Seit wir den Weg verlassen haben, wird nur noch geflüstert. Ich muss husten. »Das sind die Waffen eines Vegetariers«, scherzt L. Er hat mir zuvor den Ball zugeschoben, ich solle, wenn es so weit sei, entscheiden, ob er abdrücken soll oder nicht. Es ist klar, dass ich das nicht will, auch wenn mich wahrlich interessiert, wie ich den Tod eines Rehs oder Wildschweins erleben würde. L. ist durchaus motiviert, Beute zu machen. Er schießt nur Tiere, die er essen kann, und er isst gerne Wildbret. Seine Tiefkühltruhe ist leer, und die letzte Jagd liegt etliche Wochen zurück. Vor uns liegt ein Wildacker mit Senfpflanzen für die Rehe und Wildschweine sowie das Gewehr, das mich – abgesehen von Gewicht und Zielfernrohr – an meine Winnetou-Silberbüchse aus Kindertagen erinnert. Mit dem Fadenkreuz kommt es mir nahezu simpel vor, etwas ins Visier zu nehmen, selbst über eine Distanz von 80 Metern. Ein Tier aus dieser Entfernung zu schießen, würde mir vermutlich leichter fallen als aus nächster Nähe. Nur will ich es nicht, egal, ob ich glaube, ein Tier zu »kennen« oder nicht. Das höchste Jägergebot (»Was du nicht kennst, das schieß nicht tot!«) geht mir da nicht weit genug. Ein Waldkauz ruft. Ansonsten schluckt der aufziehende Nebel alle Geräusche. Ob das nicht seltsam sei, über das Leben eines Tieres zu entscheiden, frage ich. »Bevor Sie als Jäger das Gewehr in die Hand nehmen«, sagt L., »müssen Sie die Entscheidung über Leben und Tod schon getroffen und sich über diese inneren Skrupel hinweggesetzt haben, eine Kreatur aus der Wildbahn zu nehmen.« Das Töten erfolgt nach Regeln. Taucht ein Reh mit seinem Kitz auf, schießt er zuerst das Kitz. Nie umgekehrt. Häufig schaut sich das Reh nach dem Kitz um, dann schießt er das »zweite Stück«. Tierkinder zu töten klingt grausam für mich, doch mir fällt ein, dass in der Landwirtschaft die allermeisten Nutztiere schon im Kindes- oder Jugendalter geschlachtet werden, ohne dass sie jemals Zeit mit ihrer Mutter verbracht hätten.
Es sei für den Jäger allerdings wichtig, das Töten richtig einzuordnen, nämlich als etwas, das zum Leben dazugehöre, sonst schade er sich letztendlich seelisch, sagt L., und er bringe sich um die Chance, die die Jagd biete. Und weil man als Jäger in den Kreislauf aus Leben und Tod eingeordnet sei und das durch sein Handeln repräsentiere, habe die Jagd für ihn einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft. Aber L. kennt auch die Augenblicke, wo er vom Mond oder der untergehenden Sonne und der wunderschönen Natur so fasziniert ist, dass sich in ihm etwas dagegen sträubt zu töten. »Dann lässt man den Finger krumm und genießt das auch.«
Ein Stück weit kann ich die Gedanken und Gefühle des Jägers nachempfinden. Dennoch bin ich ganz froh, dass wir ohne Beute den Rückweg antreten.