Vorgeschichte – Ravana

König Ravana von Kekaya hatte mit seinen Brüdern die Burg des Zauberers Siwadatta gebrochen und ihre Mauern geschleift. Tausend Büchslein und Krüglein, mit Pulvern, Kräutern und Salben, hundert Blätter mit geheimnisvollen Sprüchen, und zwei Wagen voll Zauberwaffen aller Art führte der Sieger hinweg und verbarg das gefährliche Gerät in einer fast unzugänglichen Höhle vor der Gier und Gewissenlosigkeit der Menschen. Siwadatta war wie der Fuchs aus dem Bau gefahren und hatte nur einen einzigen seiner gewaltigen Zauber mit auf die Flucht nehmen können. Dieses letzte Mittel zur Rache an seinen Todfeinden behütete er wie seine Augen, um es bei günstiger Gelegenheit zur Hand zu haben. Nicht weit von Ravanas Residenz siedelte er sich im Walde, mitten unter frommen Brahmanen, an und harrte geduldig auf die Zeit der Rache. Niemand erkannte in dem würdigen Klausner Siwadatta den bösen Zauberer. Nach einem langen Jahr des Wartens lieferte das Schicksal ihm seine Feinde aus: Eines Morgens klangen die Hörner des königlichen Jagdzuges durch den friedlichen Einsiedlerwald, und Siwadatta wusste, dass seine Stunde gekommen war. Entschlossen und doch zitternd griff er nach seinem letzten Zaubermittel: Seinen Nachbarn, einen alten, von allen geliebten, frommen Brahmanen namens Ruru, verwandelte er in einen riesigen Eber und hetzte das Tier den königlichen Jägern entgegen. Kühn fing Ravana den Wütenden mit seinem Speere ab, und bald verkündigte des Königs Muschelhorn den Jagdgenossen, dass eine prächtige Beute erlegt sei. Jubelnd umdrängten Brüder und Freunde den glücklichen Jäger, staunten über die Größe des erlegten Ebers, beglückwünschten den König und priesen seinen Mut und seine Stärke. Auch viele von den Klausnern waren herbeigeeilt, und nachdem man sich gegenseitig voll Ehrerbietung begrüßt hatte, lud der König alle die Frommen des Waldes und seine Jagdgenossen zu fröhlichem Jägermahl unter den Bäumen ein. Der Eber wurde von geschickten Händen abgezogen und ausgeweidet, und bald prasselte er an einem gewaltigen Spieße über einem lustigen Feuer. Als der Braten gar war, machten die Gäste sich fröhlich darüber, und bald war die Hälfte des zarten, saftigen Fleisches verzehrt. Da rief Siwadatta plötzlich: »O seht! wir essen vom Fleische unseres frommen Bruders Ruru!« Voll Schrecken starrten alle nach dem Spieß, der noch vor kurzem die Überreste des Ebers getragen hatte: das gespießte Haupt zeigte die schmerzverzerrten Züge des guten Klausners, und von seinem Leib war noch so viel zu sehen, als die Esser von dem gebratenen Eber übriggelassen hatten. Eisiges Grauen schnürte den Entsetzten die Brust zusammen, und die ersten gestammelten Laute, die sich den Lippen des frommen Dorfältesten entrangen, waren ein schrecklicher Fluch über den Geber des greulichen Mahles.

»Wehe – wehe – Ravana! « stöhnte der zitternde Greis. »Du hast einen Brahmanen ermordet – du hast seinen Leichnam geschändet – du hast fromme, gottergebene Büßer verblendet, dass sie an deinem eklen Mahle teilnahmen und sich vor Gott und der Welt durch Genießen vom Fleische eines der Ihren verunreinigten! – Wehe, du Ungeheuer! – So verfluche ich dich und die deinen, jahrhundertelang als dämonische Ungeheuer durch die Welt zu toben, euch selbst zum Greuel ob eurer Laster und der Welt zur Last ob eurer Greuel! «

»Schweig – schweig –! « stammelte der König. »Nein! « schrie der furchtbare Alte, »dein Leib soll wachsen wie ein Baum, und deine Nägel sollen wie Messer werden! Deine Haut sei wie faulende Rinde, und dein Haar wie vertrocknetes Schilf! Wie höllisches Feuer soll das Blut in deinen Adern wallen, und zehn Häupter sollen dir wachsen, dass du deine Brunst aus zehn Rachen in die Welt brüllen kannst! Deinem Bruder Kumbhakarna schwelle der Wanst, dass Brahma vor seiner Fressgier für die Welt erzittert! Vibhischana aber, dein jüngster Bruder, vertrockne wie eine Dattel im Winter, auf das jeden, der ihn sieht, das Mitleid schüttelt! Alle die Deinen, du Ungeheuer, von der ersten Gattin bis zum letzten Trossbuben, sollen dir als Dämonen folgen und dir nur da gut dienen, wo du dem Schlechten dienst! «

Und wie der eifernde Priester in seinem reinen Zorn ob des schrecklichen Frevels Wort um Wort hinausschrie, so erfüllte das Schicksal Zug um Zug den Fluch des bußreichen Brahmanen.

König Ravana wuchs und stand da als das zehnköpfige Ungeheuer. Er ballte in ohnmächtigem Zorn die Finger mit den Sichelkrallen und starrte entsetzt auf den Schorf seiner Arme.

Kumbhakarna quoll auf, mehr als der größte Weinschlauch, und Vibhischana verschrumpfte zum Zwerge.

»Halt ein! – nimm deinen Fluch zurück! « rief Ravana entsetzt. »Ich bin unschuldig wie meine Brüder! – Oh – ich ahn' es – das tat mir Siwadatta an, der Zauberer, den ich aus seinem Schlosse gejagt habe, um meine Untertanen vor seiner Bosheit zu schützen! «

»Siwadatta? « murmelten die Klausner. »So heißt der Bruder, der dich heute des Frevels zieh! – Er lebt erst ein Jahr lang unter uns! «

»So lange ist es her, dass ich seine Zauberfeste brach! – Wo ist er? « rief Ravana.

»Wo ist er? – wo ist er? « schrien alle durcheinander und suchten die nächste Umgebung ab.

Doch der Zauberer blieb verschwunden und ward auf Erden nie wieder gesehen.

Ravana und seine Brüder flehten den alten Heiligen an, seinen Fluch zurückzunehmen.

»Das kann ich nicht! « sprach der Fromme, traurig ob seines schnellen Zornes. »Des Büßers Wort ist einmal und unabänderlich! – Doch da ich dir und den Deinen Unrecht getan habe, so sollt ihr jeder einen Wunsch frei haben. Meine Brüder und ich wollen unsere im Himmel aufgehäuften Bußschätze daran wenden, dass die drei Wünsche erfüllt werden! «

»Himmel und Hölle! « tobte Ravana. »Soll ich wegen dieses Plappermaules als Dämon durch die Welt rasen, so soll sie mich mehr fürchten als alles! Ich will, dass keiner der Götter mich besiegen kann! «

»Gewährt! « nickte der Alte. »Die Menschen werden dich bezwingen!«

»Die Menschlein? « lachte Ravana gröhlend. »Die fürcht' ich nicht mehr als die Affen!«

»Und du, Kumbhakarna? was wünschest du? « fragte der Älteste den ersten Bruder Ravanas.

Der Dicke riss das Maul auf, denn er war lüstern nach Speise. Sarasvati, die Göttin der Beredsamkeit, schlüpfte unsichtbar hinein und kam gleich darauf als sein Wunsch über die Lippen: » Ich will schlafen, nichts als schlafen! « Brahma hatte vor des Kolosses Fressgier für seine Welt gezittert und ihn darum durch seine Gattin überlisten lassen.

Wiederum nickte der Alte: »Gewährt! «

Das verhutzelte Männlein Vibhischana erhob sich und seufzte unter Tränen: » Oh, gebt mir zum Mitleid auch die Liebe der Menschen! dann will ich mein Schicksal gerne ertragen! «

»Mit tausend Freuden gewährt! « sprach der Alte und legte segnend die Hand auf das Haupt des Bejammernswerten.

»Genug des Tränenspieles! « tobte Ravana. »Euch segnenden und fluchenden Frommen will ich noch in die Feuer fahren! – Auf, Knechte, packt meinen dicken Bruder, der, beim Indra, schon schläft wie eine Ratte, auf einen der Beutewagen. Vorwärts, faules Gesindel, oder ich will euch Beine machen! – Marsch, Pfaffengezücht, in eure Hütten!«

Unter Ravanas Flüchen und Schelten zogen die Büßer sich in ihre Klausen zurück. Die Trossknechte luden den schlafenden Kumbhakarna auf einen der Rüstwagen, und dann tobte der Zug südwärts durch den Wald davon, um Siwadattas Zaubergerät aus seinem Verstecke zu ziehen. Alle Menschlichkeit war in Ravana erstorben, und wie der Wolfshund dem Wolfe an die Gurgel fährt, so wollte der Dämon gewordene Mensch die Menschheit mit allen Mitteln würgen, bis ihr der Atem zum Fluchen verginge.

Sengend und brennend zog die Horde durch alle Lande, und das Kind in der Wiege war nicht sicher vor der Furchtbaren Wut. Wie ein Strom in der Regenzeit schwoll die Schar unter dem mächtigen Dämonenherrscher und vernichtete, was sich ihr Gutes und Nützliches entgegenstellte.

Der Menschheit bangte um ihr Sein und sie lag in brünstigem Flehen vor ihren Göttern und Rettern.

Da trat Narada, der ewig wandernde Götterbote, vor den Dämonenherrn.

»Ravana! Dämon! Ungeheuer! Höllenfürst und Allbezwinger! « begann er zu höhnen. »Wie tapfer schlägst du dich mit den Menschlein herum! Sieh doch, wie großartig, die zu schlagen, die täglich der Tod schlägt! Ei, du bist mir ein Allsieger! – Versuch' deine Kraft einmal an der Menschheit Bezwinger: den Tod greif an, wenn du Mut hast! «

»Du hast recht, armseliger Wurm, darum will ich dich nicht zertreten! « brüllte Ravana, »Auf, auf, meine Getreuen, wir wollen den Völkerversammler Yama in seiner Höhle und Hölle aufsuchen, um unsern Mut zu beweisen! Kommt, wir wollen den Tod töten! «

Johlend brach das Dämonenheer auf und stürmte den Kaïlasa hinan, um durch den Berg in die Unterwelt zu fahren. Auf dem Gipfel verwüsteten die Tollen den herrlichen Hain des Schatzgottes und stahlen seinen goldstrotzenden Wagen Puschpaka. Auf diesem wunderbaren Fahrzeug hielt Ravana seinen Einzug in die Unterwelt. Die armen Sünder, die da auf Rasen aus Dolchmessern, unter Bäumen, die Schwerter trugen, an Bächen von Blut und Quellen von Schweiß ihr Erdenwallen abbüßten, jubelten Ravana als ihren Befreier entgegen.

Da erschien der Gott des Todes auf seinem Streitwagen. Ein wütender Kampf zwischen den beiden Starken entbrannte. Schon hob Yama das Sichelschwert, um das Ungeheuer zu töten, als des Schicksals Stimme im Kampflärm erschallte: »Gott des Todes, du darfst Ravana nicht fällen, denn mein Wort muss sich erfüllen!«

Da spaltete Yamas Schwertschlag die Erde, und der Gott verschwand vor den Augen des jubelnden Dämons.

Siegestrunken zog Ravana zur Oberwelt und forderte in seinem Übermut Varuna, den Herrn der Gewässer, zum Zweikampf. Varuna, des Schicksalsgebotes eingedenk, sandte seine starken Söhne, die wilden Bergströme, über den Frevler. Hei! setzten die dem Heißblütigen zu! Doch Ravana wehrte sich tapfer. Glühender Odem ging aus seinen zehn Rachen und brannte den Söhnen Varunas das Fleisch von den Knochen. Dünn und matt schlichen sie nun durch die Lande, bis ihr Vater mit dem Unbezwinglichen Frieden schloss und ihm als dessen Unterpfand die Insel Lanka zu eigen gab.

Dort gründete Ravana eine befestigte Stadt, brachte Hof und Familie darin unter und rastete selbst oft hier, von seinen Streifen ermüdet.

Doch stets aufs Neue fuhr er aus, denn Puschpaka, der herrliche Wagen, den er auf dem Kaïlasa erbeutet hatte, trug ihn durch die Wolken ans Festland. Zehntausend Frauen und Mädchen hatte Ravana bei Göttern und Menschen geraubt und hielt sie in seinem Frauenhause zu Lanka eingeschlossen. Einst Riss er in Kekaya ein Weib an sich, welches bei seinem erschrecklichen Anblick verstummt war. Puschpaka trug den Frauenräuber mit seiner schönen Beute durch die Wolken nach Lanka, aber als der Unhold die Wehrlose ins Frauenhaus schleppen wollte, kam eben sein ältester Sohn des Weges.

»Wehe, Vater!« rief dieser beim Anblick der Stummen, »du hast meine verlorene Gattin zu deinem Weibe gemacht! Fluch deinen Gewalttaten gegen Frauen: Zwingst du noch einmal ein Weib, dir zu Willen zu sein, so soll dein fühlloses Herz in sieben Stücke brechen, dass du auf der Stelle verendest.«

Ravana ließ seine unglückliche Schwiegertochter frei, und die Angst vor Erfüllung des Fluches zähmte fortan seine wildesten Gelüste. Meist nahte er sich nun den Geraubten in verzauberter Gestalt, und List, schlaue Rede und geheuchelte Freundlichkeit mussten ihm die rauhe Gewalt ersetzen.

Doch nur den Frauen gegenüber hielt sich der Dämonenfürst im Zaum. Götter und Menschen mussten nach wie vor seine harte Faust fühlen; ja, er drang sogar mit den Seinen in Indras Himmel ein, stellte sich dem gewaltigen Donnerer zum Kampfe, und während undurchdringliche Finsternis das Ringen der beiden Stärksten verhüllte, band der Sohn Ravanas den Götterkönig durch einen mächtigen Zauber. Indradschit, den Indrabezwinger, nannte man seither den kühnen Dämonenprinzen. Indradschit gab seinen Gefangenen erst frei, als dieser ihm die Gunst gewährte, nach jedem Opfer einen Tag lang unbesieglich zu sein.

Nun war der Sohn so schrecklich wie der Vater, und die Menschheit verging schier unter den Greueltaten der Übermächtigen.

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Die Lichtgötter waren ob der ihrer Sorge anvertrauten Menschheit bekümmert.

Sie traten vor Brahma, den Schicksalswalter, um seinen Rat, seine Hilfe gegen das Ungeheuer Ravana zu erflehen. Doch des Schicksals Verhängnis ist ewig und unerbittlich.

»Keinem der Himmlischen darf der Verfluchte erliegen!« sprach Brahma. »Doch der Menschen hat sich der Starke, in Verachtung alles Schwachen, nicht versehen. Der Menschen, die er den Affen verglich. Mag ein reiner Mensch den Kampf mit dem Ungeheuer wagen, und Affen sollen ihm beistehen. Vielleicht wird dadurch die Welt von dem Übel erlöst.«

Als Brahma geendet hatte, rauschte es in den Lüften, und Wischnu, der Gott im goldgelben Kleid, kam auf seinem Geier Garuda geritten. Die Himmlischen grüßten ihn mit ehrfürchtiger Gebärde und sangen:

 

Dreigespaltner! –

Der die Welt errichtet,

Sie erhaltet und vernichtet –

Dreigeeinter! – Sei gegrüßt!

Quell der Quellen,

Ätherweit,

Grund des Werdens und Vergehens,

Herr der Zeit,

Der Ewigkeit,

Hort des Wechsels und Bestehens!

Der du warst, ohne zu werden,

Sonne schufst und Mond und Erden,

Sie erhaltest und erhörst

Und am End' der Zeit zerstörst –

Dreigespaltner, sei gepriesen!

Dreigeeinter!

Der uns vierfach offenbaret

Und doch unerfaßlich ist,

Jedes Lebens Maß bewahret

Und doch unermeßlich ist!

Schöpfer, der du unerschöpflich,

Werd' Geschöpf zum Heil der Schöpfung,

Werde Mensch zum Heil der Menschen

Und der Götter, höchster Gott!

Dreigespaltner! –

Der die Welt erbaut,

Über ihr waltet, das Ende schaut –

Dreigeeinter, errett' uns!

 

»Euer Vertrauen will ich belohnen!« sprach Wischnu. »Als Menschensohn will ich geboren werden und das Ungeheuer, das die Welt würgt, vernichten. Ein Lehrer, der Krieger ist und Priester – ein Starker voll menschlicher Schwäche, ein Schwacher voll himmlischer Kraft – soll den Erdgeborenen für den überirdischen Kampf stählen. Ihr aber bevölkert mir die Erde mit starken und zauberkundigen Affen, auf dass der Held Hilfe finde gegen die Scharen der Dämonenfürsten!«

So ward Ravanas Untergang beschlossen.