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Da!« Halders sprang auf und wedelte mit der Hand Richtung Monitor. »Das ist ihr Koffer!«

Winter sah einen schwarzen Samsonite. Ringmar auch und Bengtsson. Winter sah eine Frau, die er nicht kannte. Sie öffnete die Box Nummer 110. Die Frau stellte einen Koffer hinein, schloss ab und ging weg, ohne sich umzudrehen. Winter hatte einen Teil ihres Gesichts gesehen, ihre spätsommerliche Kleidung. Kein langer Mantel, kein Hut. Die Haare wirkten sehr hell, weiß oder blond. Sie trug eine dunkle Brille, die die Identifizierung erschwerte.

»Sie hat sich nicht um die Kameras gekümmert«, sagte Ringmar.

»Vielleicht wusste sie nichts von ihnen«, meinte Winter.

»Oder sie waren ihr egal.«

»Kennen wir sie?«, fragte Halders.

»Demnach ist es nicht die Freundin, Nina Lorrinder?«, fragte Ringmar. »Du bist der Einzige, der ihr begegnet ist.«

»Ist sie nicht, das erkenne ich, trotz der Sonnenbrille«, sagte Halders. »Die Lorrinder ist hübscher. Und vor allen Dingen jünger.«

»Wie spät war es?«, fragte Ringmar.

»Halb sechs«, sagte Bengtsson, »am Nachmittag.«

»Wann war Paula Ney mit ihrer Freundin zum Kino verabredet?«, fragte Ringmar.

»Viertel nach sechs vorm Kino«, antwortete Winter. »Der Film begann um halb sieben.«

»Dann hätte Paula Ney es nicht geschafft, ihren Koffer eigenhändig abzustellen und rechtzeitig am Kino zu sein«, sagte Ringmar.

»Sie hat es ja auch nicht getan, oder?«, fragte Halders.

»Das da ist sie doch nicht, oder?«

»Lass den Film noch mal laufen«, sagte Winter.

Er sah eine unbekannte Frau, die einen unbekannten Koffer in einem bekannten Schließfach abstellte.

»Es kann sich um eine ganz gewöhnliche Mitbürgerin und irgendeinen Samsonite handeln.« Ringmar zeigte auf den Bildschirm. »Ein paar Stunden später hat sie den Koffer wieder abgeholt, und jemand anders hat das Fach benutzt und dann ein anderer und so weiter.«

Winter sah Bengtsson fragend an.

»Das ging nicht«, sagte Bengtsson. »Das würden wir doch auf dem Band haben. Dieser mysteriöse Kerl, den wir gesehen haben, musste für drei Tage Aufschlag bezahlen, um das Schließfach öffnen zu können.« Er deutete auf den Monitor. Die Frau auf dem Bild entfernte sich zum vierten Mal. Winter dachte an Filmaufnahmen, Wiederholungen. Noch hatten sie es nicht richtig gemacht.

»Die Hundertzehn«, präzisierte Bengtsson.

»Dann ist es also vollkommen sicher, dass Der Rücken denselben Koffer herausgenommen hat, den die Blondine hineingeschoben hat?«, fragte Halders.

Bengtsson nickte.

»Wer ist sie?«, fragte Ringmar.

Sie hatten zwei Verdächtige, die etwas mit dem Mord an Paula Ney zu tun hatten, die eine Person deutlich erkennbar, die andere undeutlich, nur ein Schatten, aber beide unbekannt. Sinnlos, ein Bild der Frau an die Medien weiterzuleiten. Tausende von Zeugen würden sich melden, die eine blonde Frau mit Sonnenbrille gesehen hatten. Im Prinzip wäre es dasselbe, als würden sie das Foto von dem Männerrücken herausgeben.

»Die wirken … irgendwie verschlagen«, sagte Ringmar.

»Beide Typen.«

Sie waren in das Café zurückgekehrt. Die Kellnerin behandelte sie bereits wie Stammgäste. Sie lächelte mehrmals. Wir kommen nicht vom Fleck, dachte Winter. Guck dir die an. Der Fall beginnt und endet hier. Wenn er überhaupt endet. Er wollte die Sache nicht dramatisieren, dazu neigte er, und das führte wer weiß wohin, oft in die falsche Richtung. Selten vorwärts. Wie jemand, der im Bahnhof sitzt und dessen Zug niemals auf der Anzeige auftaucht. Der stundenlang dasitzt, einen Tag lang. Was für ein Schicksal. Aber nicht so schlimm wie der Tod. Winter schob den Gedanken beiseite. Die Kellnerin lächelte ihn an, als sie den Cappuccino auf den Tisch stellte. Ihm war aufgefallen, dass sie an der Bar Whisky hatten, einen halben Meter Flaschen. Die Kellnerin war blond wie die Frau auf dem Bildschirm.

»Nimm die Blondine«, begann Ringmar. »Sie kommt mir nichts, dir nichts herein, eine Sonnenbrille auf der Nase. Das ist ihre Verkleidung. Sie weiß, dass sie beobachtet wird. Womöglich trägt sie eine Perücke.« Er nippte an dem Kaffee. Er schmeckte nach Milch und sonst nichts. Plötzlich sehnte er sich nach dem furchtbaren Kaffee aus dem Automaten im Hauptquartier. Halders nannte es Hauptquartier, weil das Dezernat oben im vorletzten Stock untergebracht war. »Aber es ist ihr egal. Das ist irgendwie ganz schön verschlagen … arrogant. Sie entsch…«

»Warum sollte sie sich um irgendwas kümmern?«, unterbrach ihn Halders. »Sie hat nichts Strafbares getan. Hat bloß den Koffer abgestellt. Paula Ney würde ihn dann abholen.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Nein.«

»Sie hat den Koffer von jemand anders eingeschlossen«, fuhr Ringmar fort. »Es könnte ihr eigener sein, aber gehen wir einmal davon aus, dass er jemand anders gehörte, da sie ihn nicht selber wieder abgeholt hat. Warum? Warum einen Koffer dahin schleppen? Er wirkte ziemlich schwer, als sie ihn anhob. Geschah das im Auftrag von Paula Ney? Oder war der Koffer gestohlen? Warum ihn im Hauptbahnhof aufbewahren? Warum mehrere Tage verstreichen lassen, ehe man ihn wieder abholt?« Er deutete in Richtung Bahngleise. »Ehe Der Rücken ihn abholt?«

»Einen Punkt gibt es ja, der darauf hindeutet, dass diese Frau irgendwie mit dem Mord an Paula Ney zu tun hat«, sagte Winter.

»Welchen?«, fragte Halders.

»Sie hat sich nicht gemeldet«, sagte Winter.

Sie blieben sitzen. Konnten sich nicht von der Stelle rühren. Wir können auch hier nachdenken, ging es Winter durch den Kopf, dieser Ort hat etwas. Wenn wir ihn verlassen, stirbt die Phantasie. Und wir haben sowieso zu viele Leute, die nur gut zu Fuß sind. Hier ist die Basis der Denker. Hier ist das Hauptquartier. Mir gefällt mein Büro nicht. Dahin geh ich nie wieder zurück.

Das Café hatte keine Fenster direkt zu den Gleisen. Durch eine Art Arkade, die im Zuge der Umbauarbeiten neu entstanden war, konnte man hinaussehen. Die Sonne war verschwunden. Überall im Bahnhof brannte künstliches Licht. Das fiel einem erst auf, wenn die Sonne sich hinter den Wolken verbarg oder unterging. Die Säulen warfen schwache Schatten auf die weißen Wände. Weiß wie Gips.

»Wir werden sie finden«, sagte Halders.

»Wenn sie noch lebt«, ergänzte Ringmar.

»Warum sollte sie nicht mehr leben?«, fragte Halders.

Ringmar zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, wenn Paula Ney tot war, konnten auch andere Menschen tot sein.

»Wenn sie lebt – und nicht gefangen gehalten wird – muss sie etwas damit zu tun haben«, sagte Winter.

»Wie unser Freund im langen Mantel.« Ringmar nickte.

»Mein Freund ist er nicht«, protestierte Halders. »Ich kann den Kerl nicht leiden, egal, was er gemacht hat oder nicht.«

»Er hat eine Hand gemacht«, sagte Winter.

»Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, warum«, meinte Halders.

»Nicht abwarten, Fredrik«, sagte Ringmar. »Gleich anfangen.«

Aneta Djanali rief an, als Winter in sein Auto stieg. Der nördliche Bahnhofsvorbau war eine Wand aus Metall und Glas, auf die das Sonnenlicht Reflexe zauberte. Dort gab es keine Arkaden, nur Schwingtüren, die im Takt der Reisenden vor- und zurückschwangen, die hinein- und hinausgingen. Busse fuhren vor und wieder ab. Auf halbem Weg zu seinem Auto wurde Winter klar, dass er seit vielen Jahren nicht mehr mit dem Bus gefahren war, nicht mal zu den jährlichen Treffen der Kommissare in irgendeinem Küstenkaff in Bohuslän. Er fuhr stets selber.

»Die in dem Hotel sind wie Muscheln«, sagte Aneta Djanali.

»Die glauben bestimmt, sie hätten Grund dazu.«

»Meinst du wegen des Verdachts auf Prostitution? Aber hier handelt es sich doch um die Ermittlung in einem Mordfall.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Winter.

»Die haben ja nun wirklich keinen Ruf zu verlieren.«

»Ein Hotel schützt seine Gäste«, sagte Winter. »Die Freier und Gott weiß wen noch.«

»Ich habe nicht die Namen aller Gäste bekommen«, sagte Aneta Djanali. »Das ist jedenfalls mein Eindruck. War nicht leicht.«

»Ich verstehe.«

In Winters Handy knarzte es, als hätten sie die Frequenz gewechselt.

»Das scheint dich nicht gerade zu erstaunen«, stellte Aneta Djanali fest.

»Wieso?«

»Na, was für Gäste in den Betten des ›Revy‹ übernachten. Oder früher übernachtet haben.«

»Nein«, antwortete Winter, »nicht mehr.«

»Übrigens wollen die anscheinend dichtmachen.«

»Ach?«

»Das hat der Portier gesagt, mit dem ich gesprochen habe. Näheres wusste er nicht. Aber irgendwas ist da im Busch.«

Es gab Zeiten, da konnte Winter über alles staunen. Da war er erstaunt, wütend, erschrocken. Es gab so viel, was er nicht wusste. Sein allmählich wachsendes Wissen half ihm bei der Arbeit. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, bereichert worden zu sein, mehr wert als andere. All das Finstere, auf das er stieß, weckte seine Sehnsucht nach Sonne, nach viel Sonne. Er spürte, dass er immer einsamer wurde, je erfahrener er wurde. Wenn er sein Büro verließ, konnte er die Gedanken nicht einfach auf den Haken innen an der Tür hängen. Er konnte nicht alles vergessen und zurücklassen, wenn die Türen des Präsidiums hinter ihm zuschlugen. Er wusste, dass es Kollegen gab, die am Abend alles vergaßen, nicht viele, aber genug, um ihm die Arbeit zu erschweren, und es gab andere, die die Arbeit ernst nahmen. Am Anfang hatte er gedacht, er nehme alles zu ernst. Aber wie sonst sollte er es angehen? Und Einsamkeit war eine Voraussetzung dafür. Er hatte nie einen großen Freundeskreis gehabt. Einige Frauen, ein paar Männer. Einen Freund aus der Kindheit. Er hatte nie etwas gegen Einsamkeit gehabt. Fühlte sich nicht einsam. Wenn das Gegenteil darin bestand, abends mit Leuten zusammenzusitzen und zu quatschen, dann zog er seine eigene Gesellschaft vor. Er konnte mit sich selber reden, falls er abends eine Stimme hören wollte. Manchmal hatte er das getan. Oder jemanden anrufen. Wenn er es nicht wollte, brauchte er nicht mit sich allein zu sein. Er suchte seinen eigenen Weg, der eine Stille voraussetzte, die es nur in seiner eigenen Wohnung gab, nicht im Präsidium. Damals wohnte er in Guldheden, in einer Mietwohnung zwischen der Schule von Guldheden und dem Doktor Fries Torg. Es war ein Hochhaus, und er hatte von dort einen Blick weit über den Fluss, die Berge, die Seen im Osten, die Autobahnen rings um die Stadt; dreißig Jahre zu spät gebaut, kreisten sie gleichsam eine Art Unschuld ein, die es in dieser Stadt gab, in der er aufgewachsen und geblieben war. Er konnte auf seinem schwankenden Balkon im siebten Stock stehen und zuschauen, wie sich die breiten Straßen um die alten Ausfahrten schlängelten, für ihn waren es eher Ausfahrten als Zufahrten, dort unten wurde Meter um Meter die Autobahn gebaut, und innerhalb der Straßen würde ein Rest von Unschuld erhalten bleiben, wie er auch innerhalb des alten Wallgrabens bewahrt worden war. Hinter diesen Straßen: die Wildnis. Oder etwa umgekehrt? Alle Statistiken, wirklich alle zugänglichen Fakten zeigten, dass die Stadt innerhalb der fast zwanzig Jahre, die er nun schon hier Polizist war, ein gefährlicheres Pflaster geworden war. Gefährlicher, unberechenbarer, wie ein Axthieb auf den Schädel an einem milden Frühlingsabend. Zwanzig Jahre, ein halbes Arbeitsleben. Wenn ich noch mal zwanzig Jahre weitermache, gibt es nur noch Wildnis, der Dschungel übernimmt die Herrschaft, aber es gibt keine hübschen Palmen darin. So sahen seine Gedanken aus. Ohne dass er es beabsichtigte. Aber er wusste, woran es lag: an der Methode. Genauer: an der Einleitungsphase. Zu Beginn eines Falles war er nicht gut drauf. Die Welt um ihn war sinnlos, und er hatte sie so geschaffen. Wenn er einmal für immer fort sein würde, bliebe nur eine noch umfangreichere Verbrecherkartei, eine noch größere Festplatte übrig. Mit jedem Jahr wurde er kleiner, war leichter zu ersetzen …

Winter stand auf, ging auf den Balkon, zündete sich einen dünnen Zigarillo an und betrachtete die Kupferdächer auf der anderen Seite des Vasaplatsen. Der Obelisk unten im Park zeigte wie ein Finger in den Himmel. Die Geräusche der Straßenbahnen kamen gedämpft oben bei ihm an, die Lichter leuchteten klarer dort unten, Blitze wie in Zeitlupentempo, wenn sich Autos und Straßenbahnen langsam in Bewegung setzten oder bremsten.

Ein Moment auf dem Balkon. Das war einer der besseren Augenblicke, besonders jetzt und besonders an einem Abend, an der Grenze zwischen August und September, wenn die Luft leicht und das Licht blauer und durchsichtiger war denn je. Hier oben hielt sich der Duft des Hochsommers, mischte sich mit etwas Würzigem, Feuchtem. Der Herbst hatte ein feuchteres Aroma, der Sommer ein trockeneres. Sie hatten einen Sommer gehabt, der keins von beidem gewesen war. Und plötzlich war er vorbei.

Winter kehrte ins Zimmer zurück und schenkte sich aus einer Karaffe, die zwischen anderen Karaffen und Flaschen auf einem Ecktisch stand, einen Whisky ein. Er wusste, welche Marke in welcher der Karaffen war, aber Freunde, die ihn besuchten, wollten vielleicht ihr Wissen über Malzwhisky testen. Er hatte Freunde, neue Freunde. Das hatte sich verändert. Dazu hatten wohl Angela und Elsa beigetragen; weil sich einige der frisch gebackenen Eltern auch weiterhin trafen, als sie keine frisch gebackenen Eltern mehr waren. Und dann war Lilly gekommen, und alles hatte von vorn angefangen, vielleicht mit nicht mehr ganz so vielen frisch Gebackenen.

Angela.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Entweder ruft sie in fünf Minuten an oder ich rufe sie an. Er hob das Glas zum Mund. Das Telefon klingelte, als ihm gerade der erste Schluck durch den Hals in den Magen rann.

»Hauptquartier«, meldete er sich.

»Stell dir vor, es wäre jemand anders gewesen«, sagte sie.

»Mein Hauptquartier ist dort, wo ich meinen Hut aufhänge.«

»Du hast doch gar keinen Hut.«

»Das ist eine Redensart.«

»Das ist ein Anglizismus. Außerdem heißt es Zuhause. Zu Hause ist dort, wo ich meinen Hut aufhänge.«

»Hier bin ich zu Hause.« Winter sah sich um.

»Wie ist es zu Hause?«, fragte Angela.

»Einsam. Wie ist es bei euch?«

»Ziemlich heiß. Aber gestern hat es geregnet. Die Leute haben auf der Straße getanzt. Hier hat es anscheinend im August neunzehnhundertdreiundzwanzig zuletzt geregnet.«

»Mein Geburtsjahr.« Winter nippte an seinem Whisky, der nach gebranntem Torf duftete, der nach fünf Grad kaltem Atlantikwasser und nach Wildkräutern aus Nordeuropa schmeckte. Einen Kontinent von der Costa del Sol entfernt. Angela und die Mädchen waren bei Siv geblieben, seiner kettenrauchenden Mutter. Er war bereits vor zehn Tagen nach Hause gefahren, braun gebrannt und mit einem leichten Kater von den vielen trockenen Martinis seiner Mutter. In den letzten Jahren hatte sie jedoch das Trinken eingeschränkt. Vielleicht hing das mit Elsas Geburt zusammen. Vielleicht wollte sie ein bisschen länger leben. Das Leben an der Sonnenküste war anstrengend zwischen Golfplätzen, Galerien und gelangweilten Steuerflüchtlingen, die schon am frühen Nachmittag ihrem Dasein durch Cocktailpartys zu entfliehen suchten.

Angela mochte Siv. Sie hatte Winters alte Mutter sogar dazu gebracht, nach Jahrzehnten am Mittelmeer in Salzwasser schwimmen zu gehen. Vor Estepona hatten sie einen schönen Strand entdeckt. Wer suchte, fand in der Nähe des Puerto Banús auch kleine Buchten. Elsa und Lilly plantschten, lachten, Elsa lief hin und her, in den Schatten unter dem Sonnenschirm und wieder darunter hervor, wurde braun wie Schokolade.

Plötzlich herrschte Leben in dem kreideweißen Haus oben in Nueva Andalucía, Lachen, Kindergeschrei, Geschepper und Lärm in der Küche, und jetzt nicht mehr nur vom Shaker, der lange Zeit Sivs Lieblingsgerät gewesen war. Elsa spielte unter der Palme im Garten, die einjährige Lilly lernte gerade laufen. Manchmal hatte Angela die Wohnung am Vasaplatsen satt. Manchmal sprach sie es aus. Sie besaßen ein Grundstück am Meer, südlich von Billdal. Doch etwas hielt ihn zurück, hielt ihn fest im Zentrum der Stadt. Die Wohnung war groß. Kinder spielen gern in großen Wohnungen. Das sagte er Angela. Vielleicht teilte sie sogar seine Meinung. Aber der Balkon war kein Garten. Und das Grundstück am Meer könnte zunächst für ein Sommerhaus taugen.

»Fühlst du dich wieder alt, Erik?«, hörte er ihre Stimme. Es sirrte in der Leitung, als könnte er die Zikaden bis hoch in den Norden hören.

»Ich habe an die ersten Jahre gedacht«, sagte er.

»Die zwanziger Jahre?«

»Als ich in diesem verdammten Job angefangen habe.«

»Ist es heute Abend so schlimm?«

Er erzählte kurz von Paula Neys Schicksal.

»Das hat dich also bei deiner Rückkehr zu Hause erwartet.«

»Ich hätte bleiben sollen.«

»Wer soll die wachsende Familie ernähren?«

»Ich natürlich. Du hast doch noch nicht mit denen in der Klinik in Marbella gesprochen?«

»Nein, noch nicht.«

»Willst du es denn tun?«, fragte er.

»Ich würde mehr verdienen als wir beide zusammen, Erik.«

»Ich hoffe, du machst Witze.«

»Nicht über den Verdienst.«

»Ich könnte aufhören, und wir würden trotzdem zurechtkommen.«

»Meine Rede.«

»Ich meine, Geld ist da, abgesehen vom Job in der Klinik.«

»Das weiß ich auch.«

»Dann brauchst du ihn also gar nicht erst anzunehmen.«

»Ich möchte eigentlich auch nicht. Aber ein halbes Jahr hier unten … die Kinder sind im richtigen Alter, wir brauchen nicht an Schule zu denken … ein Winter in der Sonne … tja …«

»Und was soll ich mit meiner Zeit anfangen?«

»Mit den Kindern zusammen sein natürlich.«

Das klang so einfach. Und selbstverständlich.

Es war zu einfach und zu selbstverständlich.

Er schaute auf die Uhr, als wollte er prüfen, ob der Winter schon vor der Tür stand.

Plötzlich hatte er sich entschieden.

»Das ist eine gute Idee«, sagte er. »Es ist nur die Frage, ob ich vom Dienst befreit werde.«

»Warum gehst du nicht in Pension?«

»Ich mein’s ernst, Angela.«

»Wirklich?«

»Es ist eine gute Idee. Das habe ich soeben erkannt. Ich mein’s ernst.«

Ganz ernst, ihm war ernst zumute. Er stand nicht unter Alkoholeinfluss, noch nicht. »Morgen rede ich mit Birgersson. Ich kann mich ab ersten Dezember vom Dienst befreien lassen.«

Sie antwortete nicht.

»Ganz legal. Bis Dezember sind es noch mehr als zwei Monate.«

»Und … dein Fall? Dieser Mord?«

Der ist bis dahin gelöst, dachte er. Das muss er. »Wir besorgen einen Ersatz, der die Ermittlungen leitet«, antwortete er.

»Das funktioniert bestimmt. Wir können es jetzt schon vorbereiten, für den Fall des Falles.«

Sie sagte nichts.

»Hat jemand anders den Job in der Klinik bekommen?«, fragte er.

Er merkte selbst, wie ängstlich seine Stimme klang. Plötzlich wünschte er nichts sehnlicher, als diesen Winter in der Sonne spazieren zu gehen. Mit den Mädchen im Hafen ein Eis zu essen. Ein Ausflug nach Málaga, ein Glas Prosecco zwischen den Tonnen und Sägespänen in der ›Antigua Casa Guardia‹, Picassos Stammkneipe. Noch ein Eis mit den Kindern. Baden. Gegrillter Barsch. Tapas bei Sonnenuntergang und nach Sonnenuntergang.

»Angela?« Sie musste bemerkt haben, wie ängstlich seine Stimme geklungen hatte. »Hast du abgesagt? Hat jemand anders den Job bekommen?«

»Ich habe nur einmal mit denen gesprochen, Erik, ganz unverbindlich. Jedenfalls von meiner Seite aus.«

»Ruf sofort an und lass dir einen Termin für ein weiteres Gespräch geben.«

»Na, jetzt geht’s aber rund«, sagte sie. »Und wo sollen wir beispielsweise wohnen für den Fall des Falles …? Wir können uns nicht bei Siv einquartieren.«

»Denk nicht drüber nach im Augenblick. So was lässt sich lösen.«

Jetzt hatten sie die Rollen getauscht. Sie zögerte. Er hatte sich entschieden. Doch sie hatte sich noch längst nicht entschieden. Es war eine Idee, ein Entwurf, etwas, das anders sein würde. Vielleicht Stoff für gute Erinnerungen. Man lebt nur einmal. Und Elsa würde es rasch lernen, die Bestellung für ihn in der Originalsprache aufzugeben. Un fino, por favor.

»Okay, ich ruf an«, sagte sie. »Heute Abend ist es dafür zu spät.«

»Spanische Kliniken öffnen ganz früh morgens.«

»Das weiß ich, Erik.«

Er hörte ihr Lächeln. »Jetzt möchte ich mit Elsa sprechen«, sagte er. »Und mit Lilly.«

»Lilly schläft schon seit Stunden. Hier kommt Elsa.«

Und sie erzählte von ihrem Tag. Die Wörter sprudelten in einem Schwall heraus, ganz ohne Luftholen.

Er erzählte nicht von seinem Tag.

Er träumte von einer Frau, die ihm mit einer Hand winkte. Die andere hielt sie hinter dem Rücken verborgen. Sie hatte kein Gesicht. Da war nichts. Dort, wo ihr Gesicht gewesen sein musste, war nur eine matte, weiße Fläche. Sie winkte zum zweiten Mal. Er drehte sich um, wollte feststellen, ob jemand hinter ihm stand, aber er war allein. Hinter ihm gab es nur eine weiße Fläche, eine Wand ohne Ende. Jemand sagte das Wort Liebe. Sie konnte es nicht gewesen sein, denn sie hatte keinen Mund. Er konnte es auch nicht gewesen sein, denn er wusste, dass er nichts gesagt hatte. Da war es wieder: Liebe. Es kam daher wie ein Windstoß. Jetzt konnte er den Wind förmlich sehen, er war rot, er fegte durch die Wand und färbte sie rot. Die ganze Zeit stand die Frau dort, bewegte den Arm, ihr Kleid wurde vom Wind erfasst. Alles wurde rot, weiß, rot, weiß. Wieder hörte er etwas, aber es war eine Stimme ohne Worte, oder es waren Worte, die er nicht verstand, eine andere Sprache, eine Sprache, die er noch nie gehört hatte. Er wusste nicht, was er dort tat. Es gab nichts, was er tun konnte. Er konnte nichts für die Frau tun, die vom Wind mitgerissen wurde. Er konnte sich nicht rühren. Der Wind nahm zu, Geräusche von Schlägen, Wind, Schläge, Wind. Er hörte einen Namen. Es war nicht Paula, nicht Angela, Elsa oder Lilly.

Als Winter erwachte, war er nackt. Sein erster Gedanke galt der weißen Wand, die rot geworden war. Er konnte sie nicht sehen in der Dunkelheit. Ihn fror. Er hörte Geräusche, ein Schlagen. Und Wind. Ihm wurde klar, dass er bei angelehntem Fenster eingeschlafen war, der Wind hatte aufgefrischt und das Fenster losgerissen, das jetzt mit perfekter Regelmäßigkeit gegen den Fensterrahmen schlug. Es klang wie ein Ruf.

Er richtete sich auf und stellte die Füße auf seine Bettdecke, die auf den Boden gerutscht war. Er sah auf die Uhr. Als er ein paar Stunden zuvor das Licht ausgemacht hatte, war es eine warme und feuchte Nacht gewesen, eine junge Nacht. Er hatte nicht einschlafen können und die dünne Decke aus dem Bettbezug gezogen. Jetzt war das Wetter umgeschlagen, der Wind kam von Norden. Von tropischen zu gemäßigten oder vielmehr nördlichen Temperaturen. Ihn fröstelte, er zog die Leinenhose an, ging im Dunkeln in die Küche, nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank. Vor dem Fenster zum Hof war immer noch schwarze Nacht. Eben noch war es um diese Zeit fast taghell gewesen, vor nur wenigen Wochen. Es war jedes Mal dieselbe Überraschung. Die Dunkelheit konnte nicht warten. Sie ließ sich nicht aufhalten. Noch wenige Monate, dann würde es schon um drei Uhr nachmittags Nacht sein. Willkommen im Norden.

Er stellte die Flasche ab. Der Name, den er im Traum gehört hatte, fiel ihm ein. Ellen. Eine Frauenstimme hatte ihn in den Wind gerufen. Ellen. Er hatte Paula gesehen und Ellens Namen gehört. Paulas Gesicht hatte er nicht gesehen, aber sie musste es gewesen sein. Sie hatte ihre Hand verborgen.

Sie gehörten zusammen. Ellen und Paula.

Nein.

Ihm fiel ein, was er vor kurzem zu Bertil Ringmar gesagt hatte, als sie über den Fall Ellen Börge gesprochen hatten: Da war was. Etwas, das ich hätte tun können. Etwas, das ich hätte sehen müssen. Es war da, vor meinen Augen. Ich hätte es sehen müssen.

Was hätte er sehen müssen? Hing es mit dem Fall Paula Ney zusammen? Warum dachte er ausgerechnet an Ellen Börge, als er sich mit Paula Neys Tod befassen musste?

Es war das Zimmer.

Das Hotel, dachte er. Das »Revy«, das haben sie gemeinsam. Und das Zimmer und das Alter. Neunundzwanzig Jahre.

Aber ich bin nicht mehr derselbe.

Winter löste sich von der Spüle, er hatte ein Gefühl, als wäre er daran festgeklebt.

Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Es war immer noch dunkel.

Wo ist Ellen?

Hat sie eine Sonnenbrille getragen?

Nein, jetzt hör auf, Winter.

Was hatte Paulas Hand zu bedeuten? Zu welchem Zweck diente sie? Zeigten die Finger auf etwas? Würden sie es begreifen? In die richtige Richtung gehen?

Nein.

Ja.

Nein.