15

Dann könnte der Kerl also neben ihr Froschhüpfen gemacht haben!«

»Froschhüpfen?«, fragte Ringmar.

»Oder was zum Teufel man sonst so in einer Muckibude treibt«, fuhr Halders fort.

Er hatte Winter direkt nach dem Gespräch mit Nina Lorrinder angerufen.

»Dann ist es Zeit, dass du’s dir mal anguckst«, sagte Winter.

»Ich bin gespannt.«

»Wie sicher war sie sich?«, fragte Bergenhem.

»Mäßig«, antwortete Halders.

»Sie könnte sich nicht getäuscht haben?«, hakte Ringmar nach.

»Sich täuschen, sich täuschen, jeder kann sich täuschen.«

Halders streckte die Arme nach hinten, als wäre er schon im Trainingsraum. »Aber sie hat Paula mit jemandem sprechen sehen, offenbar mehrere Male. Sie hatte den Eindruck, als hätten sie sich vorher schon mal getroffen, woanders.« Halders senkte die Arme. »Das musste ich ihr alles aus der Nase ziehen.«

»Solche Zeugen haben wir gern«, seufzte Ringmar.

»Wenn sie erst mal anfangen zu reden, schon«, erwiderte Halders.

Ringmar änderte seine Haltung auf dem Stuhl und änderte sie noch einmal. Halders’ Armbewegungen steckten an. Bald würden alle Anwesenden Gymnastik treiben.

»Könnte irgendwer sein«, sagte Ringmar.

»Und das wollen wir ausschließen, nicht wahr?« Halders streckte die Arme wieder nach hinten. In seinen Gelenken knackte es wie trockenes Holz, das bricht. »Oder umgekehrt.«

»Du hast wahrhaftig Gymnastik nötig«, sagte Bergenhem.

»Gymnastik mit Spiel und Sport«, sagte Halders. »Darin war ich immer der Beste.«

»Worin?«

»Um das zu verstehen, bist du noch zu jung.«

»Jetzt versteh ich gar nichts mehr.«

Die Tür wurde geöffnet, Aneta Djanali betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Schon zurück?«, fragte Halders.

Sie setzte sich neben ihn, ohne zu antworten, und nahm ihr Notizbuch hervor. »Ich habe dem Personal bei Leonardsen und Talassi die Bilder gezeigt, und alle waren sich einig, dass es sich um Ecco handelt.«

»Seid ihr nur in zwei Läden gewesen?«, fragte Halders.

»Nein, ich wollte euch nur einen Eindruck vermitteln, wie es aussieht.«

»Und wie sieht es aus?«

»Wie viele haben sie verkauft?«, fügte Winter hinzu.

»Allein von den Größen 44 und 45 …« Aneta Djanali las von ihrem Block ab: »Sieben Paar bei Leonardsen und zehn bei Talassi in diesem Jahr.«

»Und im letzten Jahr?«, fragte Bergenhem.

»Letztes Jahr hatten sie die Schuhe nicht im Sortiment.«

»Warum nicht?«

»Wahrscheinlich haben sie gedacht, die will keiner mehr haben. Dass sie andere Marken anbieten müssen.«

»Dass die Ecco-Ära vorbei ist«, sagte Halders.

»Wie viele haben mit Karte bezahlt?«, fragte Winter.

»Alle außer zwei.«

»Hinter den beiden sind wir her«, sagte Halders.

»Da bin ich mir nicht ganz so sicher«, sagte Ringmar.

»Wollen wir wetten?«, fragte Halders.

»Die Schuhe auf dem Video haben vielleicht gar nichts mit dem Fall zu tun«, sagte Ringmar.

»Wollen wir wetten?«, wiederholte Halders.

»Jetzt fangen wir erst mal mit dem an, was wir haben«, sagte Winter. »Also los.«

Das Telefon hatte zweimal geklingelt. Beim zweiten Mal hatte sie nicht abgehoben.

Sie wartete, bis es hell wurde, und dann machte sie sich auf, wanderte durch die Stadt, die Parks. Es waren noch nicht viele Leute unterwegs. Sie drehte sich um. Herr im Himmel, ich muss damit aufhören. Ich kann doch nicht dauernd rückwärts laufen.

Sie spürte einen Druck in der Magengegend, der nicht aufhörte.

Wohin soll ich gehen?

Christer Börge wirkte nicht ängstlich, als er im Verhörraum saß. Er sieht aus, als wäre er schon mal hier gewesen, dachte Winter. Aber das stimmte nicht.

Der Verhörraum hatte ein kleines Fenster, durch das Septemberlicht hereindrang. Auf dem mit Filz bezogenen Tisch stand ein Mikrofon, ähnlich einem Studiomikrofon. Der ganze Raum funktionierte wie ein Studio.

»Warum sitzen wir hier?«, fragte Börge. Das hatte er bisher nicht gefragt. Er hatte nicht viel gesagt, als Winter ihn anrief und ins Präsidium bestellte.

»Hier ist es ruhig und still«, sagte Winter.

Zunächst hatte er das Verhör nicht selbst übernehmen wollen. Er war noch kein Verhörleiter. Das verlangte Erfahrung. Aber Börge war kein Verdächtiger. Und Winter hatte ihn häufiger als jeder andere getroffen. Das konnte von Vorteil sein. Jedenfalls hatte Birgersson das zu ihm gesagt, bevor Winter ins Verhörzimmer gegangen war.

Börge wandte sich dem Licht zu, das durchs Fenster hereinfiel. Plötzlich schien er zu frieren. Er rollte die Hemdsärmel herunter und legte die Hände auf den Tisch. In dem schwachen Licht leuchteten sie auf dem grünen Filz schneeweiß, als wären sie noch nie der Sonne ausgesetzt worden. Als wären sie aus weißem Plastik oder Gips.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, bereitete Winter sich auf die Fragen vor. Börge schaute aus dem Fenster. Draußen war nur Himmel zu sehen. Kein Baum reichte bis hier herauf.

Winter räusperte sich. »Glauben Sie, Ihre Frau kommt zurück?«

Börge wandte ihm das Gesicht zu. »Was ist das für eine Frage?«

»Versuchen Sie, sie zu beantworten.«

»Spielt es eine Rolle, was ich glaube

Glaube kann Berge versetzen, dachte Winter. Aber so darf ein Polizist nicht denken. So darf ein Pfarrer denken.

»Manchmal spielt es eine Rolle, wie man mit dem Schock fertig wird.«

»Was wissen Sie denn davon?«

»Was hat sie an dem Nachmittag, als sie die Wohnung verließ, als Letztes gesagt?«, fragte Winter.

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Versuchen Sie es.«

»Würden Sie sich daran erinnern, was Ihre Frau gesagt hat, als sie wegging, um eine Zeitung zu kaufen?«

»Denken Sie nach.«

»Worüber?«

»Was ich Sie eben gefragt habe, was Ihre Frau sagte, als sie ging.«

»Vermutlich hat sie gar nichts gesagt.«

»War das immer so?«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Winter antwortete nicht.

»Wollen Sie wissen, ob sie zum Abschied was gesagt hat?«

»Ich versuche nur, Ihnen zu helfen«, sagte Winter.

»Mir zu helfen?«

»Sich zu erinnern.«

»Aber wenn es nichts gibt, an das ich mich erinnern könnte?«

Es gibt immer etwas, dachte Winter. Wenn man sich erinnern will. Du willst nicht. Und ich will wissen, warum. »Sie haben gesagt, Sie haben sich gestritten, bevor sie ging.«

Börge schwieg.

»Dass sie deswegen gegangen ist.«

»Das hab ich nie gesagt.«

»Dass es nicht das erste Mal war.«

»Jetzt machen Sie mal einen Punkt«, sagte Börge.

Winter nahm es gelassen. Bis jetzt war auch Christer Börge gelassen gewesen. Seine Antwort konnte beim Lesen des ausgedruckten Protokolls aggressiv wirken, aber sein Verhalten war nicht aggressiv. Insofern war der Ausdruck eines Verhörprotokolls unzulänglich. Die Wörter waren nur ein Teil. Manchmal hatten sie die geringere Bedeutung. Man müsste filmen können, dachte Winter. In den neunziger Jahren werden wir alles filmen.

»Hat Ihre Frau jemals gedroht, Sie zu verlassen?«

Börge zuckte zusammen. Sein Blick war schon wieder auf dem Weg zum Fenster, wanderte jedoch zu Winter zurück.

»Nein. Warum sollte sie?«

»Ihre Frau wollte Kinder. Sie wollten keine Kinder. Wäre das nicht ein Grund?«

»Nein.«

»Sie finden nicht, dass es ein Trennungsgrund ist?«

»Sie verstehen das nicht«, sagte Börge. »Haben Sie sich scheiden lassen?«

»Nein«, antwortete Winter. Er hatte sich vorgenommen, keine Fragen zu beantworten, da er hier die Fragen stellte. Wenn die verhörte Person anfing, Fragen zu stellen, hatte das Verhör eine falsche Richtung genommen. Ein Verhör war eine eingleisige Kommunikation, maskiert als Gespräch. Ein Verhörleiter durfte nie etwas von sich geben. Niemals etwas preisgeben. Nichts sagen, das ihn entlarvte. Es war ein Nehmen, niemals ein Geben. Ein Zuhören. Und gleichzeitig kam es darauf an, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hör ihnen zu, hatte Birgersson gesagt. Alle haben etwas, das sie erzählen wollen, etwas, das rauswill, und schließlich können sie es nicht mehr zurückhalten.

»Sind Sie verheiratet?«, fragte Börge.

»Wie oft hat Ihre Frau davon gesprochen, dass sie Kinder möchte?«, fragte Winter zurück.

»Dann sind Sie also nicht verheiratet«, sagte Börge. »Heiraten Sie, dann können Sie vielleicht was lernen.«

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Winter.

»Na ja, wie Frauen sind.« Börges Blick schweifte wieder ab zum Fenster, und diesmal erreichte er es. »So was kann man lernen.«

»Wie sind sie denn?«

»Das müssen Sie schon selbst herausfinden.« Winter hatte den Eindruck, dass Börge lächelte. »Irgendwas müssen Sie auch selbst rausfinden.«

»Meinen Sie, dass alle Frauen gleich sind?«, fragte Winter.

Börge antwortete nicht. Er schien die nicht vorhandene Aussicht zu studieren.

Winter wiederholte seine Frage.

»Das weiß ich nicht«, sagte Börge. Ihm schien der Widerspruch in seinen Worten nicht aufzufallen.

»Wie war Ihre Frau, verglichen mit anderen Frauen?«

»Sie hat mich geliebt.« Börge sah Winter wieder an. »Das ist das Einzige, was zählt, oder?«

Die Lobby lag verlassen da, als ob das Hotel bereits geschlossen hätte. Der junge Portier, der Paula Ney gefunden hatte, stand an der Rezeption. Bergström, er hieß Bergström. Das klang norrländisch, und er sprach norrländischen Dialekt. Alle da oben im Norden von Schweden hatten Namen, die auf -ström endeten, kombiniert mit etwas aus der Natur. Dort oben war es wild, es war schön. Irgendwann würde Winter nordwärts fahren, über Stockholm hinaus. Er wollte seinen Kindern zeigen, wie Schnee wirklich war. In ihrem fünfjährigen Leben hatte Elsa insgesamt zwei Wochen lang Schnee erlebt. Lilly hatte noch nie Schnee gesehen. In diesem Winter würde nun auch nichts daraus werden. Aber es kamen ja noch mehr Winter.

»Wir machen in zwei Wochen dicht«, sagte Bergström.

»Das ist aber schnell gegangen.«

Bergström zuckte mit den Schultern.

»Das Hotel wirkt schon jetzt wie geschlossen«, sagte Winter.

Bergström zuckte wieder mit den Schultern. Noch einmal, und es würde wirken wie ein Spasmus.

»Wie geht’s Ihnen damit?«, fragte Winter.

Fast hätte Bergström wieder mit den Schultern gezuckt, beherrschte sich aber. »Nicht besonders«, antwortete er.

»Eigentlich dürfte ich nicht hier sein.«

»Warum nicht?«

»Bin krankgeschrieben. Verraten Sie mich nicht bei der Krankenkasse. Salko hat Grippe, und sonst ist niemand mehr da.«

»Gibt es denn noch Gäste?«

»Ein paar dieser Vertretertypen.«

Winter sah ein schwaches Lächeln über sein Gesicht huschen. Es verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.

»Sie können die Absperrung aufrechterhalten, bis das Hotel dichtmacht«, sagte Bergström.

»Nett von Ihnen«, sagte Winter.

»So hab ich’s nicht gemeint.«

»Ich seh mir noch mal das Zimmer an.« Winter verließ die Rezeption und ging die Treppen hinauf. Er stieg über das Absperrband und öffnete die Tür.

Dann stand er mitten im Zimmer und lauschte auf die Geräusche von draußen. Sie waren schwach, aber deutlich durch die Doppelglasscheiben zu hören.

Hatte sie den Strick selbst mitgebracht?

Hatte der Mörder ihn mitgebracht?

Kannten sie einander?

Er sah sich um. Zimmer Nummer 10. Alles hier drin war vertraut, wie in einer Zelle. Ein Ort, den man gut kennt, an dem man aber keine Sekunde seines Lebens verbringen möchte. Sein Blick wanderte hoch zu dem Balken, um den der Strick geschlungen gewesen war. Das hatte sie nicht selbst getan.

Winter hatte sie nicht hängen sehen, Bergström hatte dafür gesorgt, dass er es nicht sehen musste. Aber er hätte es sehen wollen. Was für ein abartiger Wunsch. Ich wünschte, ich hätte hier gestanden und sie am Strick hängen sehen.

Habe ich etwas gelernt? Habe ich etwas verstanden?

Er spürte wieder diesen vertrauten Schmerz im Nacken, im Schädel. Er schloss die Augen und sah, was er gleichzeitig sehen und doch nicht sehen wollte. Da spürte er einen Luftzug vom Fenster her, als hätte es jemand geöffnet, während er dastand. Als ob ihn jemand beobachtete.

Er schlug die Augen auf. Das Fenster war geschlossen. Die Tür war geschlossen. Aber er wusste, dass er wieder herkommen würde.

Er erinnerte sich an ihre Worte, an jedes einzelne: Ich liebe euch und ich werde euch immer lieben ganz gleich was auch mit mir geschieht … und wenn ich euch verärgert habe dann möchte ich euch um Verzeihung bitten ich weiß ihr werdet mir vergeben gleich was mit mir geschieht und was mit euch geschieht und ich weiß wir werden uns wiedersehen.

Elisabeth Neys Gesicht war blass und verschlossen. Vor einer Weile hatte sie die Augen geöffnet, trotzdem sah sie verschlossen aus. Abgeschlossen. Eingeschlossen. Winter wusste es nicht. Er saß auf dem Stuhl neben dem Bett. Auf dem Nachttisch stand eine Vase mit roten Blumen. Eine Karte konnte er nicht entdecken.

»Ach, Sie sind das«, sagte sie.

»Ich tauche überall auf.« Er lächelte. »Entschuldigen Sie, bitte.«

Sie schloss noch einmal die Augen wie zum Zeichen, dass sie die Entschuldigung akzeptierte.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.

Wieder schloss sie die Augen. Das musste ja bedeuten. Zweimal bedeutete nein.

»Ich weiß nicht, was ich hier soll«, sagte sie nach einer Weile. »Wie bin ich hierher gekommen?«

»Sie brauchten Ruhe«, sagte Winter.

»Bin ich krank?«

»Haben Sie mit keinem Arzt gesprochen?«

»Sie sagen, ich brauche Ruhe.«

Winter nickte.

»Aber Sie haben sie hereingelassen.«

Sie sagte das im selben schleppenden Tonfall wie alles andere. Darin lag keine Anklage.

»Ich wollte wissen, wie es Ihnen geht«, sagte er. »Und ich gebe zu, dass ich Ihnen auch ein paar Fragen stellen möchte.«

»Das versteh ich. Und ich möchte ja wirklich helfen. Aber ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie bewegte den Kopf. »Oder an was ich mich erinnern soll.«

Ihre braunen Haare wirkten schwarz auf dem Kissen. Durch die Jalousien fiel Licht und malte Streifen über und unter ihre Augen. Das Kinn sah zweigeteilt aus. In ihren Augen war ein besonderer Ausdruck, den Winter schon einmal bei jemand anders gesehen zu haben meinte. Eine ganz gewöhnliche Beobachtung. Überall gab es Menschen, die nicht miteinander verwandt waren, sich aber dennoch ähnlich sahen. So war es mit Elisabeth Ney. Den Ausdruck in ihren Augen hatte er schon einmal bei jemand anders gesehen. Er wusste nicht, bei wem, wo oder wann. Jemand, dem er auf der Straße, in einem Laden, einer Bar oder einem Park begegnet war. Irgendwo und irgendwann.

Ihre Augen waren leicht grün gesprenkelt.

»Es ist möglich, dass Paula sich beim Training mit einem Mann getroffen hat«, sagte Winter.

»Training? Was für einem Training?«

»Im Fitnessstudio. Wussten Sie das nicht?«

»Äh … doch, klar.«

Sie wirkte unsicher. Aber das brauchte nichts zu bedeuten.

»Hat Paula nie davon erzählt?«

»Dass sie trainierte?«

»Dass sie dort jemanden getroffen hat.«

»Sie hat ja nie von jemandem erzählt. Das hab ich doch schon mal gesagt.«

Winter nickte.

»Sie hätte es mir erzählt, wenn es so gewesen wäre.«

»Gibt es einen Grund dafür, dass sie es verheimlicht hat?«, fragte Winter.

»Was meinen Sie?«

»Vielleicht wollte sie Ihnen erzählen, dass sie einen Freund hatte. Konnte es aber nicht.«

»Warum hätte sie es nicht können sollen?«

»Vielleicht traute sie sich nicht.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Meinen Sie, dass sie mit jemandem zusammen gewesen ist, der sie gezwungen hat zu schweigen?«

»Auch das weiß ich nicht. Es ist nur … eine Frage.«

Elisabeth Ney hatte den Kopf gehoben. Winter sah den Abdruck im Kissen. Wie ein Schatten.

»Sie hätte es mir erzählt. Was immer es gewesen wäre.«

Winter nickte.

»Glauben Sie, dass sie freiwillig mit in dieses Hotel gegangen ist?«, fragte sie.

»Was heißt freiwillig?«

»Meinen Sie, dass jemand sie unter Drogen gesetzt hat?«

»Im Augenblick meine ich gar nichts«, sagte Winter.

Aber Paula hatte nicht unter Drogen gestanden. Das hatte die Obduktion ergeben. Vielleicht war sie paralysiert gewesen. Bis zur Bewegungsunfähigkeit. So etwas konnte die Obduktion nicht immer nachweisen.

»Aber wenn er sie ins Hotel geschleppt hat … in dieses Zimmer … dann muss sie doch jemand gesehen haben?« Elisabeth Ney hatte sich aufgerichtet und schon fast die Füße auf den Boden gesetzt. Wahrscheinlich legte sich der Schock langsam. Jetzt kamen die Fragen. »Es muss sie doch jemand gesehen haben?«

»Das hoffen wir ja auch«, sagte Winter. »Wir suchen Zeugen, schon die ganze Zeit über.«

»Da arbeiten doch Leute im Hotel? Was sagen die?«

»Sie ist niemandem aufgefallen.«

»Und die Putzfrauen? Sehen die nicht alles? Die gehen doch in alle Zimmer?«

»Nicht … in das Zimmer«, sagte Winter. Er empfand es wie ein persönliches Versagen, es aussprechen zu müssen. »Sie haben es an dem Tag nicht geputzt.«

»Mein Gott.«

Winter sagte nichts.

»Hätten sie es getan, würde Paula vielleicht noch leben!«

Winter versuchte, sich unsichtbar zu machen, zu Luft zu werden, seine Miene unergründlich zu machen. Elisabeth Ney hatte plötzlich Farbe bekommen. Sie wirkte jünger. Wieder hatte Winter das vage Gefühl, sie zu kennen.

»Sie hat sich nicht eingetragen«, sagte er.

»Warum nicht? Warum hat sie es nicht getan?«

Elisabeth Neys Gesicht war jetzt seinem nahe. Ihr Kopf sank nach vorn, sie zuckte zurück. Winter musste an die Videosequenzen vom Hauptbahnhof denken.

»Warum hat niemand sie in der Lobby gesehen? Warum?«

»Das versuchen wir auch zu verstehen. Aber wir wissen nicht, wie das abgelaufen ist.«

»Wissen Sie überhaupt irgendwas?«

»Nicht viel.«

»Mein Gott.«

Sie schwankte. Winter streckte einen Arm aus und stützte sie. Dann setzte sie sich wieder auf die Bettkante. Das Nachthemd war groß wie ein Zelt. Darunter konnte sich wer weiß was für ein Körper verbergen. Ihre Hände waren schmal und sehnig, wie aus empfindsamem Holz geschnitzt, das Wind und Regen ausgesetzt gewesen war.

»Ihre Hand!«, rief Elisabeth Ney aus. »Warum ihre Hand?!«

Winter begegnete in der Halle Mario Ney.

Ney nickte, als sie aneinander vorbeigingen, machte aber keine Anstalten, stehen zu bleiben.

Winter blieb stehen.

»Was ist?«, fragte Ney mitten im Schritt.

»Der Schock legt sich langsam«, sagte Winter.

Ney murmelte etwas, das Winter nicht verstand.

»Wie bitte?«

»Na, ob er hier weniger geworden ist …«

»Hören Sie mal, sie musste ins Krankenhaus. Für eine Weile.«

»Sind Sie Arzt?«

Winters Blick fiel auf das Café am anderen Ende der Halle. Es gab nur einige wenige Tische und mitten im Raum eine große Pflanze. Im Augenblick saß niemand dort.

»Können wir uns ein Weilchen setzen?«

»Ich bin auf dem Weg zu meiner Frau.«

»Nur ein paar Minuten.«

»Hab ich eine Wahl?«

»Ja.«

Ney sah erstaunt aus. Er folgte Winter fast automatisch, als der auf das Café zusteuerte.

»Sie wartet auf mich.« Ney setzte sich.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte Winter.

»Ein Glas Rotwein«, sagte Ney.

»Ich weiß nicht, ob sie hier Wein haben.« Winter schaute zum Tresen.

»Natürlich nicht«, sagte Ney. »Was haben Sie denn gedacht?«

»Wir können zu einer Bar fahren«, schlug Winter vor.

»Ich will meine Frau besuchen.«

»Ich meine hinterher.«

»Okay.« Ney erhob sich.

»Ich warte hier«, sagte Winter.

Ney nickte und ging.

Winters Handy klingelte. »Ja?«

»Der Portier vom ›Revy‹ wollte dich sprechen.«

Es war Möllerström.

»Welcher von beiden?«, fragte Winter.

»Richard Salko.«

»Hast du ihm meine Handynummer gegeben?«

»Nein. Noch nicht. Ich hab ihn gebeten, in drei Minuten noch mal anzurufen. Zwei Minuten sind jetzt um.«

»Gib ihm die Nummer.« Winter drückte auf Aus und wartete.

Das Telefon in seiner Hand pulsierte. Er hatte den Klingelton unterdrückt.

»Winter.«

»Hallo. Hier ist Richard Salko.«

»Ja?«

»Heute hat ein komischer Typ eine ganze Weile vor dem Hotel gestanden.«

»Was für ein Typ?«

»Ein Mann. Ich hab ihn durchs Fenster beobachtet. Er hat nach oben geschaut, zu den Seiten und dann wieder nach oben.«

»Jung? Alt?«

»Ziemlich jung. Dreißig, vielleicht vierzig. Ich weiß es nicht. Er trug eine Mütze. Die Haare konnte ich nicht sehen.«

»Ist er Ihnen früher schon mal aufgefallen? Haben Sie ihn irgendwie erkannt?«

»Glaub ich nicht. Aber … er hat da eine Weile gestanden. Nur so. Verstehen Sie? Irgendwie, als würde ihm die Stelle was bedeuten oder wie man das ausdrücken soll. Als wäre er schon mal hier gewesen.«

»Vielleicht war es einer Ihrer Stammkunden«, sagte Winter.

»Vielleicht. Wenn ich Dienst hatte, ist er jedenfalls nie aufgetaucht. Ich kannte ihn nicht.«

»Ein Tourist?«, fragte Winter.

»Er sah nicht aus wie ein Tourist«, meinte Salko.

»Wie sehen Touristen denn aus?«

»Einfach bescheuert.«

»Was ist mit der Liste? Ich warte immer noch auf die Liste aller Angestellten, die jemals im Hotel gearbeitet haben.«

»Darauf warte ich auch noch«, sagte Salko.

»Was soll denn der Kommentar?«

»Entschuldigung. Das dauert eben. Wir sprechen von einer langen Zeitspanne. Und großer Fluktuation.«

»Hätten wir genügend Leute, wir hätten den Job längst selbst erledigt«, sagte Winter.

»Ich tue mein Bestes. Schließlich hab ich jetzt angerufen, oder?«