36

Ihre Augen waren so groß wie der Vollmond über ihnen. Sie starrte ihn durch die Windschutzscheibe an, ihr Blick war leer und gleichzeitig voller Entsetzen.

Die Frau lag über der Motorhaube und atmete, als hole sie zum letzten Mal Luft.

Winter sprang aus dem Auto, stürzte zu ihr und versuchte sie aufzurichten. Sie war schwer wie eine Tonne, wie eine Straßenbahn.

Die Straßenbahn hatte etwa fünfzig Meter entfernt unten am Hügel in einem Funkenregen gebremst. Über die Fassade der Guldhedenschule zuckte das aufgeregte Blinken all ihrer Lichter.

Er hielt die Frau in seinen Armen. Jetzt wog sie nicht mehr so viel, sie stemmte die Füße in den Asphalt, und die Beine schienen sie jetzt zu tragen, aber nur gerade so.

»Kommen Sie.« Langsam führte er sie um die Motorhaube herum zum Beifahrersitz, öffnete die Tür, half ihr, sich zu setzen, schloss die Tür, ging zur anderen Seite und setzte sich auf den Fahrersitz. Die Straßenbahn hielt immer noch. Vielleicht sprach der Fahrer über Funk mit der Polizei.

»Wie geht es Ihnen, Nina?«

Sie versuchte etwas zu sagen, aber sie zitterte zu heftig. Er streckte den rechten Arm aus und zog sie an sich, um sie zu beruhigen, was auch gelang. Unterdessen glitt die Straßenbahn langsam davon. Sie musste ihren Fahrplan einhalten.

»Was ist passiert, Nina?«

Sie hob den Kopf und starrte durch die Windschutzscheibe, den Lichtern der Straßenbahn hinterher, die sich entfernten.

Winter ließ sie los.

»Was ist passiert?«

»Er … er hat sich genau vor mir aufgebaut. Auf dem Fußweg.«

»Wer?«

Sie antwortete nicht. Es sah aus, als würde sie wieder anfangen zu zittern. Winter hob den Arm, aber sie machte eine abwehrende Bewegung.

»Der Typ, der mich ver… verfolgt hat.«

»Wer ist das, Nina?«

»Ich glaube, das ist … er.«

»Er? Meinen Sie Jonas?«

Im ersten Moment schien ihr der Name nichts zu sagen. Sie starrte wieder aus dem Fenster, wie um zu prüfen, ob er immer noch draußen war.

»Jonas? Jonas Sandler? Paulas Bekannter?«

Sie nickte.

»War es Jonas?«, wiederholte Winter.

»Ich glaube.«

»Hat er etwas gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hat er etwas getan?«

»Ich … bin weggelaufen. Plötzlich stand er da, und ich … bin weggelaufen.«

»Warum glauben Sie, dass es Jonas war?«

»Er sah … ihm ähnlich.«

»Wie ähnlich?«

»Die Größe … Ich weiß nicht. Er sah ihm ähnlich.«

Winter spähte durch die Windschutzscheibe. Niemand war zwischen den Bäumen hervorgetreten. Das hatte er auch nicht erwartet. Aber vielleicht war er noch dort. Wenn er schnell handelte, würde er ihn vielleicht ergreifen können.

Plötzlich näherten sich Sirenen. Den Ton kannte er. Es war kein Krankenwagen. Jetzt schoss das Blaulicht auf den Punkt zu, wo die Straßenbahn gehalten hatte. Über die Schulfassade zuckten Lichtblitze, die noch bizarrer waren als die Lichter von der Straßenbahn.

Die Sirene erstarb, als der Streifenwagen rutschend neben Winters Mercedes hielt. Das Blaulicht blinkte noch. Nina Lorrinder starrte in all das Blau und Weiß, als ginge davon eine neue Gefahr aus. Auf ihrem Gesicht tauchten Schatten auf und verschwanden.

Winter sah, wie ein Mann in Uniform das Auto verließ und etwas in sein Funkmikrofon sprach. Der andere Uniformierte stieg auch aus. Winter konnte ihre Gesichter in dem nervös zuckenden Licht nicht erkennen. Aber er vermutete, dass die zwei Männer vielleicht aus Lorensberg waren.

Er öffnete die Autotür und stieg aus.

»Jetzt mal ganz langsam!«, rief der Polizist, der ihm am nächsten stand.

»Ich bin’s, Erik Winter von der Fahndung«, rief Winter. Er entfernte sich einen Schritt vom Auto.

»Stehen bleiben!«, schrie der andere Polizist. Es sah aus, als würde er gleich nach seiner SigSauer greifen.

Herr im Himmel, dachte Winter, das fehlt mir gerade noch. Er warf einen Blick auf Nina Lorrinder, aber sie saß zum Glück still. Der Kollege da drüben drohte, seine Waffe zu ziehen. Eine falsche Bewegung auf dieser Seite, und Winter landete mitten in einem neuen Mordfall.

Er sah die Waffe blinken.

»Nimm die Waffe runter, verdammter Idiot!«, schrie Winter. »Ich bin Kriminalkommissar Erik Winter, und ich bin im Dienst. Wer zum Teufel seid ihr?«

Der ihm nächststehende Polizist drehte sich zu dem anderen um.

»Ich glaub, das ist er wirklich«, rief er. »Ich erkenn den Mercedes.« Er drehte sich wieder zu Winter um. »Sind Sie das, Winter?«

»Darf ich vortreten?«, rief Winter.

»Hände über den Kopf!«, schrie der Polizist mit der Waffe, die Winter nicht mehr sehen konnte.

»Nein, nein«, sagte der erste Polizist. »Das ist Winter von der Fahndung.«

Winter setzte sich in Bewegung.

»Es ist ein Notruf vom Straßenbahnfahrer eingegangen«, sagte der Polizist. »Er hat geglaubt, jemand habe versucht, ihm absichtlich in den Wagen zu fahren.« Er lächelte, jedenfalls interpretierte Winter es so. »Wir dachten, dass es sich um Fahrerflucht handelt.«

»Fahrerflucht von was?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern. Winter riss seinen Ausweis hervor und hielt ihn hoch über den Kopf. Er ging an dem ersten Polizisten vorbei, um das Auto herum, baute sich vor dem anderen auf, überzeugte sich mit einem Blick, dass dieser die SigSauer wieder eingesteckt hatte, und versetzte dem Mann einen leichten Schlag auf den Solar Plexus. Winter wusste, dass ein solcher Schlag auf die Nervenzellen an der hinteren Bauchwand zu einer reflexartigen Reaktion führte, in manchen Fällen sogar zu einer vorübergehenden Lähmung. Und genau das war seine Absicht.

Der Polizist klappte zusammen, als wollte er sich tief vor ihm verbeugen.

»Was haben Sie sich dabei gedacht, wollten Sie uns erschießen?«

»Nun mal ganz ruhig, Winter«, sagte der Kollege.

Winter schaute auf. »Was haben Sie gesagt?«

»Ganz ruhig, hab ich gesagt.«

»Ruhig? Wer sollte hier die Ruhe bewahren?« Winter warf einen Blick auf den sich Krümmenden. Der richtete sich langsam auf und verzog sich gleichzeitig aus Winters Reichweite.

Winter deutete auf seinen Mercedes. »Im Auto sitzt eine Frau, die dahinten im Wald von einem Mann verfolgt wurde. Bei der Person handelt es sich möglicherweise um einen Mörder, der vier Menschen auf dem Gewissen hat. Hinter dem ich den ganzen Herbst her war. Den ich heute Nacht vielleicht gefasst hätte, wenn Sie nicht gekommen wären. Ich bezweifle sehr, dass er jetzt noch im Wald ist.«

»Wie zum Teufel hätten wir das wissen sollen, Winter?«, fragte der ältere Polizist.

»Außerdem hatte ich es eilig«, fügte Winter hinzu.

Der Polizist schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, dass er und sein Kollege fast alles richtig gemacht hatten. Dass sie der Sicherheit Vorrang gegeben hatten. Dass gerade Winter wissen musste, dass Polizisten heutzutage eher die Waffe zogen als früher. Dass das Leben gefährlicher geworden war als früher.

»Sollen wir in den Wald gehen und den Täter suchen?«, fragte der Polizist.

Winter schaute zu seinem Auto. Nina Lorrinders Silhouette zeichnete sich deutlich ab, wie aus Karton geschnitten.

»Ja. Aber zuerst kümmert euch um die Frau und bringt sie hin, wohin sie will.«

Er stand an der Einmündung des Fußweges und schaute den Rücklichtern der Funkstreife nach, die zum Wavrinskys Plats hinauffuhr.

Nina Lorrinder war endlich auf dem Weg zu ihrer Freundin.

Ein Streifenwagen war unterwegs zu ihm, aber Winter bezweifelte, dass sie noch etwas oder jemanden finden würden. Er hatte den jüngeren Polizisten gefragt, wie er sich fühle. Ihm gehe es prima, hatte der geantwortet. Wenn Sie mich anzeigen wollen, bitte sehr, hatte Winter gesagt. Ich hab gedacht, Sie wollen mich anzeigen, hatte der Polizist erwidert. Besuchen Sie mich, wenn ich nach meiner Dienstbefreiung zurück bin. Nach dem ersten Juni.

Er ging zu seinem Auto. Seit Beginn des Dramas war kein Mensch aufgetaucht, als wären sie ganz allein auf der Bühne gewesen. Aber die Vorstellung war vorbei, und rundum blieb es genauso ruhig wie zuvor.

Winter setzte sich ins Auto, nahm sein Handy, tippte eine Nummer ein und wartete. Er hörte den Anrufbeantworter bis zum Pfeifton ab, dann sagte er: »Jonas, hier ist Erik Winter. Ich möchte, dass Sie mich sofort anrufen. Falls Sie meine Nummer vergessen haben, nenne ich sie Ihnen jetzt noch mal.« Er gab die Ziffern an und auch die Uhrzeit. »Außerdem möchte ich, dass Sie sich unverzüglich beim nächsten Polizeirevier melden. Oder beim Präsidium. Hoffentlich erreicht Sie diese Nachricht. Und hoffentlich verstehen Sie, Jonas, dass ich Ihnen helfen möchte. Ich weiß, was heute Nacht in Guldheden passiert ist. Sie können bleiben, wo Sie sind, aber rufen Sie das Polizeipräsidium an. Oder rufen Sie mich an. Es ist jetzt vorbei, Jonas.«

Ob der letzte Satz stimmte, wusste er nicht, aber er klang gut. Es klang, als wisse er alles.

Winter legte den Rückwärtsgang ein und setzte über die Gleise. Dann schaltete er in den ersten Gang und brauste los.

Das Haus war eins von fünfen, die zur gleichen Zeit errichtet worden waren, alle in der gleichen Bauweise. Dieses war das zweite von links, es lag im Schatten der Straßenbeleuchtung und war das dunkelste von allen. Bis hierher reichte das Mondlicht nicht.

Winter hatte das Auto auf dem schmalen Parkplatz abgestellt und den schmalen Fußweg genommen. Hier gab es keine Schaukeln, überhaupt keine Spielgeräte. Keine Kinder.

Er schloss die Tür mit dem Schlüssel auf, den sie seit dem Mord hatten.

Im Flur war es zunächst dunkel, wurde aber rasch hell. Es roch immer noch nach Malerfarbe und Tapetenkleister. Ein harmloser Geruch, der niemandem schaden konnte. Er stand für Zukunft, für Veränderung. Er hielt sich lange. Winter hatte seine Wohnung in Etappen renoviert, und die Gerüche waren wie ein Kalender. Erinnerungen hingen oft mit Gerüchen zusammen.

Langsam wanderte er durch die Wohnung und machte Licht an, wo es Licht gab. Künstliches Licht konnte vortäuschen, dass es Tag sei, aber für Winter verstärkte es nur das Gefühl, es sei Nacht.

Er war müde. Gleichzeitig spürte er ein Kribbeln im Bauch. Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten.

Er stand in Paulas Schlafzimmer. Die graue Wand hinter dem Bett war wie ein Fachwerkmuster übersät von weißen Strichen, die mit einem breiten Pinsel gezogen worden waren. Da, Spuren eines Spachtels. Die Grundierung der Wände war noch nicht abgeschlossen. Winter fragte sich, wie die Tapete wohl gemustert sein würde. Plötzlich interessierte es ihn.