38

Winter stand auf dem Bürgersteig und füllte seine Lungen mit frischer Luft. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Sturm zerrte an den Linden, als wollte er sich für etwas rächen. Vielleicht war es sogar ein Orkan. Winter hielt das Gesicht in den Regen, um so viel Wasser zu trinken wie möglich. Er hatte einen erstickend schlechten Geschmack im Mund, nachdem er sich eben erbrochen hatte. In seinem Zwerchfell brannte es immer noch wie Feuer.

Rechts von dem großen Fleck hatte er Paulas Koffer entdeckt. Er hatte ihn nicht geöffnet.

Während er das Gesicht in den schwarzen Himmel reckte, klingelte sein Handy. Er war erstaunt, dass es den brüllenden Sturm durchdrang.

»JA?«, schrie er ins Mikrofon, während er sich rückwärts in den Hauseingang zurückzog.

Eine Stimme, keine Worte.

»ICH HÖRE NICHTS!«, schrie er.

Plötzlich verstand er etwas, mitten in einem Satz war die Leitung frei, als wären sie im Auge des Orkans gelandet.

»Bitte wiederholen Sie, was Sie gesagt haben.«

»Ich wollte sie nicht erschrecken!«

»Jonas!«

Er bekam keine Antwort. »Wo sind Sie?«

»Ich bin …«

Die Worte versickerten wieder in der Nacht. Oder dem nahenden Morgen. Vielleicht würde es auch an diesem Tag hell werden.

»Hören Sie zu, Jonas. Verstehen Sie mich?«

Winter hörte nur ein Gemurmel. Zwei Personen sprachen mit sich selbst über dieselbe Telefonleitung.

Plötzlich war Jonas’ Stimme wieder da, laut und deutlich.

»Ich wollte sie vor ihm warnen! Vor Börge! Ich hab’s schon mehrmals versucht, aber ich hab mich nicht getraut.«

»Ich stehe vor seinem Haus«, sagte Winter. »Ich war drinnen.«

Der Sturm trug das Gespräch wieder mit sich fort. Winter meinte noch einmal Börges Namen zu hören, aber er war nicht sicher. Die Stimme wurde schwächer, als wäre die Person am anderen Ende vom Sturm erfasst und weggefegt worden.

»Jonas?«, rief Winter. »JONAS?«

Keine Antwort.

Was sollte er sagen? Konnte der Junge ihn hören? War ihm klar, dass er sich in Gefahr befand? Sollte er ihn auffordern, zu bleiben, wo er war? Aber Winter wusste nicht, wo das war. Es hatte geklungen, als hätte er draußen telefoniert. Aber auch wenn er sich in einem Haus aufhielt, konnte es für ihn gefährlich werden. Jetzt drang nur noch ein Tuten in Winters Ohr. Die Verbindung war endgültig unterbrochen. Winter starrte auf sein Auto, drehte sich um, sah zu den schwarzen Fenstern von Börges Wohnung. Hatte das Licht im hintersten Zimmer vor Augen. Er dachte an das Gespräch mit Jonas. Es war unterbrochen worden, wie das mit Richard Salko. Bestimmt hätte Salko ihn niemals angerufen, wenn es nicht um etwas Wichtiges ginge, etwas Lebenswichtiges. Winter versuchte es noch einmal mit dem Handy unter Salkos Privatnummer. Auch diesmal meldete sich niemand.

Doch es gab einen Ort, an dem Salko sich aufhalten könnte. Es war der einzige Ort, den Winter sich im Augenblick vorstellen konnte. Der Ort, wo alles angefangen hatte.

Das Hotel »Revy« schien im Sturm zu schwanken, aber nur infolge des Spiels der Schatten im Wind. Die schmalen Gassen des Stadtviertels schienen nicht mehr zu existieren. Winter war eine von ihnen entlanggefahren, bis er nicht mehr weiterkam, weil eine abgebrochene Birkenkrone die Straße blockierte. Es gab mehr Bäume in dieser Stadt, als man glauben mochte. Das Stadtzentrum sah aus wie ein Dschungel, eine nordische Wildnis.

Winter stand auf der Treppe vor dem verschlossenen, dunklen Hotel. Das Schild an seinem Gestell war noch da, im Sturm glich es noch mehr einer Riesenspinne, die die Wand hinaufkletterte. Die frühe Morgendämmerung färbte den schwarzen Himmel hinter der rissigen Fassade in einem matten Rotton, der, aus dem Nichts kommend, stetig intensiver wurde. Winter sah hoch zu dem Fenster, das zum Zimmer Nummer 10 gehörte. Er stieg die letzten Treppenstufen hinauf und drückte die Messingklinke hinunter. Die Tür glitt lautlos auf. Winter beleuchtete das Schloss mit der Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach des Mercedes genommen hatte, konnte aber keine Spuren von Fremdeinwirkung entdecken. Aber das Messing war genauso uralt wie alles andere im Hotel, die gleichmäßige Oberfläche bestand aus Tausenden von Kratzern.

Die Lobby war leer und kalt, hier drinnen war es kälter als draußen. Kaum war die Heizung abgeschaltet worden, war die Kälte hereingekrochen, als hätte sie nur darauf gewartet, die Herrschaft zu übernehmen.

Die Treppenstufen knarrten bei jedem Schritt. Die dicken Wände sperrten das Wüten des Sturms aus.

»Hallo?«, rief Winter. »HALLO?«

Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen und lauschte.

Es war still im Haus, als ob die Stille für immer hier eingekehrt wäre.

»Salko? Sind Sie hier?«

In der oberen Halle leuchtete er mit seiner Taschenlampe in jeden Winkel.

Der Flur, der zu Zimmer Nummer 10 führte, lag rechter Hand. Der Lichtkegel von Winters Taschenlampe reichte nicht bis dorthin.

Als er näher kam, sah er, dass die Tür halb offen stand. Licht fiel in den Flur, schwankte hin und her wie der Strahl seiner Taschenlampe. Hin und her. Winter machte ein paar Schritte darauf zu.

Er sah den baumelnden Körper im flackernden Lichtschein.

Er sah einen Rücken, den Hals. Den Strick. Jetzt war er schwarz, doch Winter wusste, welche Farbe der Strick bei Tageslicht hatte. Der Körper schwang sachte auf ihn zu. Winter war noch zwei Schritte vom Zimmer entfernt. Plötzlich hörte er das Klingeln eines Handys, es musste sein eigenes sein. Er spürte das Vibrieren an der Brust, aber es konnte genauso gut sein Herz sein, das da flatterte.

Er trat über die Schwelle und sah den Schatten des Schlages, ehe dieser ihn am Hals traf.

Aneta Djanali hörte das Klingeln tief in einem Traum, den sie vergessen haben würde, sobald sie wach war.

Sie schreckte hoch und beugte sich über Fredrik hinweg, der immer wie ein Unschuldiger schlief, nach dem Telefon. Um ihn zu wecken, war mehr nötig als das Läuten eines Telefons. Im Zimmer war es finster, es war Nacht. Sie fummelte einige Sekunden an dem Hörer.

»Ja, hallo? Hier ist Aneta.«

»Entschuldigung, dass ich so spät anrufe … oder früh … Hier ist Angela Hoffmann. Erik Winters …«

»Angela«, unterbrach Aneta Djanali sie. Sie hörte die tiefe Sorge aus Angelas Stimme. »Was ist passiert?«

»Ich … weiß nicht. Erik ist heute Nacht … weggegangen. Er wollte nur was überprüfen, hat er gesagt. Und dann hat er angerufen. Und … und seitdem hat er nichts mehr von sich hören lassen.«

»Wann hat er zuletzt angerufen?«

»Vor einer Stunde. Vielleicht etwas weniger. Ich hab vor einer Weile seine Handynummer gewählt, aber er meldet sich nicht.«

»Von wo hat er angerufen?«, fragte Aneta Djanali.

»Vasagatan. Das ist ja ganz hier in der Nähe. Ich mach mir solche Sorgen. Ich wusste nicht, was ich …«

»Was hatte er denn vor?«, unterbrach sie Aneta Djanali.

Aneta hörte, dass Fredrik sich im Bett hinter ihr aufsetzte.

»Was hatte er vor?«, wiederholte sie.

Fredrik reckte sich zu ihr, um mitzuhören.

»Er hat gesagt, er wollte zu diesem … Börge«, sagte Angela.

»Christer Börge.«

»Ich fahr los.« Fredrik Halders sprang aus dem Bett. »Ich schick Leute hin.« Er nahm sein Handy vom Nachttisch.

»Was für ein verdammter Idiot«, murmelte er, während er die Hose anzog.

Etwas kratzte an Winters Wange, aber er hoffte, dass es nur Teil eines Traumes war. Aus diesem Traum will ich nicht aufwachen, dachte er.

Er erwachte. Er wusste nicht, was er geträumt hatte oder ob er längst wach gewesen war.

Er lag auf der Seite und versuchte, die Arme zu bewegen, aber sie waren auf seinem Rücken festgezurrt. Auch seine Füße waren gefesselt.

Er hatte furchtbare Schmerzen am Hals, und jetzt hörte er, dass er atmete, als ob seine Luftröhre gerissen wäre.

Ein Paar Füße kam über den Fußboden auf ihn zu. Das war seine Perspektive, der Fußboden. Ein Paar Schuhe blieb dicht vor seinem Gesicht stehen. Winter erkannte die Schuhmarke.

Sein Kopf wurde angehoben. Winter fiel es schwer, seinen Blick zu fokussieren.

»Sind Sie schließlich doch noch gekommen«, sagte Christer Börge.

Winter starrte aus zehn Zentimeter Entfernung in das Gesicht. Er hatte dieses Gesicht nie vergessen und würde sich daran erinnern, solange er lebte. Vielleicht würde er es sehen, solange er lebte. Vielleicht war es das Letzte, was er sehen würde. Ja. Nein. Ja. Es hing davon ab, was Christer Börge zu sagen hatte. Wieviel Zeit er sich nehmen würde. Mein Auto steht zwei Häuserblöcke entfernt. Bald sind sie hier.

»Ich hab nicht viel zu sagen.« Börge lächelte. »Ich hab nicht viel für Erklärungen übrig.«

Winter öffnete den Mund und versuchte, etwas zu erwidern, brachte aber keinen Ton heraus. Er hörte das Fauchen in seinem Hals, aber das war schon da gewesen, bevor er den Mund öffnete.

»Ich glaube, deine Stimme hat was abbekommen«, sagte Börge und richtete sich auf. Er packte Winter am Kragen und zog ihn an der Wand hoch. Erneut hatte Winter das Gefühl, sein Hals würde brechen. Sein Nacken stand in einem seltsamen Winkel zur Wand. Die Sehnen schmerzten.

»So viel kann ich aber verraten. Es hat mir nicht gefallen, dass sie mich verlassen hat«, sagte Börge. »Kein bisschen.« Er beugte sich vor. »Ich hab sie gesehen, weißt du. Ich hab sie mehrmals gesehen, aber jetzt meine ich das eine Mal auf dem Bahnhof.« Börge holte aus, als wollte er in Richtung des Bahnhofs zeigen, der nicht weit entfernt war. Nichts ist weit von hier entfernt, dachte Winter. Man müsste nur die Hand ausstrecken können, dann könnte man alles erreichen. Aber er konnte seine Hand nicht bewegen.

»Sie wollte dem Mädchen bei der Abreise helfen«, fuhr Börge fort. »Sie wollten alle beide abreisen.« Er nickte zweimal. »Sie wollte endgültig weg.« Wieder nickte er. »Aber es war zu spät. Ich konnte es nicht zulassen. Diesmal nicht. Nicht für immer.«

Börge kauerte sich hin.

»Ja, du hast sie bestimmt auch dabei beobachtet. Oder ihre Spuren. Und ich nehme an, du bist in meiner Wohnung gewesen.« Er lächelte. Es war eine Art Lächeln, das Winter einige wenige Male in seiner Dienstzeit gesehen hatte. »Sie … Tja, sie hat es sich noch mal überlegt. Aber da war es zu spät.«

Börge machte eine Armbewegung, die besser in einen Zirkus gepasst hätte. »Und jetzt haben sie alle uns verlassen. Nenn es Rache, nenn es, wie du willst. Sie hat Fehler gemacht. Es ist falsch, Fehler zu machen. Sie hat gelogen. Sie hat noch viel schlimmere Dinge getan.« Seine Augen verengten sich plötzlich.

»Sie haben alle gelogen! Alle miteinander! Und wer hat an mich gedacht, hä? Wer von DENEN hat an mich gedacht?«

Börge änderte seine Haltung, blieb aber in der Hocke sitzen.

»Sie haben es nicht verdient, weiter lügen zu dürfen. Ich wollte, dass sie mich um Verzeihung bitten für alles, was sie mir angetan haben. Und das haben sie am Ende getan. Alle haben mich um Verzeihung gebeten. Vielleicht ist in dem Augenblick die Schuld von ihnen genommen worden. Die weiße Farbe hat sicher auch geholfen. Sie hat dich schließlich hierher geführt.« Wieder bewegte er sich. »Aber mir ist inzwischen alles egal. Dir im Augenblick wohl auch, oder?« Er lächelte.

Winter versuchte den Kopf zu bewegen, doch der war in der Haltung erstarrt, in die Börge ihn gezerrt hatte. Sein Hals fühlte sich an, als müsste er platzen, als würde er erdrosselt.

Sie haben dich nicht um Verzeihung gebeten, dachte er. Dich hat Paula nicht um Verzeihung gebeten, du Untier. Sie hat um Hoffnung gebeten, eine Hoffnung, die du ihr nicht gegeben hast. Sie hat darum gefleht, dass alle Lügen aus der Welt wären.

»Du wirst ihnen folgen, Erik Winter. Du sollst dieselbe Reise antreten wie sie. Nenn es … Logik. Diesmal wird es eine Reise ohne Rückfahrkarte.«

Er richtete sich auf und machte ein paar Schritte auf Winter zu. »Sitzt du unbequem? Soll ich dir helfen?« Er beugte sich über ihn und versuchte, den Oberkörper hochzuziehen, während er gleichzeitig Winters Kopf zur Seite drückte. »Ist das besser?«

Ich muss etwas sagen, dachte Winter. Ich muss versuchen, etwas zu sagen.

»Denkst du über diesen alten Piccolo nach?« Börge blickte auf Winter hinunter. »Der hat Schiss gekriegt. Er wusste das eine oder andere, das er dir offenbar nicht erzählt hat. Vielleicht hätte er es tun sollen. Vielleicht hat er es versucht, was weiß ich. Aber er wollte mich treffen, und dies ist der beste Ort dafür, oder? Hier ist es so schön ruhig.« Börge drehte den Kopf und schaute zu Salko hinauf. »Er wollte Geld, aber ich hatte keine Lust, ihm welches zu geben. Dafür hatte ich was anderes für ihn, als er gedacht hätte.« Börge sah wieder auf Winter hinunter. »So hat es angefangen. Salko wollte was haben. Man kann sagen, er hat etwas ins Rollen gebracht. Weshalb ich erst da … reagiert hab? Tja …« Börge zuckte mit den Schultern. »Es war wie mit dem alten Spaßvogel in Hisingen, Metzer. Den hast du ja auch kennen gelernt. Der wollte kein Geld, aber er wollte das Maul nicht halten. Er hatte keine Lust mehr.« Börges Augen wurden wieder klein. Seine Stimme veränderte sich jäh, wurde die eines anderen. »Aber danach geht es nicht immer im Leben, oder? Man fängt doch nicht plötzlich an zu denken, nur weil man keine Lust mehr hat. Da droht man doch nicht gleich mit wer weiß wem zu reden. Mit dir zum Beispiel. Über mich! Er hat gedroht, es zu tun.« Börges Augen weiteten sich und blickten in die Ferne. »Eigentlich hat er es schon getan. Erinnerst du dich an die Martinssons?«

Börge lächelte. »Klar erinnerst du dich an die! Du und dein Kollege, ihr seid ja rausgefahren nach Hisingen, weil jemand eine Auseinandersetzung gemeldet hatte.« Börge lächelte wieder. »Metzer war der Anrufer, aber das weißt du wahrscheinlich. Und ich war derjenige, der den Lärm veranstaltet hat! Eigentlich nicht ich. In dieser Wohnung war ich bloß, weil sie in der Nähe von Ellens Wohnung lag. Deshalb hatte ich die Martinssons kennen gelernt. Aber dieser Idiot Martinsson glaubte, ich würde mich für seine hässliche Frau interessieren.« Jetzt lächelte Börge nicht mehr. Er sah beleidigt aus, als fühle er sich missverstanden. »Wie konnte er sich das einbilden? Wie konnte der glauben, ich würde mich für jemand anders interessieren als für Ellen? Sie wohnte damals dort. Ellen und ihr verdammtes Bankert. Ich hab sie unter Kontrolle gehabt. Das war mein Recht. Das kapierte dieser Martinsson einfach nicht. Das kapiert nicht jeder.« Er nickte zu Winter.

»Solche wie du zum Beispiel. Du bist nicht jeder, nicht?«

Börge lächelte wieder sein Lächeln. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann schweifte sein Blick ab.

»Genug geredet«, flüsterte er schließlich.

Ich muss etwas sagen, dachte Winter. Es geht um Leben und Tod.

Börge ging zu einem Plastiksack, der hinter der Tür stand. Winter konnte ihn aus dem rechten Augenwinkel gerade noch sehen. Börge bückte sich und steckte einen Arm in den Sack.

Plötzlich hob er den Kopf. »Es ist was Besonderes mit diesem Zimmer, nicht wahr? Hierher ist Ellen in der ersten Nacht geflüchtet. Na ja, wenn das jemand weiß, dann du!«

Ich muss etwas sagen, muss etwas sagen, muss etwas sagen, sag was, sag …

»Jo… Jon… Jo«, sagte er. Es klang, als versuchte er zu pfeifen.

Börge zuckte zusammen. Sein Arm steckte immer noch im Sack.

Wenn er den Arm herauszieht, ist der Zug abgefahren, dachte Winter. Dann wird es eine Reise ohne Rückfahrkarte.

»Jon… Jon…«, pfiff er wieder.

Börge zog den Arm heraus. Die Hand war leer. »Was? Willst du was sagen, Winter?«

Winter konnte nicht antworten. Er war erschöpft von dem einen Versuch. Aber der furchtbare Schmerz im Hals ebbte langsam ab. Und langsam kamen auch seine Gedanken wieder in Bewegung.

Das Blaulicht huschte über die Vasagatan. Der Wind rüttelte daran, ließ es unregelmäßig kreisen, wie ein kaputtes Karussell. Zwei Funkwagen standen vor Börges Haus. Halders hatte die Autotür hinter sich offen gelassen, als er auf die Haustür zustürmte.

In der Wohnung waren schon Beamte.

»Die Wohnungstür stand weit offen«, empfing ihn der Polizeiinspektor.

»Ist er hier?«, fragte Halders.

»Die Wohnung scheint leer zu sein.«

Halders betrat den Flur, der eine merkwürdige Krümmung machte. Er folgte ihr und bemerkte die offene Tür am hinteren Ende, er sah eine Uniform dort drinnen, er sah ein Gesicht, das sich ihm zuwandte. Er sah den Gesichtsausdruck.

»Was ist?«, rief er und stürmte los.

Noch im Laufen entdeckte er die Stricke, die Metallösen, die Arbeitsbank, die Körperteile, die Gussformen. In dem nackten Licht glänzte ein großer Fleck.

Die Polizeiinspektorin hielt sich Nase und Mund zu. Halders sah nur ihre Augen.

In dieser Kammer gab es nichts Lebendiges. Erik ist hier gewesen, dachte Halders. Er muss es gesehen haben. Es verstanden haben. Gewusst haben, wohin er als Nächstes fahren musste.

An der rechten Wand stand eine Farbdose auf dem Fußboden, daneben lag ein Pinsel. Die weiße Farbe hatte ein fächerartiges Muster auf den Boden gespritzt, als der Pinsel weggeworfen wurde. An der Wand stand etwas, kreideweiß auf dem grauweißen Gips:

MÖRDER

Die einen halben Meter hohen Buchstaben bedeckten die ganze Wand. Farbe war auf den Fußboden geflossen und zu einem Teil des Fächers geworden.

»Nach Erik ist noch jemand hier gewesen«, sagte Halders.

*

Börge kam auf ihn zu, beugte sich über ihn und hielt sein Ohr dicht an Winters Mund. »Vielleicht ist es besser, wenn du flüsterst?«

»Jon…«

»Jon? Was sagst du? Jon?«

»Jon… Jona…«

»Jona? Aha! Jonas! Du fragst nach Jonas?«

Winter blinzelte. Das sollte »ja« bedeuten.

»Herrje, klar, wir haben ja gemeinsame Bekannte. Du hast das Foto bei Paula gesehen, oder?« Börges Augen glänzten, als wäre er der glücklichste Mensch auf der Welt. »Hübscher Junge, dieser Jonas. Genau wie das Mädchen. Sie waren beide einfach süß.« Börge schien sich in Erinnerungen zu verlieren.

»Mein kleiner Scherz damals hat ihn ziemlich verschreckt. Ich hab doch bloß Spaß gemacht mit dieser Hand.« Jetzt lächelte Börge, es war ein anderes Lächeln als zuvor, ein warmes Lächeln. »Das Hobby hatte ich damals schon. Der alte Metzer fand das nicht witzig, aber mir war egal, was er sagte.«

»Ha… ha…«

»Was sagst du, Winter? Haha? Klar ist das witzig.«

Winter sammelte allen Atem, der ihm zur Verfügung stand, und spannte seine Muskeln, um noch einige Worte herauszubringen. »Er … er hat dich gesehen.«

Winter atmete heftig nach diesem Kraftaufwand.

»Er hat mich gesehen? Mich gesehen?« Börge packte Winter an der Schulter und schüttelte ihn. »Sag mir, wann? Als ich hier war? Wohl kaum. Als ich dort war? Wohl kaum. Hier oder dort spielt keine Rolle. Als ich den Strick aus Paulas Wohnung geklaut habe, kam er angeschlichen, aber da war ich schon wieder draußen.«

Börge ließ Winters Schulter los. »Dieser Junge ist von mir abhängig, genau wie sie von mir abhängig war. Du hast doch den Brief gelesen?« Börge nickte, wie um die eigenen Worte zu bestätigen.

Winter hatte den Brief gelesen. Und jetzt wusste er: Paula hatte an Börge geschrieben. Anfangs hatte Winter es nicht verstanden. Aber sie hatte um ihr Leben geschrieben, um das Recht auf ihr Leben. Sie wollte ihre Freiheit. Sie hatte ihre Freiheit verlangt. Vielleicht hatte sie geglaubt, alle Heimlichtuerei würde sich in Luft auflösen, alle Lügen. Und dass nach dem Schweigen etwas anderes kommen würde, etwas Besseres. Sie hatte auch Jonas’ Freiheit verlangt.

»Tatsache ist, dass ich den Jungen eingeladen habe«, sagte Börge. »Er kann jeden Augenblick hier sein. Er ist von mir abhängig, wie gesagt. Hat er dir was erzählt? Irgendwas? Nein.«

Winters Handy klingelte. Er hatte vergessen, dass er eins besaß. Es gehörte in eine andere Welt, in ein anderes Leben.

Börge war zusammengezuckt, aber nur kurz. Das Klingeln spielte keine Rolle, nicht für ihn, nicht für Winter.

Hier liege ich. Oder sitze oder wie zum Teufel man das nennen soll. Ich hab mich selbst gesetzt. Ich hab mich selbst hierher versetzt. Ich bin mitgerissen worden. Ich hab aufgehört zu denken. Nein, ich habe gedacht, aber ich habe falsch gedacht. Ich bin allein. Mit wem hab ich zuletzt gesprochen? Jonas. War es Jonas? Was hab ich gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. In kurzer Zeit ist zu viel passiert. Die Nacht war zu kurz. Ich hab auch mit Nina Lorrinder gesprochen. Ich habe ihr erzählt, dass ich zu Paulas Wohnung fahren wollte. Das hab ich doch? Aber das hilft jetzt nichts mehr. Ich wollte alles allein machen. Alles allein lösen. Die komplette Lösung finden. Ich wollte es erledigen, bevor ich mich ins Flugzeug setze. Jetzt wird nichts draus. Ich hätte diesen jungen Polizisten nicht schlagen sollen. Ich hab nicht mal nach seinem Namen gefragt. Auf dem Handy, das war Angela, ich fühle, dass es Angela war. Jesus! Elsa, Lilly. Ich hätte Angela heiraten sollen. Sie wollte es. Ich liebe euch, und ich werde euch immer lieben, ganz gleich, was auch mit mir geschieht. Paula wusste es. Sie hat um Verzeihung gebeten, als sie schreiben durfte, was sie wollte. Ihr Mörder hat ihr das nicht diktiert. Sie schrieb, was sie wollte, als sie wusste, dass sie sterben musste. Sie hat die Schuld auf sich genommen. Jetzt verstehe ich es. Das ganze Chaos in ihrem Leben, das entstanden ist, weil sie ein nicht geplantes Kind war, vielleicht unerwünscht. Sie muss es gesehen, entdeckt, verstanden haben. Was hat Börge in diesem Zimmer zu ihr gesagt? Musste er überhaupt noch viel sagen, nachdem sie es schon wusste? Sie wollte die Trauer der Hinterbliebenen lindern. Herr im Himmel. Hilf mir, jetzt, wo ich es verstanden habe, wo ich es weiß. Wenn meine Beine frei wären, würde ich diesen Teufel zu Tode trampeln. Er steht auf. Geht zu dem Sack. Ich muss mich vorbereiten. Er zieht etwas heraus. Ja, es ist ein Strick, er hat genügend Stricke, um die Erde zu umschlingen.

Börge näherte sich mit dem Strick. Die Schlinge war schon vorbereitet. Er verschwand hinter Winters Rücken. Winter lag halb auf der Seite an der Wand. Er glitt wieder langsam zu Boden. Er konnte Börge nicht sehen, hörte ihn nur hinter sich. Er war hilflos. Das Einzige, was er sehen konnte, war das Fenster, und von dort war keine Hilfe zu erwarten. Winter wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er das Zimmer betreten hatte, es konnten Stunden sein, Tage. Vom Leben dort draußen konnte er auch keine Hilfe erwarten.

Er spürte die Schlinge um seinen Hals. Börge zog zu. Die Luft wurde knapp, da war nur der Rest in seiner Luftröhre. Börge versetzte ihm einen Stoß, vielleicht, damit er besser über den Fußboden zu ziehen war.

Plötzlich hörte Winter draußen Geräusche, es klang wie Metall gegen Metall. Da war es wieder. Am Rand seines Gesichtsfeldes flatterte etwas. Er begriff, dass die wilden Schatten vor dem Fenster nicht natürlich waren, nicht zum Himmel gehörten. Er begriff es, als die Scheibe splitterte, als Börge aufschrie. Vielleicht als die schwarze Gestalt durchs Fenster geflogen kam wie ein wilder, fremder Vogel. Winter ging die Luft aus. Er konnte nicht mehr denken. Sein letzter Gedanke war, dass der Junge die ganze Fassade an dem Gestell mit dem Hotelschild heraufgeklettert sein musste.