Die Brüder

Am Rande der Wildnis hatte Sumantra die Verbannten auf Ramas wiederholten Wunsch verlassen. Er kehrte auf schnellem Wagen nach Ajodhia zurück und brachte der um den Tod Dascharathas trauernden Stadt die Kunde, wohin sich die fürstlichen Büßer gewendet hatten.

Die aber schritten draußen fröhlich durch den lachenden Frühling. Lakschmana ging als Hüter und Führer voran, Rama und Sita folgten in freundlichem Gespräch.

Feigen, Nüsse, Honig und jagdbares Wild boten ihnen reichliche Nahrung, und manche Quelle, mancher Fluss, den sie durchwaten mussten, löschte ihren Durst.

Reinen Herzens erfreuten die Guten sich an den Wundern des Waldes: Hier klang des Kokilas Ruf wie Jauchzen, dort schlug ein Pfau sein Rad, und die Sonne rieselte durch das Blätterdach wie ein Fall von Edelsteinen. Des Himawat greises Haupt grüßte von ferne, und der bunteste Teppich liebkoste die wandernden Füße; Lianen schlangen sich, wie zum Fest, von Gipfel zu Gipfel, und ein Duftmeer erfüllte die linde Luft. Silberschimmernd glitt am Abend die Dämmerung durch das Geäst, nachts aber ward im Flackern des Lagerfeuers das Schweigen des Waldes hörbar und übertönte die Tanzweisen der Elfen, die flinke Arbeit der Zwerge, welche die Wildnis pflegten.

An einem herrlichen Wasserfall beschlossen sie endlich zu siedeln. Lakschmana fällte Bäume und baute eine geräumige Hütte. Rama errichtete einen Altar und weihte in feierlichem Opfer ihre Waldwohnung ein.

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Bharata und sein Bruder Schatrugna lebten noch immer am kekayischen Hof.

Eines Morgens, als unheilschwangere Träume den Kaikeyisproß aus dem Schlafe schreckten, wurden ihm Boten seiner Mutter gemeldet. Diese brachten ihm Kaikeyis Aufforderung, rasch nach Ajodhia zurückzukehren, denn der Mutter Herz klage nach dem fernen Sohne. Ramas Verbannung und den Wechsel in der Thronfolge verschwiegen die Boten auf Befehl ihrer klugen Gebieterin.

Durch die schlechten Träume beunruhigt, war Bharata schnell bereit, dem Wunsche der Mutter zu folgen. Mit Schatrugna trat er vor den königlichen Oheim und erbat Urlaub zur Fahrt nach der Heimat.

Auf schnellen Elefanten reisten die Brüder mit Windeseile, denn Bharatas Sorge wuchs aus dem Nichts zu drückender Last.

Da er Ajodhia als trauernde Stadt wiedersah, trieb er sein Tier zu rasendem Lauf und hielt erst vor dem Palaste der Mutter an.

Schatrugna war ihm gefolgt, und ein Diener führte die Prinzen in die Halle, vor die Königin Kaikeyi.

Die Mutter umarmte den ehrfurchtsvoll hingesunkenen Sohn und begrüßte freundlich seinen getreuen Halbbruder.

Als sie nach ihren Verwandten in Kekaya fragte, verwies Bharata sie auf später und rief:

»O Mutter, böse Träume schreckten mich aus meinem Behagen, trübe Gedanken waren meine Begleiter auf der Fahrt, und in der Heimat empfängt mich eine stille Stadt, die keine Freude, ja kaum die nötigste Arbeit zu kennen scheint. – Was ist geschehen? – Welch Unheil ist über die frohen Kosaler gekommen? – Und wo weilt mein Vater, der seit langem dieses Reich beschirmt? – Ist er in Kauschaljas Haus?«

»Er starb, wie alle Alten sterben müssen, und ließ dem Sohn sein weites Reich!« sprach Kaikeyi triumphierend.

Bharata warf sich zur Erde und klagte laut schluchzend um den geliebten Toten.

Kaikeyi versuchte zunächst den Sohn mit allgemeinen Worten zu trösten, dann aber erzählte sie Stück für Stück, wie die kluge Zofe Manthara ihr den ersten Gedanken eingegeben, und sie darauf Ramas Verbannung und die Herrschaft für ihren geliebten Sohn erwirkt hatte.

Schweigend hörte Bharata der Mutter Worte bis ans Ende. Dann fuhr er wie aus einem Traume empor:

»So bist du meines Vaters Mörderin?« schrie er entsetzt. »Du trägst die schwere Last des Unrechts, das Rama und seinen Getreuen widerfuhr? – Grausames Weib – ich will dich nie mehr Mutter nennen!«

Schatrugna aber riss die bucklige Zofe hinter Kaikeyis Stuhl hervor und schlug sie mit der Scheide seines Schwertes, bis der besonnene Bruder ihm in den Arm fiel.

»Lasse sie!« sprach Bharata. »Sie ist ein Weib, und ein solches weiß nicht, was aus seinen Worten wird!«

Durch den greisen Wasischta ließ der Prinz seines Vaters Totenfest rüsten, und die traurige Feier verlief unter den schmerzlichsten Klagen des Hofes und des ganzen Kosalervolkes.

Dann traten die Großen des Reiches vor Bharata und baten ihn, seines Vaters Thron zu besteigen. Denn einem Land ohne König spendet Indra nicht Regen noch Segen, das Glück flieht die Stätten ohne Ordnung, die Priester verweigern den Opferdienst vor einem leeren Thron, und der Knecht dünkt sich dem Herren gleich, wo keiner herrscht!

Schweigend hatte Bharata den Räten sein Ohr geliehen, nun sprach er mit fester Stimme:

»Nicht durch Tun noch durch Denken will ich das Unrecht billigen, das meinem Bruder Rama angetan ward! – Nie will ich den Thron der Ikschwakuiden besteigen, solange ein Würdigerer lebt. – Auf! ihr Edlen des Reiches! wir wollen ein Heer rüsten, unsern einzigen Herrn in Ehrfurcht aus der Wildnis holen und ihn auf den Thron seiner Väter setzen!«

Freudiger Zuruf und lautes Waffengeklirr lohnte dem Prinzen seinen Edelmut.

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Im Dandakawalde saßen Rama und Sita auf der Bank vor ihrer Hütte.

Lakschmana kehrte von der Jagd heim und berichtete, wie heut' ein scheues Hasten durch den Wald ginge, ein unruhig Flattern und Fliehen von Vogel und Wild. – »Ob wohl ein Fürst durch die Wälder jagt, oder ein rasender Elefant durch die Wildnis stampft?« schloss er zweifelnd seinen Bericht.

Da klangen von fernher die langgezogenen Töne von Heermuscheln. Ein Klirren von Zittern, wie von Waffen und rollenden Rädern, zog mit dem Wind durch die Wipfel, und Lakschmana erkletterte einen hohen Baum, um die Ursache der Unruhe zu ergründen.

»Hallo, Rama!« rief er herunter, »verlösche das Feuer, führ' Sita in unsere Felsenhöhle und nimm deine besten Waffen zur Hand.

Bruder Bharata naht mit großer Heermacht. Ich erkenne sein Banner, den blühenden Baum, auf dem ersten Wagen!«

Er sprang zur Erde. »Zu den Waffen!« rief er dabei. »Der Eintagskönig fürchtet den Bezwinger Paraschu-Ramas auch noch im Walde! – Er will dich morden! – Aber eher soll mein gähnender Bogen sein halbes Heer verschlingen, und Kaikeyi um den toten Sohn klagen, wie Kauschalja um den lebendigen!«

»Schweig, Ungestümer!« schalt Rama. »War Bharata uns nicht stets ein guter Bruder? – Oh! er liebt mich, wie ich ihn liebe! – Sicherlich will er mich ehren mit seinem Besuch!«

Da schwieg der Heißblütige und trat beschämt hinter den edlen Bruder.

Unter den Bäumen hielten die ersten Wagen an.

Bharata und Sumantra traten vor die Waldsiedler und grüßten sie ehrerbietig.

Rama zog den Bruder an seine Brust und küsste ihn voll Liebe.

»Wie hast du den Vater verlassen?« war seine erste Frage.

»Er konnte die Trennung nicht ertragen und starb mit deinem Namen auf den Lippen, Rama!« sprach Bharata traurig.

Da rief Rama Bruder und Gattin an seine Seite und schritt mit ihnen in das Wasser des Baches neben der Hütte. Mit hohlen Händen schöpften sie daraus, warfen es in den Wind und sprachen dazu: »Dir, Dascharatha, Sohn des Raghu!«

So ehrten sie nach uralter Sitte den Toten durch die Wasserspende.

Rama aber, als der Nächste des also Geehrten, hatte die heilige Pflicht, die andern Trauernden zu trösten.

In ehrfürchtigen Worten sprach er vom Schicksal, vor dem der Mensch wie ein Tropfen Tau vergeht, sprach von der Enge des irdischen Lebens und der Befreiung durch den Tod, sprach vom Strome des Werdens und Vergehens, in dem zwei Spänlein eine kurze Fahrt gemeinsam machen und im nächsten Wirbel auf immer auseinandergerissen werden. »Klaget nicht um Tote!« schloss er. »Klagt um Lebendige, die jede Morgensonne fröhlich grüßen, und vergessen, dass sie dem Tod um einen Tagesmarsch entgegenwankten! – Der Vater hat der Jahre Last von sich geschüttelt und ist nun selig unter Seligen!«

Und Bharata rief aus: »Dich, Edler, kann kein Unglück schlagen, und keine Freude dir die Sinne rauben! – Du bist ein Mann! Noch saß kein Besserer auf einem Thron! Drum beug' ich mich vor dir und flehe: Nimm meiner Mutter Schuld von meinem Haupte: kehr' nach Ajodhia zurück und herrsch' im Reich als Erster und als Bester!«

»Nicht eh' die Zeit erfüllt ist!« sprach Rama. »Sind vierzehn Jahre um, so teilen wir die Herrschaft, Bruder, doch jetzt hab' ich des toten Vaters Wort zu lösen!«

Neue Bitten der Brüder und der königlichen Räte vermochten nicht, Ramas Sinn zu ändern.

Da erbat Bharata von Rama die goldgestickten Schuhe, als Sinnbild der Herrschermacht. Nach einem Abschied in Liebe und Ehrfurcht ließ er sein Heer wenden und trat die Heimfahrt an.

Zu Ajodhia stellte Bharata die Schuhe Ramas vor den Thron der Ikschwakuiden und führte die Herrschaft gerecht und weise. Doch nie ließ er sich König nennen, denn er wollte nur der Reichsverweser seines Bruders Rama sein.