Rama und Ravana – Im Walde
Bald nach Bharatas Abschied kamen Büßer aus den tief im Wald gelegenen Siedeleien zu Rama und baten den frommen Krieger um Hilfe.
Khara, der jüngste Bruder des Dämonen Ravana, hauste seit einiger Zeit im Dandakawalde. Er und seine Gesellen störten die Opfer der Frommen, überfielen sie und ihre Frauen im Walde und bedrängten die Diener Brahmas in ihren friedlichen Wohnstätten.
Der Hilferuf der Guten weckte den Helden aus seiner Beschaulichkeit. Er beschloss tiefer in die Wildnis einzudringen und nach der Sitte seines Standes die Schwachen mit seinen starken Armen zu schützen. Es bangte ihm wohl um seine Gattin, doch Sita war eines Kriegers Weib und trug willig die Pflichten der Kaste. Im Schütze des Gatten und seines kühnen Bruders wusste sie sich sicher geborgen.
Die Verbannten verließen ihre wohnliche Hütte und zogen waldeinwärts.
Hirsch und Gazelle und manch anderes scheues Getier gab den friedlichen Siedlern vom Wasserfall bei ihrem Auszug freundliches Geleite. Die Bienlein umschwärmten sie fröhlich, Vögel und Heimchen sangen ihnen ein Wanderlied, und blumige Ranken haschten zum Abschied kosend nach den Gestalten der Wandernden.
Geheimnisvoll lag der hochstämmige Wald in flimmerndem Licht- und Schattenspiel vor ihnen, und sie schritten rüstig aus, denn die Lust nach Kampf trieb das Blut der Helden stürmischer durch die Adern.
Des Nachts waren sie gern gesehene Gäste in den Klausen und Büßerstätten oder schliefen wohl auch unter dem sternbesäten Sommerhimmel gar friedlich und ungestört.
Eines Morgens aber stießen sie auf den Riesen Virahda, einen Menschenfresser aus Kharnas Dämonenhorde.
Rasch griffen die Brüder nach Pfeil und Bogen, um Sita, nach der der Unhold lüsterne Blicke warf, zu schützen. Da lachte der Riese höhnisch: »Wer seid ihr denn, dass ihr Viradha mit euren Nadeln droht? – Wisst ihr nicht, dass ich schuss- und hiebfest bin? – Und schösset ihr Pfeile, so groß wie Speere, nicht einer könnte mir die Haut ritzen!«
Und wirklich: die Pfeile sprangen von seiner nackten Brust ab, wie Hagelkörner vom Hüttendach.
Auch Lakschmanas Schwert zersplitterte an des Riesen Faust, als hätte er auf Erz gehauen.
Da sprangen die Helden an dem Turmhohen empor, um ihn zu erwürgen. Viradha aber nahm auf jeden seiner gewaltigen Arme einen der Brüder und rannte unter Sitas angstvollem Schreien lachend waldeinwärts.
Der Gattin Sorge gab dem Helden Rama doppelte Kraft. Er umschlang den riesigen Arm, der ihn trug, und spannte seine Sehnen schier zum Reißen. Aufbrüllend blieb Viradha stehen. Aber schon krachte der mächtige Knochen unter Ramas übermenschlicher Stärke. Und als Lakschmana dem Beispiel des Bruders folgte, hingen dem Riesen bald beide Arme gebrochen am Leib. Stöhnend sank er zu Boden.
Rama setzte dem Unhold den Fuß auf die Kehle und erdrosselte den Schrecklichen, den keine Waffe verwunden konnte.
Während Lakschmana den riesigen Leichnam in eine Schlucht wälzte, eilte Rama zur Gattin zurück, um die Gequälte von ihrer Sorge zu befreien.
»Heißen Dank, ihr Götter! dass Rama dem Tode entronnen ist!« rief Sita, als sie den Gatten erblickte.
»O mein Geliebter!« flehte sie, »lege die Waffen ab und lebe fortan als Büßer. Nie sollst du dich wieder in solche Gefahr begeben!«
Doch Rama tröstete die Zitternde, erzählte fröhlich, wie der Kampf verlaufen war, und wies auf die Pflichten seines Standes, auf die Stimme seines mutigen Herzens und auf das Versprechen, das er den Büßern des Dandakawaldes gegeben hatte, hin.
Auch Lakschmana kam nun zurück, und der Anblick der beiden Riesenbezwinger festigte den Sinn des schwachherzigen Weibes.
Nun zogen die Verbannten weiter und fanden mitten im Wald einen herrlichen See, an dessen Ufern viele Brahmanen mit ihren Frauen und Kindern siedelten.
In dieser freundlichen Umgebung ließen die Unsteten sich nieder und lebten zehn Jahre unter den Frommen. Die starken Recken waren den Einsiedlern ein willkommener Schutz, und Kharas Dämonenscharen schienen die Stätte zu fürchten, wo die mächtigen Bezwinger des Riesen Viradha hausten.
Umso schlimmer trieben es die Unholde in dem weiter südwärts gelegenen Wald von Pantschavati, und Rama beschloss deshalb, dorthin zu ziehen, um die Bösen von den Stätten friedlicher Götterverehrung ganz zu vertreiben.
Auf ihrer Wanderung nach Pantschavati fanden sie eines Tages einen Geier auf ihrem Wege sitzen. Der Vogel war dreimal so groß wie seine Brüder, darum hielt ihn Rama für einen Dämon und griff zu Pfeil und Bogen.
»Lasse die Waffen ruhen, Raghawer!« rief der Vogelriese mit freundlicher Stimme. »Ich bin Dschatajus, der Brudersohn des Wischnuvogels Garuda, und ein alter Freund deines Vaters Dascharatha. Ich will bei dir bleiben und in der Wildnis über dich und die Deinen wachen!«
Da neigte sich Rama vor dem edlen Geierfürsten und umarmte den Freund seines Vaters. Dschatajus aber zog mit den Verbannten durch den Wald und kürzte ihnen die Zeit mit klugen Reden und schönen Erzählungen von Göttern und Helden. Zwischen Himmel und Erde schwebend, hatte er mit seinen scharfen Augen im Laufe der Jahrhunderte vieles gesehen.
Im Pantschavatiwalde wurden die Wanderer von der Hexe Schurpanakha freundlich begrüßt. Dieses Scheusal, eine Schwester Ravanas und Kharas, riesenhaft, zahnlos, mit schilfartigen Haaren und Krallen an den Fingern, hatte sich in die stattlichen Recken verliebt und verlangte, dass einer von ihnen sie zum Weibe nehme.
Rama wies sie voll Ernst, der ungestüme Lakschmana voll Holm von sich.
Da stürzte die Ergrimmte sich wütend auf Sita, um diese zu verschlingen.
Auf Ramas Schrei sprang Lakschmana vor und schlug die Hexe mit dem Schwert ins Gesicht.
Blutüberströmt, an Nase und Ohr verstümmelt, ließ Schurpanakha von Sita und floh heulend in den Wald.
Die Brüder aber bauten dort ihre Hütte und weihten sie mit einem feierlichen Opfer ein.
Nach wenigen Tagen meldete Dschatajus, dass ein riesiges Dämonenheer heranziehe.
Die verstümmelte Hexe hatte ihren Bruder Khara zur Rache aufgestachelt, und der Dämonenfürsl führte seine Scharen gegen die Helden aus Ajodhia.
Lakschmana musste Sita in einer tiefen Felsenkluft bergen, und Rama trat mit seinem guten Bogen und dem Köcher voll Wischwamitras Zauberpfeilen an den Eingang.
Wie Wetterwolken im Sommer brauste das Heer der Ungeheuer heran und ballte sich vor der Felsenspalte zu wütendem Angriff.
Pfeile und Speere verfinsterten die Mittagssonne, aber Rama stand wohlgedeckt hinter seiner breiten Tartsche und sandte leichte und schwere Geschosse und leuchtende Brandpfeile in die Massen der Feinde.
Immer wieder trieb Khara die Seinen zum Sturme vor. Zwölf seiner Anführer und unzählige seiner Kriegerscharen waren schon gefallen, da bestieg er seinen goldfunkelnden Streitwagen, um selbst den Kampf mit dem Unüberwindlichen zu wagen.
Gellend klang sein Horn in das Ohr des einsamen Kämpfers am Felsentor. Fester fasste der Held seinen Bogen und legte ein Eisen darauf, schier so stark wie eines gewöhnlichen Kriegers Speer. Laut schwirrte die Sehne durch den Wald, und das Geschoß fuhr in den heranbrausenden Streitwagen. Das Gefährt ward in Stücke geschlagen, und nur ein schneller Sprung rettete Khara vom Tode.
Nun hob der Dämonenfürst seine Keule und flog in langen Sätzen gegen den Schützen an. Ein Halbmondeisen, von Ramas Bogen geschossen, schnitt die Rechte mit der drohend geschwungenen Waffe vom Arm.
Brüllend vor Schmerz und Wut, riss der Riese mit der Linken einen Baum aus dem Boden, um damit den Gegner zu fällen. Aber als er sich wandte, durchbohrte ein schweres Eisen seine Brust.
Blutüberströmt sank Khara zu Boden und verröchelte im Staube. Der Himmel aber ward plötzlich hell und die Götter neigten sich vor Rama, der in wenigen Stunden alle Dämonen des Büßerwaldes vernichtet hatte.
Nur einer, Akampana, war entkommen. Der floh nach Lanka, berichtete dort dem Ravana vom Tode seines Bruders Khara und entfachte den Zorn des Dämonenherrschers gegen den Sieger Rama.