaus Michael Meyer-Abich)

Viele Autoren, auch die genannten, lassen sich nicht immer eindeutig einer Position zuordnen, zumal sich die einzelnen Positionen bisweilen überschneiden. Hierarchische und egalitäre Positionen sind auch außerhalb einer pathozentrischen Grundhaltung möglich. Mehr dazu unter www.tier-im-fokus.ch

Ich muss feststellen, dass mich so weitgefasste Tierrechte wie die von Ursula Wolf und Martin Balluch zunehmend ansprechen. Selbst wenn Fische oder andere Tiere keine Zukunftsvorstellung haben und man mit ihrer Tötung somit keine »Pläne« durchkreuzen kann, stellt sich mir mittlerweile die Frage, warum eine Tötung akzeptabel sein soll, nur weil sie angst- und schmerzfrei ist. Sofern das Tier ein Leben führt, bei dem das Wohlbefinden überwiegt, nicht das Leiden, Euthanasie also unangebracht wäre, kann man davon ausgehen, dass das Lebewesen gern lebt. Nicht das Interesse des Tieres weiterzuleben halte ich für entscheidend, sondern das Interesse, Wohlbefinden zu erleben. Mit welchem Recht sollte man das Leben und damit das Wohlbefinden eines Tieres beenden dürfen, selbst wenn man im Sinne einer utilitaristischen Glücksgleichung dieses Leben anschließend durch ein anderes ersetzt? Darf man ein Leben nehmen, weil man es als Tierzüchter ja ohnehin erst ermöglicht hat? Ich finde nicht. Dem Tier wird mit dem vorzeitigen Tod definitiv eine mögliche positive Lebenserfahrung genommen. Ich muss für mein Urteil einfach nur an meine Katzen denken. Sie in der Sonne liegend zu kraulen, erscheint mir für sie eindeutig attraktiver zu sein, als ihre Existenz schmerzfrei zu beenden. Solange ich über einen Perspektivwechsel annehmen kann, dass ein Lebewesen Wohlbefinden verspürt oder zumindest dazu in der Lage ist, brauche ich schon sehr gute Gründe, um ihm diese Möglichkeiten zu nehmen – sei es dadurch, dass ich ihm seinen Lebensraum raube, seine Lebensqualität oder sein Leben. Meines Erachtens steht außer Frage, dass wir bei allen Handlungen, die mögliches Wohlbefinden beeinflussen, die Interessen der Beteiligten berücksichtigen sollten. Demnach finde ich, wir sind dazu verpflichtet, den Lebensraum von Tieren so zu erhalten bzw. zu gestalten oder wiederherzustellen, dass diese darin möglichst wenig Leid und möglichst viel Lebensfreude empfinden können, ob es nun um Heimtiere, Zootiere, Nutztiere oder Wildtiere geht. Die Nutzung von Tieren dürfte nur dann gestattet werden, wenn ihre Bedürfnisse dabei erfüllt würden und ihnen Leid erspart bliebe. Dies sieht auch Jörg Luy so: »Eine Ernährungsform, die man der Weltbevölkerung als ethisch unproblematisch empfehlen könnte, müsste nicht zwangsläufig auf tierische Lebensmittel verzichten, aber es scheint unvermeidlich zu fordern, dass diese ohne Tierleid gewonnen werden und dass im gesamten Herstellungsprozess, einschließlich Futterpflanzenanbau, keine moralisch fragwürdigen Praktiken genutzt werden. Das schließt allerdings den größten Teil des gegenwärtigen Lebensmittelangebots aus.«

Wie es aussieht, kommen mir meine Argumente abhanden, Fisch und »Meeresfrüchte« mit gutem Gewissen zu konsumieren. Der Sache muss ich weiter auf den Grund gehen.