12

Die Wohnungstür wurde geöffnet. Ein Husten. Die Tür wurde geschlossen. Winter hörte das Echo im Treppenhaus. Elisabeth Ney schien nichts zu bemerken. Sie saßen jetzt im Wohnzimmer, Winter und Ringmar saßen. Elisabeth Ney stand am Fenster und kehrte ihnen den Rücken zu.

Aus dem Korridor kam nichts, kein »ich bin wieder da« oder »hallo« oder so was. Nur Schritte.

Mario Ney betrat das Zimmer und zuckte zusammen.

»Was zum Teufel …?«

Elisabeth Ney sagte nichts. Sie drehte nicht einmal den Kopf. Vielleicht lauschte sie immer noch nach der Stimme des kleinen Mädchens.

»Guten Abend, Herr Ney.«

Das war Ringmar. Er hatte sich erhoben. Für Winter war er nicht mehr als ein Schatten. Während sie hier gesessen hatten, war die Dämmerung hereingebrochen, und niemand hatte Licht gemacht. Für diesen Moment gab es einen altmodischen Ausdruck, mit dem man Gemütlichkeit und Ruhe verband: Schummerstunde. Das Gefühl, entspannt auf die Dunkelheit zu warten.

»Was machen Sie denn hier?!«

Winter konnte Neys Gesicht nicht erkennen.

»Elisabeth? Was machen die hier?«

Sie antwortete nicht. Ihr Blick war immer noch abwesend, vielleicht draußen auf dem Hof, vielleicht nirgends.

»Elisabeth!«

Langsam drehte sie sich um. Winter wollte aufstehen und eine Lampe anknipsen, aber er blieb sitzen. Elisabeth Neys Gesicht war deutlich zu sehen, als sie sich umdrehte, es wurde vom letzten Licht des Tages angestrahlt, bevor die Sonne hinter dem Haus auf der anderen Straßenseite unterging.

Es ist wie eine Maske, dachte er. Eine Maske, die man ihr aufgesetzt hat, um ein Loch zu verdecken. Nein. Ein anderes Gesicht?

Dann schien wieder Leben in ihren Blick zurückzukehren. Sie sah ihren Mann an und fuhr genauso zusammen, wie er beim Betreten des Zimmers zusammengezuckt war.

Winter entdeckte eine plötzliche Angst in ihrem Gesicht.

Er sah Mario Ney an. Der Mann stand einen Meter von der Schwelle entfernt. Jetzt war auch sein Gesicht deutlicher erkennbar. Es strahlte dieselbe Kraft aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Als Winter die Nachricht vom Tod der Tochter überbracht hatte. Die Kraft war in seinem Gesicht geblieben, trotz der Trauer.

»Was machen die hier, Elisabeth?« Ney wedelte in Winters Richtung. »Ich wusste nicht, dass sie wiederkommen würden.«

»Das wusste Ihre Frau auch nicht.« Winter hatte sich erhoben. »Wir haben nur mal kurz vorbeigeschaut.«

»Warum?«

»Möchten Sie sich nicht einen Augenblick setzen?«

»Warum brennt hier kein Licht?«, fragte Ney.

»Wir haben es vergessen«, sagte Ringmar.

»Die Dämmerung kommt so schnell«, sagte Winter.

»Die Dämm… Was ist das für ein Scheißgeschwafel?« Ney machte ein paar schnelle Schritte vorwärts. »Elisabeth? Über was habt ihr geredet?«

Winter bemerkte, dass sie wieder zusammenzuckte. Und in derselben Sekunde versuchte er zu verstehen, ob vor Schock, vor Verzweiflung oder vor Angst. Wir sollten besser das Licht anmachen, ehe wir noch alle zusammenbrechen.

»Sie haben kein Recht, bei uns einzudringen!«

»Wir hatten das Einverständnis Ihrer Frau«, sagte Winter.

»Was soll das heißen?«

»Dass wir ihr Einverständnis haben.«

»Das werd ich genau prüfen, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Wir können Sie auch zum Verhör einbestellen«, sagte Winter. »Sie abholen lassen. Prozessordnung dreiundzwanzig, Paragraph sieben.«

»Wir wissen, was wir tun«, sagte Ringmar. »Wir dringen nirgendwo ein.«

Darauf sagte Mario Ney nichts mehr.

»Würden Sie bitte Licht anmachen, Herr Ney?«, bat Winter so sanft wie möglich.

Mario Ney schaute in Winters Richtung. Sein Blick war hart. »Wollen Sie noch bleiben? Soll ich anfangen, das Abendessen vorzubereiten?« Er lachte auf. »Oder gleich die Betten beziehen? Haben Sie Laken mitgebracht?«

»Sie sind wegen Paula hier«, sagte Elisabeth Ney.

Ihre Stimme klang seltsam fremd. Sie klang plötzlich stark und klar. Elisabeth Ney hatte ein paar Schritte ins Zimmer gemacht. Das Abendlicht hatte sich gerötet, im Augenblick brauchten sie kein Licht. Überall war Licht.

Mario Ney blieb stehen. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben.

»Sie versuchen herauszufinden, was mit Paula passiert ist, Mario. Sie tun doch nur ihre Pflicht.« Elisabeth Ney sah Winter an und dann wieder ihren Mann. »Wenn es hilft … hierher zu kommen … dann dürfen sie das jederzeit.«

»Ja, ja.« Mario Ney schien zu schrumpfen, um Zentimeter kleiner zu werden. »Jederzeit. Auch mitten in der Nacht.«

»Sie möchten etwas über Paulas Freund wissen«, sagte sie.

»Was? Was?« Mario Ney zuckte wieder zusammen. Winter konnte nicht erkennen, ob vor Überraschung. Das rote Licht war wieder verschwunden, genauso schnell, wie es gekommen war. Jetzt war es wirklich dunkel im Zimmer.

»Sie hatte offenbar einen Freund«, sagte Elisabeth Ney.

Winter ging rasch um das Sofa herum und schaltete eine Stehlampe mit großem Schirm an. Im Raum wurde es hell wie auf einer Bühne. Des Öfteren schon hatte er gedacht, er befände sich auf einer Bühne, wenn er in einem Zimmer gestanden und fremden Menschen Fragen gestellt und gleichzeitig versucht hatte, ihre Gesichter zu studieren, als könnte er innerhalb von Sekunden alles über sie erfahren. Als stünden sie alle im Scheinwerferlicht, vor Publikum. Als wäre er bald mit seinem Text an der Reihe. »Wir wissen es nicht«, sagte er, »deswegen fragen wir.«

»Aber Sie müssen es doch von jemandem gehört haben.«

Mario Neys dunkles Gesicht war deutlich erkennbar im künstlichen Licht.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte Winter.

Mario Ney betrachtete die Möbel, als sehe er sie zum ersten Mal und als müsse er erst lernen, wie man sitzt.

Er machte einen Schritt und versank in einem Sessel, richtete sich jedoch sofort wieder auf. »Was soll das heiß … Paula soll einen Freund gehabt haben? Wann sollte das gewesen sein?«

»Hatte sie in der letzten Zeit einen Freund?«, fragte Ringmar.

Herr im Himmel. Winter sah Elisabeth Ney an, aber sie reagierte nicht. Alle Kräfte hatten sie wieder verlassen. Sie saß auf dem äußersten Rand des Sofas, als wollte sie jeden Moment aufspringen.

»Nein«, sagte Mario Ney.

»Wann hatte Paula das letzte Mal einen Freund?«, fragte Winter.

Mario Ney antwortete nicht. Seine Frau schien die Frage nicht gehört zu haben. Winter vernahm die Sirene auf der Straße, ein Krankenwagen auf dem Weg zum Krankenhaus oder zu einem Kranken. Vor einer Weile hatte er erwogen, selbst einen zu rufen, als Elisabeth Ney tief in sich zu verschwinden, sich von sich selbst zu entfernen drohte. Jetzt war sie wieder auf dem besten Weg dorthin. Ihr Mann sah sie an. Er antwortete nicht auf Winters Frage.

Winter wiederholte sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Versuchen Sie nachzudenken.«

»Das ist sinnlos.«

»Warum?«

»Sie hatte keinen Freund.«

»Wie bitte?«

Mario Ney sah seine Frau an. Sie hörte nichts, sie sah nichts.

»Mir ist niemand vorgestellt worden.« Er schleuderte es ihnen förmlich entgegen. »Nie.«

»Wirklich nie?«

»Haben Sie mich nicht verstanden?« Er sah Winter direkt an. »Soll ich es noch tausend Mal wiederholen?«

»Hat Paula Ihnen nie einen Freund vorgestellt?«, fragte Winter.

Mario Ney schüttelte den Kopf. »Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen?«

Ringmar zog eine Augenbraue hoch. Elisabeth Ney auf der Sofakante rührte sich nicht. Wieder ertönte die Sirene in der sich verdichtenden Dunkelheit, jetzt kam das Geheul von der anderen Seite. Wieder hatte Winter das Gefühl, auf einer Bühne zu sitzen. Aber er hatte kein Textbuch. Niemand hatte ihm aufgeschrieben, was er sagen sollte. Und was er sagte, war wichtig, vielleicht entscheidend. Was er fragte. Auf diese Weise schrieb er sich seine eigenen Textbücher, basierend auf Erfahrung, Einfühlungsvermögen. Vielleicht auf Mitgefühl.

»Haben Sie darüber gesprochen?«, fragte er.

»Jetzt versteh ich gar nichts mehr«, sagte Mario Ney. »Was meinen Sie damit?«

Winter sah Elisabeth Ney an. Er meinte, ob die Eltern untereinander darüber gesprochen hatten. Aber er wollte es nicht selbst sagen. Er wollte, dass sie es sagten. »Wollte Paula darüber reden?«

»Nein«, sagte Mario Ney.

»Wollten Sie darüber reden, Sie und Ihre Frau?«

»Mit wem? Mit ihr?«

»Ja.«

»Nein … Das haben wir nicht getan.«

»Warum nicht?«

Mario Ney warf seiner Frau einen Blick zu. Sie schien nicht zuzuhören. Sie konnte ihm nicht helfen.

»Sie wollte es nicht.«

»Warum nicht?«

»Warum, warum, warum … verdammt viele Warums.«

»Paula war neunundzwanzig«, sagte Winter. »Wie Sie selbst sagen, hatte sie nie einen Freund. Sie wollte nicht darüber reden. Sie haben sie nie danach gefragt. Sie haben nie darüber gesprochen. Ist es so?«

Mario Ney nickte.

»Aber Sie beide müssen doch miteinander darüber gesprochen haben.«

»Ja … Das kam schon vor.«

»Haben Sie Paula geglaubt?«

»Warum sollte sie uns belügen?«

Winter sagte nichts.

»Das ist doch nichts, weswegen man lügt? Doch wohl eher im Gegenteil?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Winter.

»Verstehen Sie nicht? Warum hätte sie es geheim halten sollen, wenn sie einen Freund gehabt hätte?« Mario Ney sah seine Frau an. »Wir hätten doch nichts dagegen gehabt. Was sagst du, Elisabeth?«

Elisabeth Ney brach in Tränen aus. Winter konnte nicht erkennen, ob sie über das weinte, was ihr Mann gesagt hatte, oder ob die Tränen schon vorher herausgedrängt hatten. Aber er erkannte, dass sie jetzt Hilfe brauchte, professionelle Hilfe. Er nahm sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts.

Vom Vasaplatsen tönte eine Sirene herüber. Ein Polizeiauto. Winter war hereingekommen, hatte seinen Mantel aufgehängt, sich in die Dunkelheit gesetzt und die Schummerstunde gerade eine Minute genießen können, als die Sirene aufheulte und gleich darauf das Telefon klingelte.

Das Display konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen. Es konnte wer weiß wer sein.

»Ja?«

»Hallo, du.«

»Hallo, Angela.«

Der Sirenenton wurde lauter, schraubte sich gleichsam an den Häusern empor.

»Was ist denn da für ein Lärm im Hintergrund? Brennt es irgendwo?«

»Ein Krankenwagen«, antwortete er.

»Was machst du?«

»Im Moment? Ich bin gerade hereingekommen, hab den Mantel ausgezogen und hätte fast zur Whiskyflasche gegriffen.«

»Du musst erst was essen«, sagte Angela.

»Ich hab in der Markthalle ein kleines Stück Lammkarree gekauft.«

»Was hast du heute gemacht?«

»Eine Frau ins Krankenhaus geschickt«, antwortete er und erzählte.

Die Sirene entfernte sich über die Aschebergsgatan in Richtung Universitätskrankenhaus.

»Das Mädchen, diese Paula, muss sehr einsam gewesen sein«, meinte Angela.

»Wenn es stimmt«, sagte Winter. »Es braucht nicht so zu sein. Ihre Freundin glaubt es nicht.«

»Und du glaubst, es gibt einen heimlichen Freund?«

»Wenn es ihn gibt, will ich ihn treffen.«

»Wie willst du ihn finden?«

»Früher oder später finden wir ihn«, sagte Winter, »wenn er überhaupt existiert.«

»Das kann dauern.«

»Ja, das kann sehr lange dauern. Dies und alles andere. Viel Arbeit.«

»In drei Tagen kommen wir nach Hause«, sagte Angela.

»Es ist noch früh genug, um der Klinik Bescheid zu geben.«

»Was für einen Bescheid?«

»Dass ich den Job nicht antreten kann, natürlich. Dass du nicht vom Dienst befreit wurdest. Aber das brauche ich denen ja nicht zu sagen.«

»Angela …«

»Ich schaffe es auch, die Wohnung wieder zu kündigen. Das ist ganz leicht, weil ich den Vertrag noch nicht unterschrieben habe. Der Termin ist erst morgen.«

»Ich wusste nichts von einer Wohnung. Davon hast du nichts gesagt.«

»Ich wollte es dir jetzt erzählen. Und das habe ich gerade getan.«

»Wo liegt sie?«

»In Marbella.«

»Balkon? Terrasse?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Wir haben einen Plan«, sagte Winter. »An den halten wir uns.«

»Aber die anderen halten sich möglicherweise nicht dran«, sagte sie. »Ich brauch dir keine Namen zu nennen.«

Nein, er wusste es. Die anderen waren Opfer und Täter, Eltern und Freunde und Vermisste. Vielleicht war das Winterhalbjahr an der Sonnenküste ein Traum. Oder es war in Zukunft eine gute Methode, einen Fall noch im Zuge der Ermittlungen abzugeben. Oder die Lösung war nahe, die Erlösung, die Auflösung. Und es war vielleicht, wie er gedacht hatte. Er wusste etwas, obwohl er es nicht wusste, und Halders – es gab da etwas, das sie nicht gesehen, nicht verstanden hatten. Und erst dann würde er über den Wolken geradewegs der Sonne entgegenfliegen.

In der Nacht hörte er die Sirene erneut, am Ende eines Traums. Im Traum war er jemandem begegnet, der ihm sagte, dass er an der hinter ihm liegenden Kreuzung den falschen Weg eingeschlagen habe. Ein Gesicht hatte er nicht gesehen. Hilf mir, hatte er gesagt. Du musst dir selber helfen, hatte die Stimme geantwortet. Nur du kannst dir helfen. Die Stimme schien wie von einer Silhouette auszugehen. Ich muss Licht machen, hatte er gedacht. Dann kann ich etwas sehen. Diese Stimme kommt mir bekannt vor. Sie gehört zu jemandem, den ich kenne. Sehe ich das Gesicht, kann ich den Fall lösen. Ich werde den Fall lösen, bevor ich zur Kreuzung zurück und den anderen Weg nehmen muss.

Als er wach wurde, war die Erinnerung an den Traum noch nicht verblasst. Unten heulte die Sirene.

Er lag wach, die Augen geschlossen. Mit welchem Fall hatte er sich beschäftigt, als er der Silhouette begegnete? Für diese Information war im Traum kein Platz. Oder wer der Fremde war. Obwohl es kein Fremder war.

Winter richtete sich auf. Er war noch nicht ganz wach. Dies war für ihn keine ungewöhnliche Situation. Sein Gehirn arbeitete, während er schlief, während er träumte. Aber konnten Träume ihm die richtige Wegkreuzung zeigen? Er wusste es nicht, noch immer wusste er es nicht.

Und nie hatte er das Gesicht gesehen, nach dem er in seinen Träumen suchte.

Das Sirenengeheul erstarb in der Nacht. Winter drehte sich auf die Seite und nahm die Armbanduhr vom Nachttisch. Viertel nach drei, die Nacht näherte sich dem Morgengrauen.

Er wusste, dass er nicht wieder einschlafen würde, sondern aufstehen, ein Glas Wasser trinken und vielleicht auf dem Balkon rauchen musste. Es wäre nicht das erste Mal. Und dort draußen wäre er nicht wirklich allein. Auf dem Balkon jenseits des Vasaplatsen hatte er einige Male Zigarettenglut gesehen. Immer in den frühen Morgenstunden.

Der Holzfußboden war samtig und warm unter seinen Füßen. Er hatte selber vor einigen Jahren in einer Urlaubswoche in der Wohnung alle Böden abgeschliffen und sie in der Woche darauf dreimal lackiert, und war dann direkt in die Sonne gestartet, berauscht von Holzstaub und lebensgefährlichen Ausdünstungen. In der Sonne hatte er den Rausch gegen einen anderen, milden, aber beständigen Rausch eingetauscht.

Er hatte in der Morgendämmerung gebadet, die allerdings an einem Strand am Mittelmeer ganz anders aussah. Der Mond war größer.

Angela hatte am Strand nicht anders ausgesehen. Sie war in jeder Beleuchtung schön, gleich zu welcher Stunde.

Da lebten sie noch nicht zusammen, aber es wurde Zeit. Die Fußböden waren ein Teil davon. Wie so vieles andere. Er wollte nicht mehr allein sein. Die Einsamkeit war nicht mehr seine treue Begleiterin. Das war ihm durch den Kopf gegangen, während er mit der Schleifmaschine über seine einsamen Böden fuhr.

Über die er jetzt ging. Hier und da lagen Spielsachen.

In der Küche goss er sich Wasser aus einem Krug ein, in dem Zitronenscheiben schwammen. Wieder hörte er die Sirene. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie rekordverdächtig oft geheult. Ihm war nichts von einem größeren Unglück bekannt. Einer plötzlichen Epidemie. Er setzte sich an den Küchentisch und versuchte eine Weile, gar nichts zu denken, aber das misslang. Er dachte an Mario Ney. Wie würde es ihm ergehen, wenn der Schock nachließ? Wie es seiner Frau erging, war am vergangenen Abend deutlich geworden.

Wer würde Mario Ney dann werden? Wer war er jetzt? An ihm war etwas, das hatte nichts mit dem Schock zu tun. Er verweigerte jegliche Form von Gespräch mit jeglicher Art von Therapeuten. Die einzigen Gespräche, die er nicht ablehnen konnte, waren die mit Winter, und selbst dann waren die Pausen zwischen den Worten groß. In der Familie Ney gab es ein großes dunkles Geheimnis. Vielleicht gab es so etwas bei vielen. Aber solcherart Geheimnisse führten selten zu Mord. Hatte das Geheimnis der Familie Ney zu einem Mord geführt? Direkt oder indirekt? Er dachte an Paula. Er hatte ihr Gesicht vor Augen, ein einsames Gesicht, wenn man ein Gesicht so bezeichnen konnte. Alle waren einsam, Gesichter, Körper, Leben. Man musste sein eigenes Leben mit sich herumschleppen, so gut es ging. Winter hatte genügend Menschen getroffen, denen das nicht gelungen war. Das Leben war eine Last. Nur Idioten waren nicht dieser Meinung. Die Menschen hielten es nicht aus. Das zeigte sich auf verschiedene Weise. Nein, das war kein Zynismus. Ich glaube immer noch. Manchmal glaube ich sogar an Gott, geh sogar manchmal in die Kirche. Welcher bekennende Zyniker tut das?

Winter glaubte nicht an den Teufel. Er glaubte an die Menschen. Das konnte das Gleiche sein. Das war das Schreckliche an seiner Arbeit. Gesichter, Körper, Leben, wie das von Angela, den Kindern, Freunden, Polizisten. Und trotzdem. Teufel. Die Taten waren da. Ein lebloses Gesicht in einem verdammten Hotelzimmer in einer kleinen Großstadt am äußersten Rand der Welt. Herr im Himmel, die weiße Hand. Darin war eine Botschaft verborgen, die er nicht lesen konnte. Keiner der Finger wies in eine bestimmte Richtung.

Trotzdem würde er es erfahren. Am Ende würde es eine Antwort geben oder den Teil einer Antwort, den Teil einer Lösung dieses Rätsels. So war es. Ihn schauderte vor dem Moment. Schon jetzt fürchtete er sich vor dem, was er erfahren würde. Da gab es etwas, das er nicht wissen wollte, niemals. Warum denke ich so? Wie kann ich so denken? Was ahne ich? Ich will es nicht wissen, dachte er und sah auf die Küchenuhr an der Wand. Die Morgendämmerung war da.

Als er über Heden radelte, bemerkte er eine Gruppe Fußballspieler. Die Septembersonne war mild, und das Licht ließ die Konturen der Stadt weicher erscheinen, runder, fast wie der Ball, der in seine Richtung durch die Luft geflogen kam und genau vor seinem Vorderrad aufschlug.

»Her mit dem Ball, Winter!«

Der Torwart winkte. Winter erkannte ihn jetzt und einige der anderen Spieler in ihren blauen Overalls. Das Einsatzkommando machte Pause vom Kamikazedienst. Pause, der Begriff war relativ für die Bande. Für sie war alles Ernst. In der nächsten halben Stunde würden mehrere auf dem Platz verletzt werden; Kniestöße in die Weichteile, Ellenbogen in die Milz, Stollen in den Spann.

»Es ist gesünder, wenn ich ihn behalte!«, rief Winter und hob den Ball auf.

»Pass auf, dass dein Schlips nicht in den Speichen hängen bleibt, Junge!«, rief einer der Außenspieler.

Einige von den anderen grinsten.

Winter trug heute keinen Schlips, nicht mal Jackett oder Mantel. Aber er hatte einen Ruf.

Wortlos warf er den Ball zurück auf den Platz.

»Bestell Halders, wir sind bereit, wenn er bereit ist«, rief der Kollege.

Einige grinsten wieder.

Winter wusste, was gemeint war. Das Fahndungsdezernat hatte eine Mannschaft gehabt, aber nach zehn Monaten war damit Schluss gewesen. Halders hatte gegen ein Schiedsrichterurteil mit einem Tritt in den Hintern des Schiedsrichters protestiert. Die Mannschaft wurde gesperrt und Halders vier Jahre ausgeschlossen.

»In zwei Jahren ist die Sperre aufgehoben«, rief Winter.

»Er weiß ja, wo er uns findet!«

»Er hat schon Sehnsucht nach euch, Jungs«, rief Winter.

»Du kannst bei uns mitspielen, wenn du willst!«

»Ich werd drüber nachdenken.«

Er hörte wieder Lachen. Das Einsatzkommando war ein fröhlicher Verein.

Als er das Fahrrad vor dem Präsidium abstellte, begegnete er Ringmar, der vom Parkplatz kam.

»Damit sollte man auch anfangen«, sagte Ringmar.

»Dann tu’s doch.«

»Wenn das so einfach wäre.«

Sie machten einem Streifenwagen Platz. Der Kollege am Steuer hob grüßend die Hand. Wir sind eine einzige große Familie, dachte Winter. Und wir haben keine Geheimnisse voreinander. Er lächelte.

»Warum grinst du?«

»Nichts, Bertil.«

»Es ist nicht gut, wenn man ohne Grund lächelt.«

»Ich hab nur daran gedacht, dass wir hier in der Dienststelle eine große glückliche Familie sind.«

»Ja, wirklich wunderbar.«

»Wie geht es unserer Frau aus Tynnered? Bist du im Krankenhaus gewesen?«

»Sie schlief. Die Pillen wirkten noch.«

»Wie ist die Nacht verlaufen?«

»Ruhig, sie hat kein Wort gesagt.«

»Wird sie es jemals wieder tun?«

»Ein Wort sagen? Ich weiß es nicht, Erik.«

Ringmar machte einem weiteren Polizeiauto Platz. Der Fahrer winkte, der Passagier neben ihm winkte, Winter und Ringmar winkten.

»Vielleicht hat sie uns was zu sagen.« Ringmar folgte dem Auto mit Blicken, als es in die Skånegatan einbog.

»Vielleicht ist das ihre Art, es zu tun«, sagte Winter.

»Mhm. Oder auch nicht.«

Das Gefühl, verfolgt zu werden. Woher kam es nur? Es musste doch eine reale Ursache geben?

Das Gefühl, Wind im Nacken zu spüren, wie einen Atemhauch.

Als sie sich umdrehte, war da kein Wind. Es gab gar nichts, nur den Alltag und alles, was zum Alltag gehörte. Das Wirkliche. Aber Alltag war eine andere Wirklichkeit, eine, die ihr bekannt vorkam.

Dies war ihr unbekannt.

Da? Oder dort? War da etwas? Stand dort jemand und sah sie an, als sie vorbeiging?

Stand jemand vor ihrem Haus? Vor ihrer Tür?

Gestern Abend hatte sie am Fenster gelehnt und hinausgeschaut. Kein Licht in der Wohnung. Die Beleuchtung draußen war schwach, eher ein gelber Nebel, wie eine Haut, die sich über den Herbst gezogen hatte. Ein Auto kam den Berg herauf. Sie bemerkte die Scheinwerfer, ehe das Auto auftauchte. Es fuhr zu den Garagen, jemand kam heraus, zog die schwere Tür herunter und ging in die andere Richtung zu den Häusern, die den Hang hinunterzurutschen schienen. Manchmal sah man sie als halbe Häuser, und manchmal sah man sie gar nicht. Ihr kam es vor, als wollten sie lieber im Zentrum stehen als hier oben. Ein komischer Gedanke.

Hieran war gar nichts komisch, jetzt im Dunkeln zu stehen und hinauszustarren. Bin ich hysterisch? Habe ich … plötzlich Angst vor allem? Sogar vor mir selber? Vielleicht sollte ich wegziehen, die Stadt verlassen. Es gibt andere Städte. Es gibt auch andere Länder.

Da!

Es war ein Gesicht.

Himmel, das ist kein Gesicht.

Was ist es dann?

Jetzt ist es nichts.

Wenn du den Baum weiter so anstarrst, kann alles Mögliche aus ihm werden. Vielleicht fängt er an zu laufen. Er kann … sich in ein Gesicht verwandeln. Deine Phantasie kann alles Mögliche aus ihm machen.

Das Telefon klingelte. Ihr Telefon! Sie zuckte zusammen. Riss fast den Vorhang herunter, an den sie sich offenbar geklammert hatte, ohne es zu merken. Sie sah die Scheinwerfer eines Autos hinter dem Hügel, Strahlen wie von zwei Stablampen, und dann waren sie weg. Aber sie hörte die Sirene. Es musste ein Krankenwagen sein. Vielleicht war er unterwegs zum Sahlgrenska.

Rasch ging sie durchs Zimmer und hob den Telefonhörer ab. »Hallo? Hallo?«

Am anderen Ende kein Laut. Aber es war jemand in der Leitung, in der es rauschte wie Wind.

»Hallo? Wer ist da? Hallo?«

Wieder hörte sie die Sirene, die sich jetzt entfernte.

Aber sie hörte sie auch hier drinnen.

Die Sirene heulte am anderen Ende der Leitung.

Eine Nachricht wartete auf Winters Tisch.

In Birgerssons Büro war ein Husten zu hören, ehe er an die Tür klopfte.

Birgersson saß hinter seinem Schreibtisch. Das war ungewöhnlich.

»Setz dich, Erik.«

»Ich glaube, jetzt stelle zur Abwechslung ich mich mal ans Fenster.«

Birgersson lächelte nicht. »Mario Ney hat mich vor einer halben Stunde angerufen.«

»Ja?«

»Er sagt, Bertil und du, ihr beiden hättet den Nervenzusammenbruch seiner Frau heraufbeschworen.«

»Hat er sich wirklich so ausgedrückt? Heraufbeschworen?«

»Was ist passiert?«, fragte Birgersson.

»Wir haben einen Fehler gemacht, aber nicht gestern. Wir hätten dafür sorgen sollen, dass Elisabeth Ney sofort in Behandlung kam.«

»Er will uns anzeigen. Dich.«

»Tja, was soll ich dazu sagen?«

»Du kannst einen Vorschlag machen, wie wir das der Presse erklären sollen.«

»Wir? Das werde wohl ich übernehmen müssen, wie üblich.«

»Warum seid ihr wieder zu ihnen gefahren, Erik? Ohne euch vorher anzumelden?«

»Das fragst du mich?« Winter trat an den Schreibtisch und beugte sich darüber. »Ist das nicht auch eine deiner Methoden? Nicht vorher anrufen. Einfach an der Tür klingeln.«

»Kommt drauf an«, sagte Birgersson.

»Hier kam’s wirklich drauf an«, sagte Winter. »Mit der Familie Ney stimmt was nicht, das müssen wir herausfinden. Bald, am liebsten sofort. Bertil und ich haben ihm ja kein Haar gekrümmt. Seine Frau hat uns hereingelassen. Wir haben ein paar Fragen gestellt. Sie war einverstanden. Er ist von was weiß ich wo nach Hause gekommen und auf uns losgegangen, als wären wir Einbrecher.«

»Wo ist er gewesen?«

»Wir haben ihn nicht gefragt.«

»Wie geht es seiner Frau jetzt?«

»Sie schläft. Wir werden wieder versuchen, mit ihr zu sprechen. Das müssen wir, Sture.«

»Hm.«

»Ich glaube nicht, dass er uns anzeigt. Das glaubst du doch auch nicht.«

»Er hat Anzeige erstattet. Bei mir.«

»Dann behalt sie bei dir.«

Birgersson nickte.

Winter streckte den Rücken und wollte gehen.

»Erik?«

»Ja?«

»Äh … worüber wir uns kürzlich unterhalten haben … das vergessen wir, was?«

»Was?«

»Genau.«

»Ach so«, sagte Winter an der Tür. »Das war ja nur ein kleiner Schwatz übers Leben.«