Die Wahl der Qual

Ein vegetarischer Metzger, Käferlarven und Konsequenzen

Man muss natürlich überhaupt nicht Vegetarier sein, aber jemand, der es nicht wenigstens mal ein oder zwei Jahre probiert hat, fleischlos zu leben, ist irgendwie ein armseliger Dödel.

Max Goldt, deutscher Schriftsteller, in Die Kugeln in unseren Köpfen

Die Arbeitskleidung von Axel Schäfer ist immer noch weiß, nur statt Wurstteig knetet der ehemalige Metzger nun als Shiatsu- und Körpertherapeut die Rücken seiner Kunden. Die Kunden sind auch nicht mehr dieselben wie früher. Vor einigen Jahren beschloss der Metzger in dritter Generation zusammen mit seiner Frau, den Mittagstisch der Metzgerei zu vegetarisieren. Sie kochten also mittags komplett ohne Fleisch, ohne Zusatzstoffe und ohne Fertigprodukte, boten aber weiterhin Fleisch und Wurstwaren in der Auslage der Metzgerei an. Einigen gefiel das. »Sie verbinden eben zwei Welten«, hieß es von einer Kundin. Viele fanden es witzig. Andere nicht und blieben weg. »Die orthodoxen Vegetarier kamen nicht zu uns, weil noch Wurst, Frikadellen und Hähnchenschnitzel in der Theke lagen«, sagt Schäfer. »Wir trauten uns aber nicht, das Steuer ganz rumzureißen. Und wir hatten nicht das Geld, um einen Cut zu machen, alles rauszureißen und dort, wo 70 Jahre eine Metzgerei gewesen war, ein vegetarisches Restaurant aufzumachen«, erzählt er. Also haben sie die Fleischtheke nach Ladenschluss mit Vorhängen abgehängt und abends in den Räumen der Metzgerei vegetarisches Essen angeboten – wie in einem ganz gewöhnlichen Restaurant. Eine bizarre Vorstellung. Seine Frau fand es zunehmend unangenehm, Fleisch zu verarbeiten, und auch er mochte irgendwann den Geruch an den Händen nicht mehr. So flog schließlich die Fleischtheke raus, und sie reduzierten das Wurstangebot. Daraufhin war ein Teil der Kundschaft sauer, und die Metzgerei verlor ihre alte Stammklientel. Etliche Metzgereien verschwinden auch ohne Zutun der Eigentümer von der Bildfläche. Von einigen Hundert war ihre Zahl im Raum Düsseldorf schon auf 50 geschrumpft, als Schäfer vor 20 Jahren das Geschäft von seinem Vater übernahm. Heute seien es vielleicht noch 40 Metzgereien, schätzt Schäfer. »Davon stellen noch fünf oder allerhöchstens zehn selber Wurst her«, so Schäfer. Keiner der Metzger würde mehr selbst schlachten. Alle kauften sowieso nur noch im Großhandel oder bei Kollegen ein. Ansonsten gehe alles über Discounter und Supermärkte.

Oho-Erlebnisse

Als Unternehmerkind sei ihm früh beigebracht worden zu funktionieren, Leistung zu bringen und das Fühlen einzustellen, sagt Schäfer. Mit 16 hieß es: »Was willst du werden? Du hast bis zum Monatsende Zeit, drüber nachzudenken. Wenn dir nichts Gescheites einfällt, kommst du am besten in die Firma.« Die Metzgerei seines Vaters war ein gemachtes Nest, der Laden lief und bot einen gewissen Lebensstandard. »Dass es wohl nicht die beste Entscheidung gewesen ist, habe ich erst später gemerkt«, sagt er. »Weil ich nichts mehr fühlte, hätte ich genauso gut Sand oder Beton mischen können. Ich glaube aber, dass der Metzgerberuf und der Umgang mit toten Tieren uns nicht unberührt lassen. Einmal hatte ich eine ganz kleine Kalbsleber auf dem Tisch liegen, und mir schossen die Tränen in die Augen. Oho, da scheint doch irgendwas zu sein, das dich nicht so kaltlässt, wie du immer meinst. Und irgendwann, als der Kutter mit der Wurst lief, dachte ich daran, wie viel Tod in dem Kutter läuft. Das hat dann bei mir ausgereicht, um weiter nachzudenken: Es kam die Überlegung, das, was du da machst, ist nicht das, was du tun möchtest oder solltest.« Seiner Frau machten vor allem die bei ihnen vorbeifahrenden Tiertransporte zu schaffen. Auch sie wollte das nicht länger ertragen müssen, und so haben sie nach neuen Wegen gesucht. Beide stellten ihre Ernährung um, Fleisch gab es immer weniger. »Es war bei uns immer wieder Thema, das Fühlen neu zu entdecken, noch einmal zu erlernen und sich bewusst zu machen«, sagt Schäfer. »Ich sage nicht, man darf kein Tier töten. Das muss jeder letztendlich selbst wissen. Aber ich finde nicht gut, was mit den Tieren passiert, überhaupt, was auf dem Nahrungsmittelsektor passiert, wenn etwa Leute unter erbärmlichen Umständen die Ernte einbringen müssen, damit wir hier billig Tomaten essen können.«

Nicht nur mit der Metzgerei, auch mit dem vegetarischen Angebot ist demnächst Schluss. In die Räume der Metzgerei wird ein Spielzeugladen ziehen. Axel Schäfer und seine Frau wollen in ihrem Gästehaus darüber mit Shiatsu, Yoga und Achtsamkeitsmeditation einen anderen Lebensweg anbieten.

Schmetterlinge im Bauch

Fleischalternativen aus Soja, Weizen oder anderem begegnen viele Allesesser und selbst einige Veggies mit Skepsis. Manche wittern darin gar eine Inkonsequenz. Sie kritisieren, dass die Freunde von Tofuwurst und Seitanschnitzel etwas essen wollen, das den ehemals vertrauten Fleischprodukten optisch und geschmacklich möglichst nahekommt. Ich wundere mich über die Logik der Kritiker. Schließlich esse ich ja nicht aus ästhetischen Gründen keine Tiere mehr. Jedenfalls freue ich mich über die wachsende Qualität und Produktvielfalt und probiere gern manche – in der Tat übertrieben imitierende – Skurrilitäten aus, wie »Garnelenschwänze« und »Hühnerschenkel« zum Abnagen am Zuckerrohr-»Knochen«. Sogar Kunstfleisch aus dem Labor könnte ich mir als Alternative für mich vorstellen. Doch das gibt es derweil noch nicht zu kosten, vor allem nicht zu bezahlbaren Kosten: Der erste Burger, der dieses oder nächstes Jahr aus Stammzellen entstehen soll, hat in der Entwicklung eine Viertelmillion Euro verschlungen. Als weitere ernsthafte Alternative zum Fleisch werden Insekten diskutiert. Die Welternährungsorganisation (FAO) wirbt seit einiger Zeit für die hierzulande wenig beachtete Nahrungsquelle. Insekten sollen helfen, den Proteinhunger der wachsenden Weltbevölkerung zu stillen. Vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika essen ohnehin bereits 2,5 Milliarden Menschen etwa 1700 Arten. Viele Vertreter dieser artenreichsten Tierklasse können weitaus effizienter als die üblichen Nutztiere Biomasse in Proteine umwandeln. Sie sind zudem in etlichen Gegenden leicht verfügbar, ihre Aminosäuren entsprechen den Ernährungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und sie enthalten kaum Cholesterin.

Im Dschungelcamp

Vegan sind Insekten definitiv nicht. Dennoch »gönne« ich mir eine Ausnahme, weil mich interessiert, ob Insekten in Deutschland eine zumindest ressourcenschonende Alternative zur Bulette werden könnten. In einem australischen Restaurant in Berlin treffe ich mich wieder mit Steffi, meiner nunmehr ehemaligen Kollegin. Kaum habe ich mich hingesetzt, erzählt sie auch schon, dass sie ihren Fleischkonsum drastisch reduzieren wird. Sie habe auch gleich einer Kollegin angekündigt, jetzt öfters vegetarisch zu essen. »Die hat mich angeguckt wie ein Auto«, sagt Steffi. Sie hat mein Kapitel über die Tierhaltung gelesen, allerdings erst vor ein paar Tagen. Entsprechend frisch ist ihr frommer Wunsch. »Man wird in ein oder zwei Monaten mal sehen, ob ich es wirklich durchgehalten habe«, schränkt sie ihr Vorhaben ein. (Ein Vierteljahr später hält sie tatsächlich noch immer durch!) Jetzt bestellt sie immerhin einen vegetarischen Wrap zum »Buschteller« mit Heuschrecken und Schwarzkäferlarven. Ein wenig »echtes« Fleisch ist allerdings auch dabei: vom Känguru und Krokodil. Das ist nichts für mich, ich bestelle den Wrap veganisiert und die Insekten einzeln, jeweils drei. Sie stammen von einem Züchter, werden lebend geliefert, im Tiefkühler getötet und dann frittiert. Zufällig läuft »Mad World«, das Lied vom Tierbefreierkongress, im Hintergrund, als ich die hübsch angerichteten Tierleichen serviert bekomme. »Ich glaube, ich kriege Alpträume«, lautet Steffis erste Reaktion, »das ist wie Regenwürmer essen.« Der Veganer muss erst mal vorkosten. »Die lebt doch noch«, ruft Steffi, als ich mir eine der Käferlarven näher anschaue. Tut sie natürlich nicht. Sie ist ganz kross und erinnert mich in ihrer Konsistenz an gebratene Fischflossen. Die Larven haben den im Hals leicht brennenden Geschmack von Ziegenkäse. Die Heuschrecken sind ein wenig nussig. So frittiert jedenfalls ist bei beiden Tieren der Eigengeschmack gering, die Substanz auch.

12_Woher_bekommst_du_denn_dann_deine_Proteine.jpg

Herr Ober! In meinem Salat sind Käfer.

»Manchmal gibt es schon diese Momente, wo ich daran denke, was vorher war, bevor das Fleisch auf meinem Teller landete«, sagt Steffi. »Wo ich mich frage, was muss passieren, damit meine Wurst aufs Brot kommt?« Aber das sei nicht immer präsent. Sie wisse, dass vieles im Argen liege und dass sie mit ihrem Verhalten etwas beeinflussen könne, aber dennoch nicht immer danach handle. »Mit der Tierhaltung, die für mich akzeptabel wäre, lässt sich ja nur sehr wenig Fleisch herstellen. Da dürfte ich eigentlich nur einmal die Woche Fleisch essen oder sogar nur alle zwei Wochen«, sagt sie. Gern würde sie alle Fleisch- und Wurstwaren von dem schwäbischen Rinderflüsterer Maier beziehen. Außerdem wünscht sie sich ein eindeutiges und aussagekräftiges Siegel: »So was wie Fairtrade für Tiere, mit Kontrollen ohne Ausnahmen.« Der Wunsch könnte theoretisch mehrheitsfähig sein. 62 Prozent der EU-Bürger wollen laut einer Umfrage ihre Essgewohnheiten ändern und überwiegend »tierfreundliche« Produkte konsumieren. Die Toleranz der Kontrollbehörden hat Steffi beim Lesen meines Kapitels besonders aufgeregt. Und dass, wie sie sagt, »man auch Biofleisch nicht mit gutem Gewissen essen kann, es sei denn, man kennt den Hof«.

Jetzt beißt Steffi erst mal in eine Heuschrecke. Genuss sieht anders aus. »Ist ja gar nichts dran«, findet sie. »Ungewöhnlich und nicht schlecht. Bis auf das, was sich nicht zerkauen ließ … War wahrscheinlich ein Auge.« Sie sucht vergebens ihre Käferlarven unter den Salatblättern. »Vielleicht kommen sie ja gleich rausgekrabbelt.« Kommen sie nicht. Sie reklamiert: »Entschuldigung, meine Maden fehlen.« Man bringt sie in einer als Körbchen aufgeschnittenen Zitrone.

Ausnahmeregelungen

Steffi will von mir wissen, ob ich nicht Fleisch aus idealen Haltungsbedingungen essen würde, wenigstens gelegentlich, nicht regelmäßig. So wie das Fleisch von Herrn Maier, »der noch mit dem Tier gekuschelt hat, als es schon tot war. Dem es gut ging, wo man sagen würde, das war ein gutes Rinderleben«. Warum ich mir nicht mal aus vollem Genuss eine Scheibe Fleisch gönne und am nächsten Tag wieder vegan lebe. »Ich würde als Veganer einmal im Monat einen Fleischtag einlegen«, sagt sie, korrigiert sich aber gleich: »Ich würde als Vegetarier einmal im Monat einen Fleischtag einlegen. Ich würde sofort Vegetarier werden, wenn ich alles, was ich essen will, selber schlachten müsste. Dann würde ich mir vielleicht noch eine Heuschrecke rösten. Wenn sie jemand anderes für mich tot macht. Fleisch würde ich mir verkneifen, aber es würde mir fehlen.« Mir fehlt es glücklicherweise inzwischen nicht mehr. Selbst das Fleisch von Bauer Maiers Rindern will ich nicht, noch nicht einmal, wenn die Tiere totgestreichelt würden. Das Fleisch der Maier-Rinder schmeckt sicher noch besser als ein Steak aus Seitan. Aber was folgt daraus? Der Verhaltensforscher Jonathan Balcombe zitiert in seinem Buch Tierisch vergnügt den griechischen Schriftsteller Plutarch aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.: »Für einen Bissen Fleisch nehmen wir einer Seele die Sonne und das Licht und verkürzen ihre Lebenszeit in einer Welt, in die sie geboren wurde, um Freude zu erleben.« Auch wenn ich Ausnahmen von meinen selbst gewählten Regeln nicht schlimm finde, ich habe in den letzten Jahren genügend gemacht. Mir reicht das. Ich will und muss Fleisch, Fisch, Milch und Eier grundsätzlich nicht essen und finde es persönlich bedeutend einfacher, nicht weiter darüber nachzudenken.

»Veganismus wirst du mir nie nahebringen«, sagt Steffi. »Das ist so, als würde man sagen: Kannst du die Erde mal 1 Meter nach rechts verschieben?« Ich fand die Vorstellung früher ja genauso abwegig, sogar noch als Vegetarier. Es war, wie Kiwis mit Schale zu essen. Klingt genauso abartig, ist es aber ebenfalls nicht. Seit ich das mit der Kiwi bei jemand anderem beobachtet habe, esse ich zumindest Biokiwis nur noch ungeschält. Der Kiwimann war übrigens einer der beiden jungen Männer, die mir den Veganismus schmackhaft gemacht haben. Wenigstens scheine ich Steffi die Vorstellung einer fleischärmeren Ernährung ein Stück nähergebracht zu haben. Ein Drittel der Frauen und die Hälfte der Männer in Deutschland können sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2010 noch nicht einmal einen Tag ohne Fleisch und Wurst vorstellen. »Ich glaube, wenn ich fünfmal die Woche kein Fleisch mehr esse, würde ich mich schon als Vegetarier bezeichnen«, sagt Steffi. »Aber selbst wenn ich irgendwann mal komplett Vegetarier werden würde, ich würde niemals so eisern sein. Ich würde mir immer die Option auf eine Currywurst offenhalten. Das bräuchte ich fürs Wohlbefinden.«

Halbzeitvegetarier

Eine Option auf Fleisch und Fisch hat sich Katharina Rimpler offengehalten. Die Kulturwissenschaftlerin bietet im Internet mit der Aktion »Halbzeitvegetarier« (auf halbzeitvegetarier.de) Unterstützung für Flexitarier, also für diejenigen, die häufiger, aber nicht immer, ohne Fleisch leben wollen. Die meisten denken erst mal, Rimpler selbst würde es mit dem Essen genauso halten. Journalisten wollten sie mit einer halben Wurst ablichten oder Fleisch mit ihr zubereiten. Nur, Fleisch kann sie gar nicht zubereiten, und sie isst es auch längst nicht mehr. Mit der Option auf Fleisch und Fisch hatte sie einfach den Druck aus der Entscheidung nehmen wollen, ihre Ernährung zu ändern. Es hätte sich für sie schmerzhaft angefühlt, zu sagen, ich esse dies oder jenes ab jetzt nie, nie wieder. »Vor anderthalb Jahren habe ich noch Fisch gegessen«, erzählt sie. »Wenn mich jetzt jemand fragt, dann sage ich meistens, dass ich ab und zu noch Fisch esse, aber ich tu’s gar nicht.« So hat sie sich selbst überlistet. Seit einiger Zeit ernährt sie sich »halbzeitvegan«, wie sie es konsequenterweise nennt. »Früher habe ich felsenfest behauptet, ich brauche unbedingt Joghurt, ich brauche Quark, aber jetzt merke ich, ich brauche das nicht«, sagt sie. Was sie brauche, ist die Ruhe für diesen Prozess. Natürlich gebe es gute Argumente, die sie veranlassen könnten, ab sofort auf vieles ganz zu verzichten, an das sie gewohnt sei und das sie liebe. Doch ein Ernährungswandel dürfte eher von Dauer sein, wenn jeder ihn in seinem eigenen Tempo vollziehe, glaubt sie. Da es bei ihr so gut funktioniert, den Weg langsam und nicht von heute auf morgen einzuschlagen, fühlt sie sich bestärkt, dass ihre Idee vom Halbzeitvegetarier ein guter Ansatz ist.

Halbe Sachen

Mit »Halbzeitvegetarier« bietet Rimpler den Leuten eine gute Gelegenheit, das zu tun, was sie eh schon lange tun wollten, nämlich ihren Fleischkonsum zu reduzieren. Viele melden sich auf der Internetseite gemeinsam mit Leuten an, mit denen sie viel Zeit verbringen, wie dem Partner, der besten Freundin, der Familie, der WG, oder sie bekommen über die Website Mitstreiter vermittelt. Dort können sie sich auch mit anderen Halbzeitvegetariern austauschen. »Es ist ganz gut, so etwas mit jemand anderem durchzuziehen«, sagt Rimpler. »Manche machen daraus sogar ein Konkurrenzding, dass dann der eine noch viel weniger Fleisch essen will als der andere.« Es kommen viele Rückmeldungen, besonders von begeisterten Halbzeitvegetariern: »Wir machen seit drei Wochen mit, und wir essen jetzt kaum mehr Fleisch. Wir haben nicht um die Hälfte reduziert, sondern um 80 Prozent, und es ist super.« Andere werden gleich ganze Vegetarier. Manche berichten von ihren inneren Hürden: »Ich kann nichts dagegen machen, die Burger schmecken mir einfach zu gut. Hat jemand einen Tipp, was man tun kann, damit sie nicht mehr schmecken?« Kritiker bezeichnen das Konzept »Weniger Fleisch« als inkonsequent und befürchten einen Fleischkonsum mit gutem Gewissen. Rimpler kann das nachvollziehen. Sie kennt von sich selbst die innere Stimme, die das Problem der Tier- und Ressourcenausbeutung als viel zu dringlich ansieht, um sich mit halben Sachen zufriedenzugeben. Und sie weiß, dass man dazu neigt, sich das eigene Verhalten schönzureden. Häufig glauben die Leute, sie wären bereits Halbzeitvegetarier, weil sie ohnehin schon wenig Fleisch essen. Denen sagt Rimpler: »Nein, Halbzeitvegetarier bist du, wenn du die Hälfte von dem isst, was du zurzeit gewohnt bist.« Für Rimpler besteht die größte Herausforderung des Projekts darin, nicht zu viel zu fordern, aber gleichzeitig zu motivieren, den Fleischkonsum wirklich zu ändern. Auf der Website steht kaum etwas über Eier- und Milchproduktion oder Biohaltung, einfach um die Leute nicht zu überfrachten. Rimpler ist sich aber sicher, dass bei vielen die Fragen von alleine kommen, wenn sie sich länger mit dem Thema Fleisch beschäftigt haben. »Halbzeitvegetarier ist ja ein Schritt in eine bestimmte Richtung. Das entwickelt sich bei vielen gedanklich weiter, und wo man ankommt, ist nicht klar.« Das ist auch von ihr so gewollt. Nicht alle, die mitmachten, müssten Vegetarier oder Veganer werden, findet Rimpler. »Manche kommen vielleicht da an. Andere bleiben bewusst bei ein-, zweimal Fleisch pro Woche. Mit der Umstellung merken viele, dass sie nicht länger auf der Seite derer stehen müssen, die es nicht schaffen, die eigenen Wertvorstellungen in die Realität umzusetzen – denn wenn man die Leute fragt, finden ja alle Massentierhaltung Mist.«

Einstellungssache

Die Diskrepanz zwischen einer nachhaltigen Einstellung und dem tatsächlichen Verhalten sei so alt wie die Diskussion um nachhaltiges Verhalten selbst, sagt Professor Ulf Schrader, Wirtschaftswissenschaftler vom Fachgebiet Nachhaltiger Konsum an der Technischen Universität Berlin. Ich treffe ihn, weil ich mich frage bzw. ihn fragen will, was es bringt, wenn Menschen ihre Einstellungen ändern. Ganz nutzlos sei das nicht, klärt er mich auf, obgleich Einstellungen selten unmittelbar das Verhalten bestimmten. Zumindest aber hätte eine bestimmte innere Haltung einen viel größeren Einfluss auf das Verhalten als andere Faktoren. Maßnahmen wie etwa, das Angebot nicht nachhaltiger Produkte zu reduzieren, würden von Menschen mit einer entsprechenden Grundeinstellung eher akzeptiert. Kaufentscheidend, also handlungsrelevant, seien ökologische oder andere Einstellungen aber oftmals nur dann, wenn Verfügbarkeit, Qualität und Preis des alternativen Produktes dem regulären Produkt glichen. Bloß weil jemand Massentierhaltung ablehne, dürfe man – wissenschaftlich gesehen – nicht von ihm erwarten, dass er mehr bezahle und weitere Wege oder andere Nachteile akzeptiere. »Das macht nur die kleine Ökoelite«, so Schrader. »Sie trinken Ihren Kaffee hier jetzt schwarz. Billige Kuhmilch hätten Sie bekommen, aber eben keine Sojamilch, vielleicht sogar noch aus Bioanbau.« Die echte Ökoelite hätte vermutlich ganz auf den Kaffee verzichtet, weil er Wasser verschwendet und nicht fair gehandelt ist, denke ich.

Pionierleistungen

Warum sollte ich als einzelner Konsument aber überhaupt nachhaltig handeln, wenn doch der Einfluss des Einzelnen vernachlässigbar sein dürfte, frage ich Schrader ketzerisch. »Wir müssen uns wundern, dass wir immer noch über 50 Prozent Wahlbeteiligung haben«, sagt er. »Die einzelne Wählerstimme kann auch nichts verändern. Wir tragen nur zu kollektiven Trends bei, so oder so. Das ist für mich Konsumentenverantwortung. Dass man an sich selbst den Anspruch hat, eher Teil der Lösung als Teil des Problems zu sein, zumindest wenn man sich als moralisch handelnder Konsument versteht. Dann sollte man seine Handlungsspielräume so nutzen, dass man mit den Konsequenzen einverstanden ist. Als Konsument habe ich immerhin die Möglichkeit, nicht nur alle vier Jahre mit meinem Stimmzettel abzustimmen, sondern jeden Tag an der Supermarktkasse mit meinen Geldscheinen. Das ist natürlich manchen ganz egal, aber vielen eben auch nicht, zum Glück.« Außerdem beobachten andere, was jemand mag oder tut und wie er über etwas denkt. Das ist schon vor Facebook und anderen sozialen Netzwerken so gewesen, jetzt aber geht es noch schneller. Dass der Mensch ein soziales Säugetier ist, bietet Chancen, selbst für die wenigen Ökopioniere, Vegetarier oder Veganer. Professor Niko Paech, ein Volkswirtschaftler, der an der Universität Oldenburg über Nachhaltigkeit forscht und selbst so ein Ökopionier ist, hat im Interview mit der taz Ermutigendes gesagt: Für gesellschaftlichen Wandel brauche man Pioniere, die sich nicht vor Risiken scheuten oder Angst hätten, sich lächerlich zu machen. Dann folgten die nach, die sich nach der Beobachtung der Pioniere sicher genug fühlten, es ihnen gleichzutun und so weiter. Wenige könnten somit eine soziale Dynamik lostreten, die letztlich zum Mainstream werde und die Mehrheit erreiche.

Zunächst habe das Kaufverhalten der wenigen Pioniere keinen Einfluss auf das Angebot der Märkte. »Wenn man auf ein Hähnchen zu Mittag verzichtet, bedeutet das nicht, dass kurzfristig ein Hähnchen weniger geschlachtet wird«, sagt Schrader. »Aber wenn dauerhaft eine gewisse Zahl an Menschen weniger Hähnchen kauft, werden langfristig auch weniger Hähnchen produziert. Man sieht das ja immer wieder, dass bestimmte Produkte vom Markt verschwinden, wenn Konsumenten sie seltener kaufen. Hoffentlich ist es auch irgendwann das Massentierhaltungsfleisch, das keine Käuferschaft mehr findet. Vielleicht kauft dann kaum einer mehr Fleisch, das auf die Art produziert wurde, wie das heute üblich ist.« Schrader ist mittlerweile selbst so weit, das Fleisch in der Mensa nicht mehr essen zu wollen. Zuerst waren es bei ihm ethische Überlegungen, dann kamen die Gefühle dazu. »Wenn ich die Steaks und Hähnchenschenkel in diesen Mensatrögen sehe, finde ich das inzwischen wirklich richtig eklig.«

Märkte und Minderheiten

Bis Produktion und Handel sich ändern und sichtbar weniger produzieren und anbieten würden, müssten allerdings einige Kaufentscheidungen Einzelner zusammenkommen, denn gerade im Lebensmittelmarkt gebe es eine enorme Überschussproduktion. »Man legt im Zweifelsfall lieber zu viel ins Regal, damit immer was da ist«, so Schrader, »auch wenn man weiß, man kann nicht alles verkaufen. Es ist daher auch Teil einer Nachhaltigkeitskultur, dass man die Nichtverfügbarkeit von Waren akzeptieren muss. Wenn ich nicht will, dass der Supermarkt am Ende des Tages möglicherweise 30 Prozent in den Container kippt, muss ich akzeptieren, dass ab vier Uhr nachmittags bestimmte Warengruppen nicht mehr da sind.«

Damit sich Angebote und Märkte änderten, müssten Ideen aber nicht erst im Mainstream ankommen. Es reichten deutlich unter 10 Prozent ähnlich handelnder Konsumenten, um Märkte umzukrempeln, sagt Schrader. »Je nach Bereich müssen es 6 bis 8 Prozent sein, das reicht aus, um Märkte so zu verändern, dass sie wirklich ganz anders aussehen und sich das Angebot verändert, was dann wiederum die Nachfrage verändert und so weiter. Das hat eine Eigendynamik, die dann nicht mehr zu stoppen ist.« In Berlin kann ich das anhand des nahezu paradiesischen Angebotes für Veganer tatsächlich glauben. Fast jede Woche erfahre ich von neuen, öffentlich als vegan deklarierten Angeboten in Imbissen, Restaurants oder Supermärkten, seien es Suppe und Falafel vor der Arbeitsagentur im traditionellen Berliner Arbeiterbezirk Wedding oder veganer Kaviar im Discounter, der sogar haargenau schmeckt wie der aus Seehasenrogen. Kürzlich fragte mich die Bedienung eines Imbissladens bei meiner Bestellung: »Vegetarisch oder vegan?« So weit ist es schon gekommen.

Neben der langfristigen Veränderung der Märkte, die schon wenige Pioniere anstoßen könnten, gebe es noch weitere Motive, nachhaltiger zu leben. Das, was besonders ziehe, seien Motivallianzen aus gesellschaftlichem und egoistischem Nutzen, erklärt mir Schrader. »Der individuelle Vorteil kann allein darin bestehen, sich moralischer zu fühlen oder von anderen Leuten nicht schief angeguckt zu werden. Das hängt natürlich extrem vom sozialen Umfeld ab, das bei den Menschen ja sehr verschieden ist.« Unter der Kontrolle von Kollegen und Öffentlichkeit sei es für ihn daher besonders leicht, einen Zusatznutzen aus umweltbewusstem Verhalten zu ziehen, gibt er zu. Mein eigener Zusatznutzen: Ich habe ziemlich schnell und einfach wieder mein Wohlfühlmaß erreicht – nach 15 Jahren Übergewicht.

Konsequent inkonsequent

»So ganz auf Steaks, Fisch oder Käse zu verzichten, kann ich mir nicht vorstellen.« Das ist sicher einer der am häufigsten geäußerten Sätze gegenüber Vegetariern bzw. Veganern. Ich hege den Verdacht, dass der Satz oft dazu dient, sich selbst schon an kleinen Schritten zu hindern. Bloß nicht konsequent inkonsequent sein. Warum eigentlich nicht? Es muss ja nicht jeder gleich auf alles und für immer verzichten. Neulich habe ich einen »terrestrischen Veganer«, wie er es nannte, kennengelernt. Er isst nichts mehr von Landtieren, weder Milch noch Ei, aber noch Fisch. Er kommt eben von der Ostsee, der Veganer. Anstatt sich mit einem Ganz-oder-gar-nicht-Denken zu blockieren, sollten die Leute ihre Ernährungsweise eher als Einzelfallentscheidungen betrachten, findet auch Halbzeitveganerin Katharina Rimpler. Das könnte vielen helfen, überhaupt Schritte in Richtung einer nachhaltigeren oder tierfreundlicheren Ernährung zu gehen. Außerdem schütze eine entspanntere Herangehensweise vor Rückfällen. Sie kennt das gerade von Teenagern, die von heute auf morgen den Beschluss fassten, vegetarisch zu leben. Genehmigten sie sich dann mal eine Wurst, breche das neue Selbstbild zusammen, und sie würden wieder Fleisch essen. »Wenn du einmal eine Wurst isst und dich nicht darüber definiert hast, dass du nie Würste isst, dann ist das nicht schlimm. Dann kannst du damit leben und isst beim nächsten Mal halt wieder keine.«

Alltagshandeln sei sehr viel Training und Gewohnheit, hat der populäre Sozialpsychologe Harald Welzer mal gesagt. Man ändere es nicht durch eine Entscheidung, sondern durch Übung. »Halbzeitvegetarismus ist einfach üben, bis es immer leichter fällt«, sagt Rimpler, »üben, weniger Fleisch zu essen. Üben, leckere Sachen zu kochen ohne Fleisch. Üben, auf die andere Seite der Speisekarte zu gucken.«

Apropos andere Seite der Speisekarte: Nach vielen entbehrungsreichen Monaten belohne ich mich jetzt erst einmal mit einem guten Steak.

Natürlich aus Seitan.