29

Der Junge hielt seine Hände hoch, wie um etwas zu beweisen. Doch Winter sah nichts, noch nicht. Er sah nur die starke Erregung des Jungen, die ihn fast in Stücke zerriss.

»Paula!«, flüsterte der Junge. »Ich hab sie gesehen!«

»Wo hast du sie gesehen?«

»Hier!« Jonas fuchtelte mit den Händen. »Sie war hier!«

»Wann?«

»Sie war hier!«, wiederholte der Junge.

»Wann hast du sie gesehen, Jonas?«

»Sie haben sie doch auch gesehen! Sie waren hier!«

»Das ist lange her, Jonas.«

»Nein!«

Die Erregung des Jungen war jetzt so groß, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein oder den Verstand verlieren. Vielleicht war es schon geschehen. Vielleicht hatte er den Verstand verloren. In den vergangenen Tagen. Oder Stunden. Der Junge war aus seiner Lethargie gerissen worden. Das Wort kam Winter in den Kopf. Plötzlich sah er Christer Börge vor seinem inneren Auge, mit dem Nachschlagewerk in der Hand, vor dem Bücherregal in dem unheimlichen Wohnzimmer, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Lethargie. Das bedeutete schlafähnlicher Zustand, Winter hatte es selbst einmal nachgeschlagen. Im Augenblick hatte Jonas Sandlers Verhalten nichts Schläfriges. Vielleicht war er in einem Albtraum gefangen.

Und die Zeit im Wäldchen der Kindheit war für ihn stehen geblieben.

»Paula!«

Winter hockte sich hin. Jonas schüttelte seine Hände ab. Er hatte aufgehört zu graben. Es war nur eine flache Grube entstanden, wie eine Schale im Laub. Seine Hände waren übersät von Kratzern, einem Muster aus Kratzern. Schwarzen Kratzern in der Dunkelheit. Winter fühlte sich an die schwarzen Steine erinnert, die er vor achtzehn Jahren gefunden hatte. An die Hand, die nur Jonas gesehen hatte. Die weiße Hand, von der ihm der Junge mit großen entsetzten Augen erzählt hatte. Vielleicht sah er sie noch immer, unabhängig davon, dass sie fort war. Auch Paula war nicht hier. Doch der Junge war jetzt wie damals davon überzeugt. Was wusste er? Was hatte er getan? Was war ihm angetan worden? Was verbarg sich in dieser schwarzen Erde? Der Junge hatte angefangen, leise zu weinen. Plötzlich hörte Winter das ferne Brausen des Verkehrs auf dieser Insel, der drittgrößten des Landes. In diesem Moment fühlte sie sich sehr klein an, als bestünde sie nur aus diesem Wäldchen. Über ihnen schrie ein Vogel. Der Junge zuckte zusammen. Er starrte Winter an, als würde er ihn erst jetzt erkennen, und es war, als erwache er aus einem Albtraum. Der Junge schaute auf die Erde, als wäre auch sie Teil eines Traumes gewesen, ihm jetzt aber fremd geworden. Das war kein Spiel, keine Rolle. Er wiederholte ihren Namen nicht.

Winter tat es an seiner Stelle. »Das Mädchen, mit dem du gespielt hast, war Paula, nicht wahr?«

Jonas Sandler war ruhig, als sie in Winters Büro saßen. Das war im Augenblick geeigneter als der kalte Verhörraum, der an einen Albtraum erinnerte. Winter fürchtete, Jonas könnte in den Traum zurückkehren. Dann wäre er unerreichbar.

Das Licht über Winters Schreibtisch strahlte Wärme aus. Eine Wärme, die Jonas gut zu tun schien, und Winter spürte, wie sich auch in ihm die Eiseskälte auflöste, die er unter den Bäumen empfunden hatte. Er war direkt hierher gefahren, mit Jonas als schweigendem Passagier. Jonas’ Hände lagen auf den Knien. Die Knöchel waren mit weißen Mullbinden bandagiert. Es sah aus, als trüge er weiße Handschuhe.

»Erzählen Sie mir von Paula«, sagte Winter.

Jonas versuchte zu antworten, brachte aber kein Wort heraus. Er versuchte es noch einmal. »Es … gibt nichts zu erzählen.«

»Sie haben als Kinder zusammen gespielt.«

Jonas nickte schwach.

»Haben Sie mit Paula gespielt, als Sie Kinder waren?«

»J… ja.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Wieso sind Sie sicher?«

»Ich verstehe die Frage nicht.« Jonas schaute Winter an. Der Junge saß nach vorn gebeugt auf dem Stuhl, den Kopf nah an der Tischkante.

»Wieso sind Sie jetzt so sicher? Früher haben Sie behauptet, Paula vorher nicht gekannt zu haben.«

»Ich … habe sie gekannt.«

»Warum haben Sie das nicht früher gesagt, Jonas?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es, Jonas.«

Der Junge schaute wieder auf.

»Sie haben vor etwas Angst«, fuhr Winter fort. »Vor wem haben Sie Angst?«

Der Junge antwortete nicht.

»Hat Sie jemand bedroht?«

»Nein.«

»Fühlten Sie sich bedroht, als Sie und Paula sich wieder begegnet sind? Als Erwachsene? Wusste Paula etwas über Sie?«

»N… nein. Was sollte das sein?«

»Warum sind Sie hingefahren? Zu diesem Wäldchen?«

»Das … weiß ich nicht. Es ist … Ich weiß nicht, warum ich dort war.« Jonas suchte Winters Blick.

»Haben Sie und Paula über alte Zeiten gesprochen?«

»Ja … irgendwann mal.«

»Was?«

»Nichts Besonderes. Wir … haben uns nur erinnert.«

»Wie haben Sie sich getroffen, Jonas?«

»Das wissen Sie doch. Beim Training.«

»Wie hat sich das ergeben? Haben Sie Paula wiedererkannt?«

»Ja.«

»Einfach so?«

»Ja. Sie … war dieselbe.«

»Wie meinen Sie das, dieselbe?«

»Sie sah aus wie früher.«

»Nach achtzehn Jahren?«

»Ist das so lange her?«, fragte Jonas.

»Hat Paula Sie auch wieder erkannt?«

»Nein, zuerst nicht.«

»Wo haben Sie sich das nächste Mal getroffen?«

»Dort, beim Training. Im Fitnessstudio.«

»Nicht woanders?«

»Wir haben uns nie woanders getroffen.«

»Ich glaube Ihnen nicht, Jonas.«

»Es ist wahr.« Der Junge saß jetzt aufrecht da. Es war, als hätte er jetzt erst die Gewalt über seinen Körper zurückerlangt. »Es ist so. Es ist wahr.«

»Nie in einem Café in der Stadt, einem Pub?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie wollte es nicht.«

»Haben Sie sie gefragt?«

»Ja.«

»Haben Sie Paula zu sich nach Hause eingeladen?«

»Ja. Sie hat abgelehnt.«

»Warum?«

»Ich … weiß es nicht.«

»Haben Sie nach dem Grund gefragt?«

»Nein … Sie wollte nicht. Ich konnte sie doch nicht bedrängen.«

»Aber Sie wussten, wo sie wohnte?«

»Ja …«

»Sind Sie dort gewesen?«

»Ich … verstehe Sie nicht. Ich hab doch gesagt, dass ich nicht … eingeladen wurde.«

»Sie sind vor dem Haus gesehen worden.«

Jonas antwortete nicht.

»Sind Sie dort gewesen?«, fragte Winter.

»Ja.«

»Wann?«

»Kürzlich … mehrmals.«

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Ni… nichts. Ich hab bloß dagestanden.«

»Warum?«

»Ich … weiß nicht.« Er schaute aus dem Fenster. »Ich hab sie vermisst. Ich hab sie wiedergetroffen, und dann war sie weg.«

»Warum war sie weg, Jonas? Haben Sie sich das gefragt?«

»Ja … nein, ich weiß nicht …«

»Sie wurde ermordet, Jonas. Sie war nicht nur einfach weg. Wer könnte sie ermordet haben?«

»Ich weiß es nicht.«

Winter bemerkte, dass Jonas’ Unterlippe zu zittern begann. Das war ihm auch im Wäldchen aufgefallen.

»Herrgott noch mal, ich weiß es nicht.«

»Kennen Sie Paulas Eltern?«

»Eltern? Nein.«

»Sie haben doch ihre Mutter gekannt.«

»Nein …«

»Sie kannten ihre Mutter nicht? Sie haben doch im selben Haus gewohnt wie Sie, oder?«

Jetzt suchte sein Blick über den Schreibtisch hinweg wieder Winters. »Nicht ihre richtige Mutter.«

»Er sagt also, Paula hat dort als Kind gewohnt«, sagte Ringmar. »Und wenn es so wäre? Das muss doch nichts bedeuten.«

»Ach, nicht?« Winter ging im Zimmer auf und ab, was für ihn ungewöhnlich war. »Es kann alles bedeuten.«

Ringmar saß außerhalb des Lichtkegels auf Winters Schreibtisch. Vor einer Viertelstunde hatte Jonas dort gesessen. Jetzt hockte er im Untersuchungszimmer eine Etage tiefer. Er war wieder ein Junge geworden und hatte angefangen zu zittern, seine Lippen hatten plötzlich blau gewirkt in dem warmen Licht, seine Augen hatten angefangen zu flackern wie eine züngelnde Flamme. Winter hatte einen Arzt gerufen. Dem Arzt würde der Psychologe folgen. Dann mussten sie weitersehen. Vielleicht der Staatsanwalt. Vielleicht der Pastor.

»Für ihn bedeutet es jedenfalls alles«, sagte Winter. »Es ist sein Leben.«

»Vielleicht ist er verrückt.«

»Nein. Es ist der Druck«, sagte Winter.

»So was kann dazu führen, dass man durchdreht.«

Winter schwieg.

»Wenn er sie umgebracht hat, werden wir es erfahren«, sagte Ringmar. »Vielleicht schon heute.«

Winter blieb mitten im Zimmer stehen und schaute aus dem Fenster. Draußen war kein Tag mehr, schon lange nicht mehr.

»Und Elisabeth Ney? Die Mutter? Hat er sie auch umgebracht?«

»Jonas zufolge ist es ja nicht ihre Mutter«, sagte Ringmar.

»Kann man dem glauben?«

»Warum hätte er es sonst sagen sollen? Aber warum sollte Paula ihm das erzählt haben? Möglicherweise hat sie sich das auch nur ausgedacht«, fuhr Ringmar fort. »Kinder erfinden manchmal so was.«

»Erwachsene auch.«

»Wie Jonas«, sagte Ringmar.

»Mhm.«

»Vielleicht ist alles nur Phantasterei«, sagte Ringmar. »In seiner Kindheit hat es nie eine Paula gegeben. Er hat sie sich später erschaffen, als er sie kennen gelernt hat. Nein, als sie tot war. Eine Phantasterei von ihr.«

Winter schwieg. Er dachte an ihre erste Begegnung, das Gesicht des Jungen. Der Junge und sein Hund. Wie hieß er noch? Zack. Ein Name, den man nicht vergaß. Ein guter Name.

»Er scheint sich ja nicht ganz im Klaren darüber zu sein, was er sieht und was er nicht sieht«, sagte Ringmar.

»Da bin ich nicht sicher. Etwas hat er jedenfalls in diesem Wäldchen gesehen«, sagte Winter.

»Du meinst vor zwanzig Jahren?«

»Achtzehn.«

»Die Hand? Redest du von dieser Hand?«

»Ich rede von dem, was er heute gesehen hat.«

»Er hat gesagt, dass Paula dort war.«

»Ja. Aber muss er deswegen dort gewesen sein? Um nach Paula zu suchen?«

»Vielleicht sucht er ja sich selbst«, sagte Ringmar. »Und das meine ich ganz ernst.«

»Kann es die Hand sein, die er als Junge gesehen haben will?«

»Jedenfalls nicht Paulas Hand. Es ist uns gelungen, das den Medien vorzuenthalten.«

»Was bedeutet?«

»Dass sehr wenige davon wissen«, sagte Ringmar. »Und nur eine Person außerhalb des Dezernats.«

Winters Handy klingelte.

Er meldete sich, hörte zu, nickte, drückte auf Aus und steckte das Telefon zurück in die Tasche. »Es ist so weit«, sagte er und nahm seinen Mantel.

Ein Streifenwagen war zu dem Wäldchen geschickt worden, nachdem Winter angerufen hatte, gleich dort in der Dunkelheit. Er hatte auf den Wagen gewartet und war mit Jonas auf dem Beifahrersitz ins Präsidium gefahren.

Winter und Ringmar kamen eine Minute nach den Kollegen von der Spurensicherung dort an.

Einer von ihnen kannte den Ort. »Ich kann’s kaum fassen«, sagte er, als Winter aus dem Auto stieg und auf sie zuging.

»Derselbe Hof, dasselbe Wäldchen.«

»Du hast ein gutes Gedächtnis, Lars.«

»Manchmal ist das eine Last.«

»Die Geschichte wiederholt sich eben«, sagte Winter.

»Wenn das so ist, werden wir diesmal auch nichts finden.«

»Wenn das so ist, bitte ich um Entschuldigung«, sagte Winter.

»Letztes Mal hast du dich nicht entschuldigt.«

»Fangen wir an?« Winter setzte sich in Bewegung. Bald hab ich das Gefühl, selber hier aufgewachsen zu sein. Diese Schaukeln gehören mir. Nur das Karussell ist weg. Als er das erste Mal hier gewesen war, hatte mitten auf dem Spielplatz ein Karussell gestanden. Das war wohl aus Sicherheitsgründen entfernt worden. Kinder konnten sich verletzen, an ihrem Schal hängen bleiben und mitgeschleift werden, sie konnten stolpern und unter das Karussell geraten.

Die Schaukeln bewegten sich im ewigen Wind. Hier schien er ständig aus derselben Richtung zu kommen, fegte von Nordwesten zwischen zwei Gebäuden hindurch, die sich über den Spielplatz zu beugen schienen.

Die beiden Männer von der Spurensicherung montierten Scheinwerfer. An diesem Abend würden sie nicht mehr viel tun. Sich vor Ort einen Eindruck verschaffen. Zelte aufbauen. Morgen früh zurückkommen. So war die Routine. Solange es dunkel war, könnten sie mehr zerstören als finden. In der Erde zu graben war eine heikle Arbeit. Manchmal hatten Torsten Öberg und seine Techniker tatsächlich mit Archäologen von der Universität zusammengearbeitet, direkt am Fundort. Die Spurensicherung der Kripo und die Archäologen hatten die gleiche Aufgabe: nach der Vergangenheit zu graben. Nach Toten zu graben. Und Winter konnte neben der Grube stehen und ein Teil des Ganzen sein. Er war selber Archäologe. Ein Archäologe des Verbrechens. Er grub auf seine Art.

Lars Östensson testete die Scheinwerfer, und der kleine Platz explodierte schier in einem weißen Licht, das alles noch nackter erscheinen ließ. So sieht es hier also aus, dachte Winter.

»Wo genau ist es?«, fragte Lars Östensson.

Winter zeigte auf die Mulde im Laub. In dem starken Licht bemerkte er, dass sie tiefer war, als er geglaubt hatte. Jonas musste länger hier gewesen sein, als er vermutet hatte. Oder er war stärker, als er geglaubt hatte.

»Wonach suchen wir?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Winter.

»Als wir letztes Mal hier waren, sollten wir eine Hand suchen, die ein Kind gesehen hatte.«

»Daran erinnerst du dich?«

»Wie sollte ich das vergessen? Nach dem Mord an diesem Mädchen. Ich hatte es zwar vergessen, aber der Mord hat mich daran erinnert.«

Lars Östensson hatte die Gipshand in Empfang genommen. Auch er würde das nie vergessen.

»Suchen wir nach was Großem oder was Kleinem?«, fragte er.

Winter machte eine ausholende Armbewegung, die den ganzen Ort einschloss. Sucht. Findet. Es kann alles oder nichts sein. »Ich kann nicht bis morgen warten«, sagte er.

»Jetzt würden wir mehr Schaden als Nutzen anrichten, Erik. Das weißt du doch.«

»Ich brauch den Hund.«

Bei der Göteborger Kripo gab es einen Polizeisuchhund. Er wurde Leichenhund genannt, keine hübsche Bezeichnung. Er hieß Roy und war darauf dressiert, Leichengeruch aufzuspüren.

Jetzt stand er auf dem Spielplatz. Er sah aus wie ein Wolf.

Seine Augen leuchteten im Scheinwerferlicht. Oder im Mondlicht. Der Mond schien hell diese Nacht, so hell, wie Winter es selten erlebt hatte.

Winter dachte daran, dass er hier vor vielen Jahren mit nur der Taschenlampe dagestanden hatte. Das weiße Gesicht des Jungen neben sich. Das heftige Hecheln des Hundes und das Gebell, das plötzlich stärker als jeder Scheinwerfer explodiert war.

Der Hundeführer hieß Bergurson und war Isländer. Er verständigte sich mit dem Hund in einer uralten Sprache.

Sie liefen zum Wäldchen und verschwanden zwischen den Bäumen. Winter folgte ihnen.

Die Stelle wirkte jetzt weniger hell, als hätte sich eine Wolke vor die Scheinwerfer geschoben. Winter sah den Hund. Es war das erste Mal für Winter. Er hörte den Hund.

Die Zeit schien stillzustehen.

Winter schloss die Augen. Er war nicht müde. Ihm war, als würde er nie mehr müde sein.

»Hier ist was in der Erde«, sagte Bergurson.

Sie arbeiteten sich durch die oberste Laubschicht, die zu einer spröden Haube erstarrt war. Die Dämmerung war mit einem milden Schein angebrochen. Vier Techniker arbeiteten unter der Leitung von Östensson im Wäldchen. Winter war auch dort. Die Männer hatten die Erdoberfläche in lauter Quadrate eingeteilt. Sie würden sich mit ihren kleinen Spaten, die wie Gartenspaten wirkten, Quadrat für Quadrat durch die Schichten arbeiten. Sie würden die Erde sorgfältig durchsieben, vorsichtig würden sie sich dem nähern, was Roy gewittert hatte.

»Mir ist fast so, als würde ich diese Erde wieder erkennen«, sagte Östensson und legte eine Schicht frei. Der Kollege neben ihm, ein jüngerer Mann, hieß Arnberg. Er richtete sich auf und befestigte einen neuen Scheinwerfer.

»Wie tief müssen wir graben?«, murmelte Östensson vor sich hin.

Winter verließ das Wäldchen, ging am Spielplatz vorbei zum Haus. Er klingelte an Anne Sandlers Tür. Er hatte geahnt, dass es vergebliche Mühe wäre. Sie war vermutlich immer noch im Polizeipräsidium bei ihrem Sohn. Trotzdem hatte er an der Tür geklingelt. Niemand öffnete ihm, und keine andere Tür wurde geöffnet.

Er lief die Treppen hinunter. Sein Handy klingelte, als er den Hof erreichte. »Ja?«

»Mario Ney war vor hundert Jahren im ›Odin‹ angestellt«, ertönte Halders’ Stimme.

»Hat er es bestätigt?«, fragte Winter.

»Nein, zum Teufel.«

»Wo ist er?«

»Keine Ahnung. Werde Molina anrufen und ihn fragen, was er dazu sagt.«

Der Oberstaatsanwalt hatte bisher keinen Anlass gesehen, Mario Ney seiner Freiheit zu berauben. Winter oder Halders konnten keinen ausreichenden Grund vorbringen.

»Wer hat es dir bestätigt?«, fragte Winter.

»Eine alte Hausdame. Ich glaub, die heißen so. Sie hat ihn erkannt.«

»Den Namen?«

»Nein, sein Bild. Bergenhem hat mit ihr gesprochen. Ich hab Bergenhem gelobt.«

»Sie hat ein hundert Jahre altes Bild wieder erkannt?«

»Ney scheint sich gut gehalten zu haben«, flachste Halders.

»Was hat er da gemacht, im Hotel?«

»Er war der Mann für alles, wie sie es ausdrückte.«

Winter näherte sich wieder dem Wäldchen, während er mit Halders sprach. »Lass uns das weiterverfolgen, wenn ich zurück bin«, sagte er.

»Wie kommt ihr da draußen voran?«, fragte Halders.

»Bis jetzt nichts.«

»Dem Jungen scheint’s nicht besonders gut zu gehen«, sagte Halders. »Seine Mutter ist jetzt bei ihm.«

»Ich weiß. Sie ist nicht zu Hause.«

»Müsst ihr tief graben?«

Winter antwortete nicht. Ringmar war aus dem Wäldchen aufgetaucht. Er gab Winter ein Zeichen mit der Hand. In Ringmars Augen konnte er es lesen.