34
Halders strich sich über den Schädel. Der wirkte frisch rasiert und glänzte in der Deckenbeleuchtung wie poliert.
»Und was sagt Molina?«, fragte Halders.
»Er will wissen, ob es wirklich ein konkretes Verdachtsmoment gibt«, antwortete Winter.
»Und – gibt es eines?«
»Normalerweise kann ich immer eine Menge aus den Verhören herauslesen, aber Ney bleibt mir ein Rätsel.«
»Das hat vielleicht was zu bedeuten«, sagte Halders.
»Die DNA-Spuren seiner Frau an dem Seil müssten eigentlich für eine vorläufige Festnahme reichen«, sagte Bergenhem. Er hatte den Raum kurz nach den anderen betreten.
»Molina nimmt ihn nicht in U-Haft«, sagte Winter. »Wir brauchen mehr Indizien gegen ihn.«
»Was zum Beispiel?«
Winter antwortete nicht.
»Soweit wir wissen, ist Mario Ney nie in der Nähe dieses Stricks gewesen. Keines der Stricke«, sagte Ringmar.
»In der Nähe von was war er dann?«, fragte Aneta Djanali.
Winter drehte sich zu ihr um. »Was hast du gesagt?«
Sie wiederholte ihre Frage.
»Er war in der Nähe von Paulas Wohnung«, sagte Winter.
»Hat er immer noch einen Schlüssel?«, fragte Halders.
Ringmar nickte.
»Ist er in der Nähe des Hotel ›Revy‹ gewesen?«, fragte Halders.
»Hast du noch mal mit dem Portier gesprochen, Erik?«, fragte Ringmar.
»Nein. Ich hab ihn immer noch nicht erreicht.«
»Ist Ney bei dieser Wohnung in Hisingen gesehen worden?«, fragte Aneta Djanali.
»Ist die Befragung der Nachbarn abgeschlossen?«, fragte Halders.
»Nur einen einzigen haben wir noch nicht erwischt«, sagte Ringmar und wedelte mit dem Blatt, das auf seinem Schreibtisch gelegen hatte.
»Wen?«, fragte Halders.
»Einen gewissen Metzer. Anton Metzer.«
Der Himmel über dem Meer war rot und grau. Eine Farbmischung, die es nur im November gibt. Winter betrachtete den Horizont, die Ahnung, dass es dahinter weiterging, den blauen Dunst. Sehr bald würde er sehen, was sich dort verbarg, in einem Land weit im Süden. Im Augenblick war es ein unwirkliches Gefühl, als winkte ihm ein anderes Leben.
Halders fand einen Parkplatz vor der Haustür.
Die Absperrbänder flatterten im Wind, der um das Wäldchen tobte. Auf dem Hof war keine Menschenseele, kein Kind spielte auf dem Spielplatz. Der Wind blies so heftig, als lägen die Häuser direkt am Strand.
Winter drückte auf die Klingel. Der Ton verhallte. Winter drückte noch einmal.
»Er ist schon lange weg«, sagte Halders.
Mit zwei Fingern öffnete Winter die Klappe über dem Briefeinwurf. Er konnte nur einen Teil der Fußmatte sehen. Darauf lagen ein Stapel Zeitungen, weiße Umschläge, braune Umschläge.
Halders sah sie auch. »Der Kerl hat die Post nicht abbestellt, bevor er abgehauen ist«, sagte er.
»Vielleicht hatte er auch keine Gelegenheit dazu«, sagte Winter.
»Denkst du, was ich denke, dass du denkst?«, sagte Halders.
»Gab’s nicht eine Grundstücksverwaltung auf dem Hof?«, sagte Winter.
Der Grundstücksverwalter öffnete die Tür, ohne dass Winter den Staatsanwalt zu benachrichtigen brauchte. Der Fund im Wäldchen hatte die Menschen in der Umgebung erschüttert. Winter hatte Jonas Sandler noch nicht von dem Hundeskelett im Grab erzählt. Er wollte damit warten, auch wenn er nicht genau wusste, warum.
Der Grundstücksverwalter in seiner Uniform trat beiseite. Es war ein Mann in den Dreißigern mit einem unschuldigen Gesicht. Lassen wir ihm noch eine Weile seine Unschuld, dachte Winter, bedankte sich und wartete, bis der Mann widerwillig die Treppe hinunterging und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Halders starrte in das Dunkel der Wohnung. Irgendwo am Ende des Flurs schimmerte schwaches Licht. Sie waren beide schon hier gewesen, jeder für sich. Bei Halders war es länger her. Winter hatte Metzer erst viel später kennen gelernt, aber es hätte erst gestern sein können. Metzer hatte ein besonderes Merkmal. Als er Winter auf dem Sofa gegenübergesessen hatte, war Winter die Narbe in seinem Gesicht aufgefallen, sie reichte von einer Schläfe bis über die Wange hinunter, wie von einem Säbelhieb. Vielleicht ist Metzer deutscher Herkunft, war Winters erster Gedanke gewesen.
Ich hab mir Sorgen gemacht, hatte Metzer damals zu Winter gesagt. Deswegen hab ich die Polizei angerufen.
Aber diesmal hatte er nicht die Polizei gerufen.
Vorsichtig waren sie durch den Flur ins Wohnzimmer vorgedrungen, die Waffen schussbereit. Von dort kam das Licht. Schon draußen hatten sie den Geruch bemerkt. Er war nicht stark, aber wahrnehmbar.
Das Licht vom Hof fiel auf den Körper, der ausgestreckt auf dem Sofa lag. Sie konnten nirgendwo Blut entdecken. Unter anderen Umständen hätten sie geglaubt, er schliefe nur.
Winter hörte eine Uhr ticken. Jetzt würde hier niemand mehr die genaue Uhrzeit benötigen.
Metzer konnte im Schlaf gestorben sein. Oder an einer plötzlichen Krankheit.
Er konnte durch die Hand eines anderen gestorben sein.
Halders beugte sich über den Körper. Er hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.
»Kein schöner Anblick.« Seine Stimme klang dumpf.
»Erkennst du ihn?«, fragte Winter.
»Nein, aber es ist ja auch einige Jahre her, dass ich ihn gesehen habe.« Halders schaute auf.
»Es ist Metzer«, sagte Winter.
»Du warst ja erst kürzlich hier.«
»Die Narbe ist noch da«, sagte Winter.
»Meinst du die Spuren am Hals? Die wirken in meinen Augen eher verdächtig.«
»Nein, ich meine die Narbe.« Winter zeigte auf Metzers Narbe, die wie ein weißer Strich von der Schläfe zum Hals verlief. Im Tod war sie deutlicher zu sehen als im Leben.
»Er hatte keine Narbe«, sagte Halders. »Als ich hier war, hatte er keine.« Wieder betrachtete Halders den Körper, studierte das Gesicht von nahem, zuckte aber schnell zurück und sagte erstaunt: »Das da ist nicht Metzer.«
»Was?«
»Das ist nicht der Metzer, mit dem ich geredet habe.«
Es war ein anderer Gerichtsmediziner. Winter kannte ihn nicht. Er war älter als Pia Fröberg, viel älter. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Metzer, aber sein Gesicht hatte eine natürlichere Farbe. Er hieß Sverker Berlinger. Scheint ein alter pensionierter Kauz zu sein, der einspringen musste, dachte Winter.
Der Arzt hatte hörbar geseufzt, als er hereinkam und sein Blick auf die Leiche fiel, als wollte er sagen, dass er mit so was eigentlich seit langem abgeschlossen habe. Dann hatte er sich mit sicheren Händen an die Arbeit gemacht.
»Sieht aus wie Tod durch Erdrosseln«, sagte Berlinger und schüttelte leicht den Kopf.
»Wann?«, fragte Winter.
Berlinger zuckte mit den Schultern.
»Vor zwei Wochen?«, fragte Winter. »Drei?«
Berlinger schaute sich um, als suche er den Wecker, den nun niemand mehr brauchte. Winter folgte seinem Blick zu Torsten Öberg, der vor einer Kommode hockte.
»Es ist warm hier«, sagte Berlinger.
»Wann also?«, wiederholte Winter. »Letzte Woche?«
»Nein, wohl kaum.«
»Dann sind es ja schon zwei Wochen«, meinte Winter.
»So wird’s sein.« Berlinger beugte sich wieder über den Körper und musterte eingehend Anton Metzers Gesicht.
»Eine Mensurnarbe, sieh einer an.«
»Ach ja, so heißt das«, sagte Winter.
»Sie kennen den Begriff?«, fragte Berlinger und schaute auf.
»Ist mir vorhin nur nicht eingefallen. Aber ich weiß, was man darunter versteht.«
Berlinger sah wieder auf Metzers Gesicht. »Die da ist ein bisschen zu lang und etwas zu grob, als dass er darauf hätte stolz sein können«, sagte er.
»Sie scheinen sich fast selbst eine zu wünschen«, sagte Winter.
»Ich stamme leider nicht aus der richtigen Familie.« Berlinger lächelte schwach. »Mensur nennt man übrigens auch den genau bemessenen Abstand zwischen Duellanten.«
Winter konnte keinen deutschen Akzent heraushören. Er fragte nicht weiter nach Berlingers Abstammung. »Aber ihm könnte die Narbe auf eine andere Weise zugefügt worden sein?«
»Natürlich«, sagte Berlinger.
»Wie alt ist sie?«
»Älter als zwei Wochen jedenfalls«, sagte Berlinger.
Der Scherz lockerte die Atmosphäre im Raum merklich auf.
»Älter als fünfzig Jahre«, schätzte Berlinger.
»Kein Strick in der Wohnung«, stellte Öberg fest.
»Nein, ich hab auch keinen gesehen«, sagte Winter.
»Aber es könnte ein ähnlicher benutzt worden sein«, sagte Öberg.
»Könnte? Oder ist?«, fragte Halders.
»Könnte«, antwortete Öberg. »Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Falls es ein Nylonstrick war, ist es fast unmöglich zu beweisen, dass es ein Nylonstrick war, wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Und keine weiße Farbe«, ergänzte Winter.
»Jedenfalls nicht am Körper.«
»An Ellen Börges Leiche haben wir auch keine Farbe gefunden«, sagte Winter.
Er schaute aus dem Fenster, wie um den Abstand zwischen Wohnung und Wäldchen zu schätzen. Es war gerade eben noch zu sehen. Eine schwarze Wolke war von der Nordsee herbeigesegelt, und der Regen trommelte schon gegen die Scheiben.
»Ist er ermordet worden, weil er hier wohnt?«, fragte Halders.
»Ich weiß es nicht«, sagte Winter. »Ich weiß nicht einmal, ob es da überhaupt einen Zusammenhang gibt.«
»Wir wissen nur, dass wir es mit vier Morden zu tun haben«, sagte Halders. »Und für mein Verständnis hängen sie zusammen.«
»Der an Metzer auch?«
»Er ist ja nicht gerade ein Fremder.« Dann fügte Halders hinzu: »Nur für mich.«
»Du meinst also, du hast damals mit jemand anders geredet, nicht mit Metzer?«
»Wir haben ihn als Zeugen befragt«, sagte Halders. »Er hatte ja selbst Alarm geschlagen.«
Winter schwieg. Torsten Öberg war beim Sofa beschäftigt.
»Was ist da bloß für ein teuflischer Mechanismus in Gang gekommen?«, seufzte Halders.
Winter schwieg immer noch.
»Er war es doch, der damals angerufen hat, oder nicht?«, sagte Halders. »Wegen dieses angeblichen Krachs?«
»Vielleicht«, sagte Winter. »Aber als du geklingelt hast, hat nicht er die Tür geöffnet.«
»Wo zum Teufel war er dann?«
»Das ist hier die Frage, lieber Fredrik.«
»Okay, okay. Wer immer mir geöffnet hat, war vermutlich nicht Metzer, nur erschien es ihm offenbar einfacher, zu behaupten, er sei Metzer.«
»Mhm.«
»Bist du nicht meiner Meinung?«
»Doch.«
»Warum fand er es einfacher, Metzer zu sein?«
»Weil es problematisch war, ein anderer zu sein«, sagte Winter.
»Warum?«
»Vielleicht weil er wollte, dass niemand wusste, wer er eigentlich war«, antwortete Winter.
»Und wer war er dann?«
»Mario Ney«, schlug Winter vor.
»Ich weiß nicht recht, Erik. Es ist so viele Jahre her, und der Kerl, der mir geöffnet hat, trug einen Vollbart.« Halders breitete die Arme aus. »Das kostet mich noch meine Karriere oder was von ihr übrig ist. Ich kann einfach nicht sagen, ob es Ney war, der vor achtzehn Jahren in dieser verdammten Tür gestanden hat.« Er fuhr sich bedächtig über die Glatze. »Er könnte es gewesen sein. Ich weiß es nicht. Lass mir noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Vielleicht fällt mir wieder ein, über was wir geredet haben.«
Winter nickte. »Könnte es Börge gewesen sein?«, fragte er.
»Ich hab den Kerl ja nur ganz flüchtig gesehen«, sagte Halders. »Aber der scheint in der ganzen Geschichte eine Rolle zu spielen.«
»Ney hatte die Wohnung quer über den Hof gemietet.«
»Das hat er uns bestätigt.«
»Aber er hat uns nicht bestätigt, dass er hier in Metzers Wohnung war.«
»Dann ist es wohl an der Zeit, dass wir ihn auffordern, uns auch das zu bestätigen«, sagte Halders. »Übrigens, wie hat Molina entschieden?«
»Unter diesen Umständen konnte er eine Verwahrung nicht ablehnen. Aber zur Festnahme reicht es nicht.« Winter beobachtete Öberg und seine Kollegen, die in der Wohnung ihre Arbeit taten. »Wir brauchen einen konkreteren Beweis.«
»Oder ganz einfach ein Geständnis«, sagte Halders.
Winter schaute auf die Uhr. »Ich möchte, dass du an dem Verhör teilnimmst, Fredrik.«
»Ich bin da nie gewesen«, protestierte Ney. »Wo denn genau, haben Sie gesagt?«
»Die Wohnung liegt gegenüber auf der anderen Hofseite«, erklärte Winter.
»Nie dort gewesen.«
»Wie häufig waren Sie in Ihrer eigenen Wohnung?«
»Nie.«
»Sie haben sie gemietet.«
»Nicht für mich.«
Halders saß daneben und schwieg. Ob Ney ihm vor achtzehn Jahren begegnet war, wusste er nicht. Er könnte es sein, überlegte Halders. Oder auch nicht. Vielleicht erkenne ich ihn nicht wieder, weil er es nicht war.
»Wo haben Sie zu der Zeit gewohnt?«, fragte Winter.
»Zu Hause natürlich.«
»Wo war zu Hause?«
»In unserer Wohnung, in Tynnered.«
»Haben Sie allein gewohnt?«
»Natürlich mit Elisabeth und mit Paula.«
»Paula hat doch bei ihrer Mutter gewohnt?«
»Nur ganz kurz.«
»Wir haben nichts gefunden, das Ihre Vaterschaft beweist«, sagte Winter.
Ney schwieg.
»Sie sind nirgends registriert«, fuhr Winter fort.
»Paula ist mein«, sagte Ney.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Eben, dass sie mein ist.«
»Mit der Sie machen können, was Sie wollen?«
»Was?«
»Sie glauben, Sie können mit ihr machen, was Sie wollen?«
»Sie haben überhaupt nichts kapiert«, stöhnte Ney.
»Was haben wir nicht kapiert?«, fragte Winter.
»Sehen Sie es denn nicht?«
»Was sollen wir sehen?«
Ney antwortete nicht. Sein Blick verlor sich draußen am Himmel, in den Tiefen des Weltraums. Welchen Gedanken mochte er nachhängen? Was mochte er fühlen? Was für Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf? Was für Taten hatte er begangen?
Jetzt tauchte er wieder auf, richtete seinen Blick auf Winter.
»Ich will nach Hause«, sagte er.
Elsa kletterte auf ihm herum, als wäre er ein Baum mit einer großen Krone. Er hielt die Arme wie Zweige abgespreizt. Sie war auf dem Weg, seine rechte Schulter zu erklimmen.
»Pass auf, dass dir nicht schwindlig wird«, mahnte er.
»Mir wird nie schwindlig!«, rief sie allen dort unten auf der Erde zu.
»Wart’s ab«, sagte er und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er spürte, dass Lilly, die sich an sein rechtes Bein klammerte, das Gleichgewicht verlor. Sie schrie los wie am Spieß. Lilly wollte auch klettern.
»Was macht ihr da?!«, rief Angela aus dem Wohnzimmer.
»Hörst du nicht, dass Lilly schreit, Erik?«
»Ich hab bloß zwei Äste«, rief er zurück. Elsa kletterte jetzt hinüber zur anderen Schulter, es kratzte ihn am Hals. Lilly holte eine Sekunde lang Luft.
»Was?«, rief Angela.
»ICH HAB BLOSS ZWEI ÄSTE!«
Angela tauchte in der Tür auf. Lilly legte sofort wieder los. Sie war weithin zu hören. Winter hob das Bein, und sie klammerte sich fest.
»Ich fand dich ja schon immer etwas hölzern«, sagte Angela.
Winter versuchte auf einem Bein zu hüpfen. Elsa hing fest an seinem Hals. Lilly schrie wieder, aber diesmal vor Lachen. Er hüpfte noch einen Schritt weiter. Um seinen Hals schien ein Mühlstein zu hängen. Das rechte Knie blockierte ernsthaft. Die Schultern schmerzten. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Er senkte das Bein und versuchte, Lilly zu lösen. Er beugte sich vor, bis Elsa den Boden mit den Füßen erreichte. Seine Haltung war etwas merkwürdig. Elsa ließ nicht los.
»Pass auf deinen Rücken auf«, sagte Angela.
»Hilf mir!«, flehte er. »Bitte.«
Der Sturm war nach Süden weitergezogen. Geblieben war nur das Gefühl, ganz klein zu sein unter dem Himmel. So fühlte er sich immer nach großen Unwettern. Wenn die Stürme tobten, gingen die Menschen geduckt durch die Straßen.
»Wie geht es deinem Rücken?« Angela schaute ihn mit einem angedeuteten Lächeln an.
Er versuchte, sich zurückzulehnen, so wie er sich vorgebeugt hatte.
»Sei bloß vorsichtig.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte er.
»Du solltest anfangen, Sport zu treiben, Erik.«
»Ich bin Polizist«, antwortete er. »Training ist obligatorisch im Dienst.«
»Wann hast du denn zuletzt trainiert?«
»Ich trainiere.«
»Was ist denn das für eine Antwort?«, fragte sie.
»Möchtest du ein Glas Wein?«, entgegnete er.
Elsa war mitten in dem Märchen von der bösesten Hexe der Welt eingeschlafen. Während er vorlas, erfand Winter neue Details dazu. Es gelang ihm nie, die Hexe ausreichend böse zu beschreiben.
»Sie ist zu lieb!«, hatte Elsa gerufen. Es war nicht das erste Mal, dass sie die Hexe zu lieb fand.
»Die Hexe hat den Jungen doch aufgefressen«, hatte Winter protestiert.
»Sie hätte das Mädchen auch auffressen sollen!«
Winter streckte sich nach der Weinflasche. Angela saß ihm am Küchentisch gegenüber. Sie hatte Meereskrebse gratiniert.
Winter sog den Duft nach Kräutern, Knoblauch und Butter ein. »Elsa gibt sich nicht mit halben Mensuren zufrieden«, sagte er. »Diesmal wollte sie, dass die Hexe sämtliche Gefangenen auffrisst.« Er schenkte Wein ein. »Natürlich alles Kinder.«
»Vergiss nicht, dass du der Erzähler bist.« Angela reichte ihm eine Krebshälfte.
»Was bedeutet?«
»Es sind deine Geschichten.«
»Nee, nee, es sind ihre.« Er hob das Glas. »Zum Wohl.«
Sie hob ihr Glas, und sie tranken.
»Sie mag nicht, dass ich ihr was erzähle.« Angela stellte das Glas ab. »Sie findet, in meinen Geschichten ist niemand böse.«
»Sei froh, Angela.«
»Und was soll man von dir halten, Erik?«
»Ich möchte eben nett sein.« Er lächelte. »Ich mach eben, was sie will.«
»Schenk mir bitte noch ein Glas ein.«
»Es sind doch nur Geschichten, Angela.« Er goss ihr nach. Es war Freitag. Er zog die feuerfeste Form zu sich heran. »Es ist doch alles nur erfunden.«