9
Wir werden uns wiedersehen. Winter las die Worte zum hundertsten Mal. Wir werden uns wiedersehen. Er bemerkte das Beben der Hand, die die Worte geschrieben hatte, jetzt, nachdem die Spurensuche bestätigt hatte, dass es da war.
Wir werden uns wiedersehen.
Er blickte hinüber zur Hand, die auf dem Tisch lag, dem Abguss der Hand, die diese Botschaft sozusagen aus der Hölle geschrieben hatte. Vielleicht hatte man keine Wahl. Paula hatte wohl auch keine Wahl gehabt.
»Vor einer Weile ist ein Vogel am Fenster vorbeigeflogen, und ich werde bald sein wie der Vogel. Denkt an mich, wenn ihr einen Vogel seht, irgendeinen. Ich denke an euch, jetzt und für immer.«
»Das treibt einem ja die Tränen in die Augen.« Ringmar schaute von dem Brief auf, den er in der Hand hielt.
»Lass ihnen freien Lauf.«
»Ich versuche es, ich versuche es wirklich.«
»Ihre letzten Worte«, sagte Winter.
»Hat sie geschrieben, was sie wollte?«, fragte Ringmar.
Winter antwortete nicht. Er hatte gerade einen Vogel am Fenster vorbeifliegen sehen. Irgendeinen. Er kannte sich mit Vögeln nicht aus.
»Erik? Was meinst du? Sind das ihre eigenen Worte?«
»Wer kann das wissen? Nur sie selbst und der Mörder.«
»Der Vogel. Ist er ein Symbol?«
»Wenn es so wäre, haben es die Eltern jedenfalls nicht erkannt«, sagte Winter.
»Und du?«
»Flucht«, sagte Winter, »Flucht, Freiheit.«
»Außer Reichweite«, sagte Ringmar. »Für sie war das außer Reichweite.«
»Vielleicht nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Sie würde wie ein Vogel werden, hat sie geschrieben.«
Winter schaute vom Schreibtisch auf. »Es sollte ihre Flucht werden, in die Freiheit.«
»Sie hat sich nicht freiwillig entschieden«, sagte Ringmar.
Winter schwieg. Er blickte aus dem Fenster, aber es flogen keine Vögel mehr vorbei. Draußen war ein grauer Tag, leichter Regen fiel, der Herbst hatte wirklich begonnen.
»Sie hat sich nicht freiwillig entschieden, in diesem verdammten Zimmer zu sitzen und über Freiheit zu schreiben. Und Liebe. Das war nicht ihre Entscheidung.«
»Vielleicht doch«, meinte Winter.
»Mit der Schlinge um den Hals? Hatte sie eine Wahl?«
»Anfangs vielleicht nicht«, sagte Winter, »aber allmählich war sie überzeugt.«
»Genauso überzeugt wie der Mörder?«
Winter antwortete nicht. Es war ein furchtbarer Gedanke. Damit beschäftigte er sich, mit furchtbaren Gedanken.
»Hat er sie überzeugt, dass sie sterben musste? Deine Zeit ist vorbei, Paula. Schreib einen Brief, um das zu bestätigen.«
Winter schwieg noch immer.
»Sie war genauso überzeugt wie er?«
»Mach weiter«, sagte Winter.
»Es ist ihm gelungen, sie zu überzeugen, dass es ihr tot besser gehen würde?«
»Besser gehen?«, fragte Winter. »Ging es ihr denn schlecht?«
»Lass uns mal davon ausgehen. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Leben. Sie wollte weg. Sie wollte etwas anderes tun. Sie wollte fliehen. Sie wollte eine andere Freiheit. Sie wollte eine andere werden.«
»Sag das noch mal.«
»Lass uns mal davon ausg …«
»Nein, das letzte«, sagte Winter.
»Sie wollte eine andere werden«, wiederholte Ringmar.
»Ja. Das ist es. Sie sollte eine andere werden. Er wollte sie zu einer anderen machen.«
»Mensch, Erik.«
»Sie wollte fliehen, weg. Er hat ihr geholfen.«
»Wer ist sie dann geworden?«, fragte Ringmar. »Wer sollte sie dann werden?«
»Ein Teil von ihm.« Winter wiederholte es: »Ein Teil von ihm.«
Jetzt sagte Ringmar nichts. Er dachte über Winters Worte nach. Er wusste, dass es zu ihrer Routine gehörte, Wörter konnten viel bedeuten oder gar nichts, und er hoffte, dass diese letzten nichts bedeuteten. Dass Winter sich täuschte. Wenn er Recht hatte, in irgendeiner Weise, dann könnte es bedeuten, dass es gerade erst angefangen hatte.
»Wer ist er?«, fragte Ringmar. »Ein Prediger? Ein verrückter Prediger? Irgendein verdammter schwarzer Engel? Auferstandener Engel?« Er musste plötzlich niesen, als reagiere er allergisch auf die bloße Erwähnung von Predigern. »Müssen wir raus in die Versammlungen, die Gemeinden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was meinst du? Du hast doch damit angefangen!«
»Ich hab noch nicht richtig über ihn nachgedacht«, sagte Winter. »Ich hab an Paula gedacht.«
»Aber sie war nicht religiös«, sagte Ringmar. »Jedenfalls nicht, soweit wir wissen. Nicht tief religiös.« Er holte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Sie hat einige Male mit ihrer Freundin in der Kirche gesessen, aber mehr zur Beruhigung.«
»Es gibt unterschiedliche Auffassungen«, sagte Winter.
»Von Religiosität?«
»Ja. Das muss nichts mit Gott zu tun haben«, sagte Winter.
»Hat überhaupt etwas mit Gott zu tun?«
»Was soll das denn nun?«
»Gibt es Gott?«, fragte Ringmar.
»Ich glaube, wir sollten was essen gehen«, sagte Winter.
Am Nachmittag hatte Winter einen Termin bei Birgersson. Der Chef lehnte wie üblich am halb offenen Fenster, durch das schwaches Licht ins Zimmer fiel. Früher hatte Birgersson immer dort gestanden, damit der Rauch zum Fenster hinauszog, fort zum Ullevi-Stadion. Obwohl er mit dem Rauchen aufgehört hatte, stand er weiter am Fenster. Es war eine Art Ersatzhandlung; in der Hand hielt er die Zigarette, die es nicht mehr gab. Er war ein Chef, den es bald nicht mehr geben würde. Ein Jahr, dann würde Winter den Posten übernehmen, dabei hatte Winter ihn bereits übernommen. Nichts würde sich ändern, nur formal. Vermutlich würde Winter nicht in dieses Zimmer ziehen. Auf jeden Fall musste Birgerssons Zigarettenrauch mit Zyankali ausgeräuchert werden, aber auch das würde nichts helfen. Das Gift würde weiter in den Wänden hängen, hier zu sitzen war nicht gesund. Zigaretten waren nicht gesund, genau wie Zigarillos.
»Du darfst gern rauchen, Erik«, sagte Birgersson am Fenster. »Das weißt du.«
»Ich hätte ein schlechtes Gefühl, wenn ich in diesem Zimmer rauchen würde«, sagte Winter. »Du kennst meine Meinung dazu, Sture.«
Birgersson stieß ein rasselndes Lachen aus. Es klang, als ob eine Schaufel Kies auf den Fußboden gekippt würde.
Winter betrachtete seine Silhouette vor dem blassen Licht. Er hatte sie sein ganzes Erwachsenenleben lang gekannt. Schon als Polizeiassistent war er hier drinnen gewesen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, um was es damals gegangen war. Aber er hatte Angst gehabt. Das gehörte zur Jugend, dass man häufig Angst hatte. Das vermisste er jetzt manchmal. Manchmal machte es ihm Angst, dass er nicht mehr so häufig Angst hatte. Das war nicht gesund.
»Was gibt’s Neues von unserem Mädchen?« Birgersson drehte sich wieder zum Ernst Fontells Plats um. Er konnte den Verkehr vor dem Präsidium beobachten, der sich darauf zu- und von ihm weg bewegte, Uniformen, Streifenwagen, Privatwagen, Zivilkleidung, Frauen, Männer, Männer mit Hut. Es wirkte, als wäre er persönlich verantwortlich für den reibungslosen Verkehr, rein und raus, als wäre die Überwachung seine Aufgabe. »Hast du schon alle Verrückten überprüft?«
»Wir sind dabei.«
»Es werden immer mehr«, sagte Birgersson. Er hatte sich wieder Winter zugewandt. Sein Gesicht verschwamm vor dem grauen Licht, als entfernte er sich bereits. »Als ich hier anfing, konnte man sie mal eben vor der Mittagspause abtelefonieren, alle.«
»Ich weiß, Sture.«
»Mehr waren es nicht. Die ganze Bande hatte Platz in dem Filofax da.« Birgersson deutete mit dem Kopf auf seinen Schreibtisch. »So war das Leben vor dem Handy. Vor Beginn des Internetzeitalters. Es war eine wunderbare Zeit.«
»Ich glaube, das fanden die Verrückten auch«, sagte Winter.
»Ja, ja, heute haben wir vielleicht bessere elektronische Hilfsmittel, aber das wird dadurch aufgehoben, dass sich die Zahl der Verrückten auf den Straßen verzehnfacht hat. Oder?«
»Mhm.«
»Wer ist also in diesem Fall unser spezieller Verrückter?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Ist es ein alter Bekannter?«
»Ich glaube … nicht.«
»Daran hast du also auch gedacht.«
»Erinnerst du dich an Ellen Börge?«
»Hilf meiner Erinnerung auf die Sprünge.«
»Sie wurde vermisst gemeldet. Irgendwas stimmte da nicht. Wir haben es nie herausgefunden. Sie ist nicht zurückgekehrt.«
»Börge?«
»Ja.«
»Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Gut.«
»Ich bin alt, aber senil bin ich noch nicht.«
»Es geht um dasselbe Hotel, dasselbe Zimmer.«
»Oh, Scheiße.«
»Ellen Börge, wenn sie es nun wirklich war, hatte dort eingecheckt, kurz bevor sie verschwand.«
»Und?«
»Tja, das ist alles. Und dann die Tatsache, dass Ellen Börge nie wieder aufgetaucht ist. Nie zurückgekehrt ist … nach Hause.«
»Auch daran hast du gedacht.«
»Ich glaube, sie wollte nicht zurück.«
»Zurück nach Hause? In ihre Wohnung?«
»Du erinnerst dich gut an diesen Fall, Erik. Oder hast du deine Erinnerung kürzlich aufgefrischt?«
»Ich hab noch mal nachgeschaut. Es war ja einer meiner ersten Fälle.«
Birgersson nickte.
»Und ungelöst«, sagte Winter.
»Den du jetzt lösen willst«, sagte Birgersson.
»Nein, nein.«
»Mach dir nichts vor, Erik. Ich hab es im Lauf der Jahre im Dezernat schon bei anderen beobachtet. Auch bei dir. Ihr schleppt alle etwas mit euch herum, das euch zu schaffen macht, weil ihr glaubt, ihr habt irgendwas übersehen. Der Fall ist tot, eiskalt, aber ihr versucht das Feuer immer wieder anzufachen.« Birgersson verstummte nachdenklich. »Und dann kommt ein neuer Fall, und ihr fangt an, nach Ähnlichkeiten mit dem alten zu suchen.«
»Ich habe nicht danach gesucht«, wehrte sich Winter. »Ich hab nur gesagt, dass es Parallelen gibt.«
»Das ist doch zwanzig Jahre her«, sagte Birgersson.
»Achtzehn«, korrigierte Winter.
»Sieh einer an, du hast ja alles unter Kontrolle. Dass nur Paula Ney nicht zu kurz kommt.«
»Beleidige mich nicht, Sture.«
»Nein, nein, entschuldige. Aber du verstehst, was ich meine.«
»Mhm.«
»Ein Verrückter hat vor achtzehn Jahren etwas mit Ellen Börge gemacht und jetzt wieder mit Paula Ney? Er hat fast eine Generation abgewartet? Das wäre mal was Neues. So was haben wir noch nie gehabt.«
»Es gibt immer ein erstes Mal für alles«, sagte Winter.
»Machst du Witze, Erik?«
»Aber nein«, sagte Winter.
»Dann finde den verdammten Idioten«, sagte Birgersson.
»Vielleicht ist er ja dort zu finden«, sagte Winter mit Blick auf den antiquierten Filofax auf Birgerssons Schreibtisch.
»Du hast ja alle Verrückten von vor achtzehn Jahren.«
»Du lässt offenbar nicht locker«, sagte Birgersson.
»Leihst du mir den mal?«, fragte Winter.
Kaum hatte Winter Birgerssons Büro verlassen, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, die Dienstbefreiung anzusprechen. Er kehrte auf halbem Weg um und ging zurück. Die Tür zu Birgerssons Zimmer stand noch halb offen, wie er sie zurückgelassen hatte. Er sah Birgersson am Fenster stehen, dem Zimmer den Rücken zugekehrt. Winter klopfte an die Tür und trat ein. Birgersson drehte sich hastig um, als hätte ihm jemand einen kräftigen Klaps auf den Rücken versetzt. Sein Gesicht war das eines anderen. Da war etwas, das Winter noch nie gesehen hatte. Es waren Tränen im Gesicht des älteren Mannes. Winter spürte, dass er ungebeten in Birgerssons Privatsphäre eingedrungen war.
»Was zum Teufel willst du denn schon wieder?«
»Entschuldige, Sture«, sagte Winter, »ich bin’s noch mal.«
»Komm rein zum Teufel, und mach die Tür hinter dir zu.«
Birgersson zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, putzte sich die Nase und zeigte mit der anderen Hand auf den Besucherstuhl am Schreibtisch. »Mist, ich hab offenbar Heuschnupfen im September«, sagte er und ließ sich schwer auf den Stuhl gegenüber fallen. »Mir tränen die Augen.«
Vielleicht macht er sich selbst was vor, dachte Winter. »Ist was passiert?«
»Passiert? Was denn?«
»Du hast den Schnupfen ein für alle Mal weggeraucht, Sture. Irgendwas ist doch. Du brauchst nicht darüber zu reden. Aber ich kann nicht so tun, als ob nichts wäre. Dafür bin ich zu alt. Und du bist auch zu alt dafür.«
»Du bist nicht alt, Erik, noch nicht.«
Winter antwortete nicht.
»Ich bin alt«, sagte Birgersson. »Dies ist der letzte Herbst. Was dann wird, weiß der Teufel. Daran musste ich denken, als ich an diesem verdammten Fenster stand. Als du reinkamst. Plötzlich kamen mir die Tränen. Geplant war das nicht.« Birgersson versuchte zu lächeln. »Das hat mit dem Alter zu tun. Wenn man alt wird, kann man seine Körperflüssigkeiten nicht mehr kontrollieren. Ich darf mich nie mehr allzu weit von einem Urinal entfernen. Oder einem Taschentuch, wie es scheint.«
»Hast du’s schon mal mit einem Katheter versucht?«, fragte Winter.
»Lass mich erst mal in Pension gehen.«
»Haben wir jemals über was anderes geredet als den Job?«
»Warum fragst du das?«
»Weil es wichtig ist.«
»Für wen?«
»Für uns beide, glaube ich.«
»Ich glaub nicht an so was.« Birgerssons Blick schweifte ab. Winter konnte immer noch Tränenspuren in seinen Augen sehen. Er wusste auch, dass Birgersson ein einsamer Mensch war. Er weigerte sich zu glauben, das ganze Leben seines Chefs spiele sich hier ab, hier in diesem geschlossenen Büro, aber manchmal wirkte es so. Birgersson sprach nie von dem anderen Leben. Niemand wusste, wie er lebte. Er lud nie jemanden ein. Vielleicht musste er jetzt einen Preis dafür zahlen, hier, am Fenster, in diesem letzten Herbst.
»Ich kenne einen hübschen Ort mit guter Beleuchtung«, sagte Winter. »Komm mit.«
»Was wollen wir dort machen? Zusammen weinen? Das geht nicht, jedenfalls nicht bei guter Beleuchtung.«
»Wir können ein bisschen reden.«
»Ich glaub nicht an so was, das hab ich doch gesagt.«
Ihre Zeit ist vorbei, dachte Winter. Die Zeit jener, die nicht »an so was« glaubten. Die Zeit der Männer, die schwiegen wie ein Grab. »Mach es wie ich«, sagte er.
»Was?«
»Nimm dir frei. Übergib an einen anderen.«
»Was redest du da? Soll ich ein halbes Jahr vor meiner Pensionierung um Dienstbefreiung bitten?« Birgersson lachte tatsächlich. »Und so ein Vorschlag kommt ausgerechnet von dir?! Kommissar Winter predigt Dienstbefreiung. Und das schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit.« Birgersson stand mit einem Ruck auf, als wäre er verletzlicher, wenn er saß, verletzlich durch Worte. »Außerdem ist hier noch niemals eine Dienstbefreiung bewilligt worden, soweit ich weiß.«
»Es sind noch drei Monate bis dahin«, sagte Winter.
»Was werden die anderen sagen? Das ist gegen alle ungeschriebenen Regeln.«
»Ich begnüge mich mit den geschriebenen, Sture.« Winter dachte an die anderen, an Ringmar, Halders, Bergenhem, Aneta Djanali, Möllerström, all die anderen Kollegen über und unter ihm. Sie würden mit gemischten Gefühlen reagieren.
»Außerdem hast du einen Fall, um den du dich kümmern musst. Wenn wir den nicht lösen, werden vielleicht alle vom Dienst befreit.«
»Wir lösen ihn«, sagte Winter.
»Innerhalb von knapp drei Monaten?«
Winter antwortete nicht.
Birgersson zeigte auf den Filofax. »Du hast eben selbst damit angefangen. Manchmal reichen noch nicht einmal achtzehn Jahre.«
»Wir wissen nicht, ob es ein Verbrechen war«, sagte Winter. »Ellen Börges Verschwinden. Das hast du doch eben auch gesagt.«
»Ich kenn dich nicht wieder, Erik. Ist diese Sache mit Spanien Angelas Idee?«
»Nein, meine.«
»Aber warum?«
»Ich dachte, darüber sollten wir uns unterhalten, an besagtem hübschen Ort.«
Fredrik Halders und Aneta Djanali schauten sich ein Video an. Sie sahen eine blonde Frau kommen und gehen, kommen und gehen.
»Eine schwarze Sonnenbrille ist eine fantastische Verkleidung«, sagte Halders.
»Und eine Perücke«, ergänzte Aneta Djanali.
»Ist das eine Perücke?«
»Ja.«
»Das kann ich nicht erkennen. Muss man Frau sein, um das erkennen zu können?«
»Ja.«
»Würdest du merken, wenn ich eine Perücke trüge? Wenn du mich nicht kennen würdest?«
»Ja.«
»Würdest du mich auch noch lieben, wenn ich eine Perücke trüge?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Keine Frau kann einen Mann lieben, der eine Perücke trägt.«
»Aber Frauen tragen Perücken?«
»Das ist was anderes.«
»Warum trägt sie eine Perücke?« Halders zeigte auf den Bildschirm. Die Frau ging gerade. »Ist das eine Verkleidung?«
»Für wen verkleidet sie sich?«
»Für uns natürlich. Sie will nicht erkannt werden. Perücke und Sonnenbrille.«
Aneta Djanali ließ das Band vor- und zurücklaufen. »Ich kapier nicht, warum sie den Koffer zur Aufbewahrung gebracht hat, wenn sie … wusste, was mit Paula passieren würde. Oder wenigstens wusste, dass Paula ihn nicht selber abholen würde.«
»Weiter«, sagte Halders.
»Warum ihn überhaupt einschließen? Wenn sie Mittäterin ist? Warum einen Koffer einschließen, den der Mittäter dann abholt? Und das mehr oder weniger öffentlich. In meinen Augen passt das nicht zusammen.«
»Eine Möglichkeit könnte sein, sie hat es für Paula getan. Hat ihr einen Gefallen getan.«
»Warum hat sie sich dann nicht bei uns gemeldet?«, fragte Aneta Djanali.
»Das Übliche«, sagte Halders. »Sie hat Angst.«
»Angst vor wem?«
»Vor allem.«
»Wird sie von jemandem bedroht?«
»Vielleicht.«
»Dem Mörder?«
»Vielleicht.«
»Aber dann muss es ja einen Kontakt zwischen ihr und dem Mörder geben.«
Halders antwortete nicht. Er konzentrierte sich wieder auf die Frau. Da war etwas mit ihrem Gang. Sie hinkte nicht, aber sie schien sich zu bemühen, es nicht zu tun. Ihr Gang war irgendwie merkwürdig. Das schien nichts mit der digitalen Wiedergabe, den ruckartigen Bewegungen zu tun zu haben. Hinken oder andere Behinderungen sollten zudem angeblich durch die digitale Bearbeitung stärker in Erscheinung treten.
»Ist sie der Mörder?«
Halders drehte sich zu Aneta Djanali um. »Was hast du gesagt?«
»Ist sie selber die Mörderin?«
Halders’ Blick kehrte zu der Person mit der blonden Perücke und der schwarzen Sonnenbrille zurück. Sie bewegte sich, als folge sie einem vorgezeichneten Pfad. Er zählte ihre Schritte. »Nein«, antwortete er, »sie hat niemanden ermordet.«
Aneta Djanali folgte seinem Blick. »Was ist dir aufgefallen, Fredrik?«
»Siehst du, wie sie geht? Geht sie nicht irgendwie komisch?«
Aneta Djanali bat ihn, die Sequenz noch einmal durchlaufen zu lassen. Die Frau ging vor und zurück.
»Doch«, sagte Aneta Djanali schließlich, »sie geht nicht wirklich normal.«
»Woher kommt das?«
»Mit ihren Füßen ist irgendwas.«
»Bist du sicher?« Halders schaute der Frau auf die Füße. Sie trug dunkle Stiefel, vermutlich aus Leder. Sie sahen nicht besonders bequem aus. »Zu enge Stiefel?«
»Vielleicht«, sagte Aneta Djanali.
»Was könnte es sonst sein?«
»Ein Problem mit den Füßen. Oder den Zehen.«
»Den Zehen?«
»Ich finde, sie geht wie jemand, der Probleme mit den Zehen hat.« Sie drehte sich zu Halders um. »Probleme mit den Zehen sorgen immer für Probleme beim Gehen.«
Halders nickte. »Ich hab gehört, dass Leute, denen der große Zeh fehlt, überhaupt nicht gehen können.«
»Sie kann gehen«, sagte Aneta Djanali mit Blick auf den Monitor, »aber es könnte was mit ihren Zehen sein.«
»Was meinst du, wie alt sie ist?«, fragte Halders.
»Was meinst du?«
Halders versuchte im Gesicht der Frau zu lesen, soweit er etwas davon sehen konnte, und das war nicht viel. Noch hatten sie keine Nahaufnahmen. Aber an ihren Bewegungen war etwas, das auf eine gewisse Reife deutete. Es war nicht nur ihr Gang. »Weit über dreißig«, sagte er.
»Vielleicht über vierzig.« Aneta Djanali nickte.