24
Im Besprechungszimmer war es genauso hell wie in Paulas Wohnung. Die Novembersonne hing über dem Ullevi, als hätte sie sich in der Jahreszeit getäuscht. Niemand hatte die Jalousien heruntergelassen, und Halders trug eine Sonnenbrille.
Aneta Djanali nahm die Hand von den Augen, ging zum Fenster und ließ eine Jalousie herunter. Winter war am Fenster stehen geblieben. Er verfolgte am freundlichen Himmel ein Flugzeug auf dem Weg nach Süden. Die Menschen hatten immer noch genug Verstand abzuhauen, das Gehirn war ihnen nicht eingefroren im Schädel.
So würde es nicht bleiben. Die Sonne würde wieder zur Vernunft kommen und genau wie die Menschen weiterziehen nach Süden.
Ringmar räusperte sich diskret, und Winter drehte sich um.
»Du hast Redefreiheit«, sagte er.
»Ergebensten Dank«, sagte Halders.
Sogar Ringmar lächelte. Und Halders hatte Recht. Es war ein blöder Ausdruck. In diesem Teil der Welt hat die Freiheit der Rede sozusagen Tradition, dachte er. Weiter südlich ist das anders.
»Na, dann nutzt die Freiheit auch«, sagte Aneta Djanali und stieß Halders mit dem Ellenbogen an.
»Wir haben es offenbar mit jemandem zu tun, der von Hotels besessen ist«, sagte Halders.
»Eher darauf versessen, Leute in Hotels umzubringen«, sagte Bergenhem.
»Zimmer Nummer zehn«, sagte Aneta Djanali.
»Was?«
»Paula lag in Zimmer Nummer zehn«, wiederholte sie, an Halders gewandt, »und … Börge … Ellen Börge war auch in Zimmer Nummer zehn.«
Sie warf Winter, der sich immer noch nicht gesetzt hatte, einen Blick zu. Während der Besprechungen stand er oft am Fenster. Es war gut, etwas abseits zu stehen, die Wortfindung funktionierte besser, wenn sie ein bisschen weiter fliegen mussten, vielleicht auch die Gedanken. Das war schließlich der Sinn der Sache.
»Ja, ja, Ellen Börge«, sagte Halders. »Sie ist nach wie vor verschwunden, soweit ich weiß.«
»Geistert sie immer noch im Hintergrund dieser Ermittlung herum?«, fragte Bergenhem.
»War sie jemals Teil dieser Ermittlung?«, fragte Halders zurück. »Erik? Denkst du noch an sie?«
»Seit einer Weile nicht mehr«, sagte Winter.
»Es war ein Zufall«, sagte Halders.
Winter schwieg.
»Für uns ist sie jedenfalls weg«, sagte Halders.
»Das ist Elisabeth Ney auch«, gab Aneta Djanali zu bedenken.
»Und was bedeutet das?«, fragte Halders.
»Ich weiß es nicht. Aber in erster Linie sprechen wir hier über sie.«
»Du hast doch das Zimmer Nummer zehn ins Spiel gebracht«, sagte Halders.
»Und du das Hotel«, sagte Aneta Djanali.
»Wie ist er reingekommen?«, fragte Winter, und alle drehten sich zu ihm um. »Elisabeths Mörder. Er muss mehrmals durch das Hotel ›Odin‹ gegangen sein. Wie ist er hineingekommen, ohne dass ihn jemand bemerkt hat?«
»Vielleicht hat ihn ja jemand bemerkt«, sagte Bergenhem.
»Wir haben noch nicht alle verhört.«
»Verkleidet«, schlug Halders vor.
»Als was?«, fragte Bergenhem.
Halders zuckte mit den Schultern. »Was spielt das für eine Rolle.«
»Jemand war es jedenfalls«, sagte Aneta Djanali. »Das muss uns reichen.«
»Der Langmantel?«
»Passt auf alle Fälle besser in den Oktober«, sagte Ringmar, »verglichen mit August.«
»Jetzt ist es November«, sagte Aneta Djanali.
»Die Frage ist doch, wie er hineingekommen ist«, wiederholte Bergenhem.
»Sie ist in dem Raum ermordet worden«, sagte Ringmar.
»Das wissen wir mit Sicherheit.«
»Wie konnte er sich dort mit ihr verabreden?«, fragte Bergenhem. »Warum hat sie sich darauf eingelassen?«
»Vielleicht wollte sie da gar nicht hin«, sagte Ringmar.
»Vielleicht hat er sie getragen, sie dahin bugsiert.«
»Dann hatten sie ein Rendezvous im Treppenhaus?«
Halders warf einen Blick in die Runde. »Wenn das so ist, wird ja einiges klar.«
»Dein Sarkasmus ist wirklich sehr produktiv, Fredrik«, sagte Aneta Djanali.
»Rendezvous«, sagte Winter. »Weißt du eigentlich, was das Wort bedeutet, Fredrik?«
»Ja, wieso … Es bedeutet Treffen. Vereinbartes Treffen.«
»Ja«, sagte Winter. »Häufig unter Liebenden vereinbart.«
Einige Sekunden blieb es still um den Tisch.
»Sie ist ins Hotel gegangen, um ihren Liebhaber zu treffen?«, fragte Aneta Djanali.
»Das wäre ein Gedanke«, sagte Ringmar.
»Sie ist gut vierundzwanzig Stunden verschwunden gewesen«, sagte Halders. »Wo war sie die ganze Zeit? Wenn sie einen Liebhaber hatte, doch wohl bei ihm. Wir konnten sie nicht finden. Vermutlich hat sie sich nicht auf der Straße herumgetrieben. Sie muss woanders gewesen sein.«
»Vielleicht in dieser Kammer«, sagte Bergenhem.
»Ohne entdeckt zu werden?«, fragte Halders.
Bergenhem zuckte mit den Schultern.
»Nein«, sagte Ringmar. »Wir haben den Arbeitsablauf der Putzfrauen überprüft. Sie kommen und gehen recht häufig, mehrmals am Tag.«
»Falls sie nicht jemand gebeten hat, sich fern zu halten.«
Halders hob die Hand und rieb den Daumen an Zeige- und Mittelfinger. »Vielleicht wegen eines Stelldicheins.«
Winter nickte.
»Wir müssen uns sowieso noch mal mit den beiden unterhalten, die die Kammer benutzen. Das Treppenhaus ist ihr Territorium. Vielleicht können sie sich jetzt an mehr erinnern.«
»Apropos Territorium«, sagte Aneta Djanali. »Wir haben mit der Hotelfrage angefangen. Also: Warum im Hotel?«
»Genau«, sagte Halders.
Plötzlich schauten alle Winter an, als hätte er die Antwort parat.
Glaubt ihr, ich hab mir darüber nicht den Kopf zerbrochen, dachte er. Es muss ein Sinn dahinter stecken. »Es steckt ein Sinn dahinter«, sagte er.
»Dann brauchst du uns nur noch zu sagen, welcher«, warf Halders ein.
»Gebt mir noch ein paar Tage«, sagte Winter.
»Du hast einen Monat«, sagte Ringmar.
Winters Dienstbefreiung war kein Geheimnis mehr. Halders hatte allmählich angefangen, an der Leitung der Ermittlungen teilzuhaben. Damit würde er weitermachen, bis der Fall eine Sache für den Staatsanwalt wurde. Aber dafür mussten sie einen Tatverdächtigen haben. Winter wollte gern einen Tatverdächtigen präsentieren können, bevor er sich ins Flugzeug setzte. Er wollte nicht von Nueva Andalucía weiter übers Handy die Ermittlungen leiten.
»Hat jemand von all denen, die wir verhört haben, im Hotel gearbeitet?«, fragte Aneta Djanali. »Ich meine, nicht gerade in diesen Hotels, sondern ganz allgemein im Hotel.«
»Nicht, soweit wir wissen.«
»Vielleicht wissen wir nicht genug.«
»Die Freier und die Sozis im ›Revy‹«, sagte Halders, als wären beide Kategorien vom selben Schrot und Korn. »Haben wir die schon abgefrühstückt?«
»Natürlich nicht«, sagte Ringmar. »Du weißt doch, wie lange so was dauern kann.«
Halders sah aus, als wollte er etwas erwidern, vermutlich etwas Säuerliches, vermutlich über Politiker, aber er ließ es.
»Die Verbindung«, sagte Bergenhem. »Wir müssen die Verbindung suchen.«
»Hier liegt die Verbindung doch auf der Hand«, sagte Halders.
»Ja?«
»Familienbande. Wir haben es mit zwei Morden innerhalb einer Familie zu tun, falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte.«
»Und?«, fragte Bergenhem.
»Das Familienoberhaupt«, sagte Halders. »Wo fängt man an, nach dem Täter zu suchen?« Er wandte sich an Bergenhem. »Erinnerst du dich an die Lektion auf der Polizeihochschule? Oder warst du an dem Tag krank?«
Winter traf Mario Ney in demselben Zimmer, wo sie sich bereits mehrere Male getroffen hatten. Ney sah krank aus, dem Zerfall nahe.
Sie hatten versucht, sein Alibi zu rekonstruieren, aber es gab keins. Das musste nichts bedeuten, vielleicht sprach das sogar für ihn. In der letzten chaotischen Zeit hatte er keine Kontakte gepflegt. Er hatte die Einsamkeit gesucht, erst zusammen mit Elisabeth, dann allein in der Wohnung. Winter hatte im Gesicht des Mannes nach Antworten geforscht, in seinen Worten, seiner Art, sich zu bewegen. Sie hatten Trauer zum Ausdruck gebracht, Trauer und Verzweiflung. Andere Gefühle würden später kommen. Er konnte selbstmordgefährdet sein, war es vielleicht schon. Die Familie Ney konnte von der Erde verschwinden. Wollte jemand, dass es geschah?
»Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen«, sagte Winter.
Ney schaute aus dem Fenster. Das tat er, seit Winter den Raum betreten hatte, in dem es ungelüftet roch, ein süßlicher Geruch, der auch von Schweiß, Angst und Verzweiflung herrühren konnte.
»Sie sah aus, als würde sie schlafen«, sagte Ney. Sein Blick war leer. Jetzt drehte er den Kopf. »Meine kleine Elisabeth. Als würde sie schlafen.«
Winter hatte Ney erlaubt, seine Frau noch einmal zu sehen. Das war nicht selbstverständlich. Ihr Hals war vor Ney verborgen worden.
Winter wollte nicht, dass Ney etwas sah.
Für einen Moment hatte Ney fast friedvoll gewirkt. Als wäre er dem Tod begegnet und hätte ihn akzeptiert. Den Tod eines anderen, den gewaltsamen Tod eines anderen.
»Sie war mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden, bevor wir … sie fanden«, sagte Winter. »Ich muss Sie wieder fragen, Herr Ney.« Er beugte sich vor. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich während dieser Zeit aufgehalten haben könnte?«
»Ab-so-lut-kei-ne-Ah-nung.« Ney betonte jede einzelne Silbe. Es war wie eine neue Sprache. Dann suchte er Winters Blick. »Woher sollte ich das wissen?«
»Ich weiß es nicht, Herr Ney. Aber irgendwo muss sie gewesen sein. Irgendwo in einem Gebäude. Niemand hat sie gesehen.«
»Nur weil sie niemand gesehen hat, braucht sie sich doch nicht die ganze Zeit über irgendwo versteckt zu haben«, erwiderte Ney.
»Könnte sie irgendwo hingefahren sein?«, fragte Winter.
»Gefahren? Wohin hätte sie fahren sollen?« Ney sah sich suchend um. »Sie hat doch hier gewohnt. Das war ihr Zuhause.«
»Woher stammt sie?«, fragte Winter. »Wo war ihr Elternhaus?«
»Das war in … Halmstad.«
Halmstad. Eine Stadt weiter südlich an der Küste, auf halbem Weg nach Malmö, Kopenhagen. Winter hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Leute dort sprachen. Einige seiner Kollegen kamen aus Halland, doch bei Elisabeth Ney war ihm der Dialekt nicht aufgefallen.
»Sie ist hierher gezogen, da war sie noch sehr jung«, fuhr Ney fort.
»Kennen Sie ihre Eltern?«
»Ja. Aber die sind tot.«
»Hat sie Geschwister?«, fragte Winter.
»Nein.«
Wie Paula, dachte Winter. Keine Geschwister.
»Leben in Halmstad noch Verwandte von ihr?«
»Dort hat es nie welche gegeben. Die Eltern sind nach Halmstad gezogen, als Elisabeth noch klein war. Ich glaube nicht, dass sie damals dort jemanden kannten.«
»Sie hatten doch wohl Freunde?«
»Das glaub ich schon, aber ich kenne sie nicht.«
»Elisabeth wird sie gekannt haben.«
»Sie meinen, sie ist dort hingefahren, nach Halmstad? Und dann wieder hierher zurück? Warum?«
»Ich versuche nur herauszufinden, wo sie gewesen sein könnte«, sagte Winter.
»Ich weiß, wo sie ist«, sagte Ney.
»Bitte?«
Doch Ney antwortete nicht mehr. Er schaute wieder hinaus in den Hof.
»Was meinen Sie, Herr Ney?«
»Sie ist zu Hause«, sagte Ney, den Blick dem Himmel zugewandt.
Die Dämmerung fiel wie Regen. Winter meinte fast, sie zu hören, aber vielleicht war es auch nur der Feierabendverkehr auf der Umgehung. Alle wollten nach Hause.
Auf dem Heimweg kaufte Halders im Supermarkt an der Ecke Knäckebrot, Dickmilch, Äpfel und geräucherte Mettwurst. Er wusste, dass er etwas vergessen hatte. Auf der ganzen Fahrt fünf Häuserblöcke weiter fiel es ihm nicht ein, und dann war es zu spät.
»Wo sind die Eier?« Aneta Djanali hatte die Einkaufstüte ausgepackt und die Sachen auf die Anrichte gelegt.
»Ich wusste doch, dass was fehlt.«
»Ich hab Hannes und Magda Pfannkuchen zum Abendessen versprochen«, sagte Aneta Djanali. »Ohne Eier keine Pfannkuchen.«
»Hast du’s schon mal versucht?«
»So kommst du mir nicht davon.«
»Ich geh ja schon«, sagte er.
Es war schließlich nie zu spät. Innerhalb weniger Minuten ging die Dämmerung in den Abend über. Der Abend brach an, ehe der Tag vorbei war. Der Abend und die Nacht würden in einem Monat die Herrschaft ganz übernehmen. Überall würden Adventslichter und Weihnachtskerzen brennen, einen Monat zu früh. Magda hatte ihn schon nach seiner Wunschliste gefragt. Sie fing immer frühzeitig an. Hannes würde seine Wünsche erst eine Woche vor Weihnachten abliefern, und er selber würde den Kindern seine Wunschliste übergeben, bevor der November vorbei war. Er wusste, was er sich wünschte.
Das Gehen tat ihm gut. Halders trainierte bei der Arbeit, weil es zum Dienst gehörte, aber er war schon lange nicht mehr richtig bei der Sache. Er schleppte etwas mit sich herum, das manche Wohlstandsbauch nannten, und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Wenn dieser Winter endlich beschloss, zum Teufel zu gehen, würde er sich in die Trainingsklamotten stürzen, losziehen und den Asphalt platt treten. Vielleicht am Göteborgmarathon teilnehmen. Es der ganzen Welt zeigen.
Er trug den Eierkarton nach Hause wie den letzten Tropfen Wasser zu einem Verdurstenden.
Aneta Djanali briet die Pfannkuchen, als hätte sie jahrelang nichts anderes getan. Sie hatte noch nie Pfannkuchen gebacken, nicht zu Hause bei Halders. Er fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Ob sie beschlossen hatte zu bleiben, nicht nur heute Nacht. Noch war sie nicht bei ihm eingezogen. Das Haus war groß genug, es bot Platz für alle. Es war ein Zuhause.
»Ist noch mehr Blaubeermarmelade da?«, fragte Hannes.
»Beides, Blaubeeren und Erdbeeren.«
»Wo hast du das gelernt, solche Pfannkuchen zu backen?«, fragte Halders.
»Natürlich zu Hause.«
»Gab’s bei euch Pfannkuchen?«
»Warum nicht? Wir mochten Pfannkuchen sehr gern.«
»Deine Eltern sind doch aus Ouagadougou in Obervolta. Ich hätte nicht gedacht, dass Pfannkuchen ihr Ding wären«, sagte Halders.
»Ihr Ding?«, wiederholte Aneta Djanali mit der Bratpfanne in der Hand. »Ihr Ding?«
»Pfannkuchen gibt’s doch überall«, mischte sich Magda ein. »Wusstest du das nicht, Papa?«
»Ich hab mehr an Blaubeermarmelade gedacht.«
»Hast du nicht«, sagte Magda.
»Dann eben Erdbeermarmelade.«
Die Gardine bewegte sich kaum merklich. Das muss die Belüftung sein, dachte er. Die Lüftungsschlitze saßen oben links neben dem Fenster.
Das Zimmer Nummer 10 hatte sich nicht verändert, seitdem er das letzte Mal hier gestanden hatte. Und seit dem ersten Mal vor achtzehn Jahren. Jedenfalls hatte er das Gefühl. Die Zeit bewegte sich in beide Richtungen und schien sich auf halbem Wege selbst zu begegnen. Als würde er dort und gleichzeitig hier stehen. Auf halbem Wege, genauso weit von der Vergangenheit entfernt wie von der Gegenwart. Gleich schwer, in beide Richtungen zu sehen. Oder gleich leicht.
Vom Fenster aus blickte er auf die Straße hinunter. Es war nicht viel zu erkennen, die schwache Straßenbeleuchtung erinnerte eher an die fünfziger Jahre als an ein neues Jahrtausend. Wenn es in den Fünfzigern so gewesen war. Da war er noch nicht geboren. Er hatte 1960 das Licht der Welt erblickt, in den Sechzigern, die bis heute das beste Jahrzehnt gewesen waren, wenn man den Zeitzeugen Glauben schenkte. Auch Ellen Börge war in den Sechzigern geboren worden, ein Jahr später als er. Wie hatte sie wohl die Zeit erlebt? Winter drehte sich um. Das Zimmer lag größtenteils im Dunkeln, die einzige Lichtquelle waren die Straßenlaternen aus den Fünfzigern draußen.
Paula Ney hatte in dieser Dunkelheit gesessen, musste hier gesessen, gewartet haben. Gelauscht. Gelitten. Dieser Brief. Winter machte ein paar Schritte in die Dunkelheit, wie zur Probe, als wollte er sie herausfordern. Es war die gleiche Dunkelheit wie damals. Sie war Zeuge von allem, was geschehen war. Es musste noch mehr Briefe geben. Aus anderen Zeiten. Warum habe ich nicht mehr Briefe von Paula gelesen? Das Erste, was ich über sie erfahren habe, stand in einem Brief, den sie geschrieben hat. Hatte sie ihn geschrieben? Zu Hause? Nein. Nicht zu Hause und nicht bei ihren Eltern. Ihre Eltern haben nichts aufbewahrt. War das nicht merkwürdig? Hing das mit dem Schweigen zusammen? Mit einem Geheimnis? Was ist das Geheimnis dieser Familie? Wenn ich das herausfinde, weiß ich alles. Er hörte Stimmen auf dem Flur, vielleicht Huren, Freier, Sozis. Ein Frauenlachen, ein Männerlachen. Kein Kinderlachen. Dies war ein Ort für jene, die alles hinter sich gelassen hatten. Weg. Weg ist weg und kommt nie wieder. Und dies sind die letzten Tage des Hotels. Das Kind. Das Kind Paula. Warum denke ich an das Kind Paula? Sind es die Schaukeln? Die Spielplätze? Die Frau und das Mädchen in dem elenden Mietshaus auf Hisingen? Warum denke ich ausgerechnet in diesem Moment an sie? Wo ich über so viel anderes nachdenken muss. Über andere, die einmal Kinder waren. Die jetzt Kinder sind. Meine eigenen zum Beispiel. Am anderen Ende des Flurs knallte eine Tür. Das Leben ging weiter wie gewohnt, was auch immer geschah. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei, die roten Rücklichter leuchteten hinauf bis ins Zimmer Nummer 10. Plötzlich wirkte alles noch älter, wie in einem alten Film aus den fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger Jahren. Die achtziger Jahre. Was ich da für ein Grünschnabel war. Hab hier gestanden. Nur hier gestanden. Und an Ellen gedacht. Wo bist du, Ellen? Obwohl ich schon damals wusste, dass sie fort war, vermutlich tot. Möchte wissen, wie es ihrem Mann jetzt geht. Christer. Er geht zur Abendandacht in die Kirche. Auch er war in meinem Alter. Alle waren in meinem Alter. Paula war in dem Alter, in dem ich war, als ich noch grün war. Und Ellen vorher. Und Christer. Und Jonas. Und seine Mutter, damals, als der Junge noch ein Junge war. Draußen rasselte ein Lachen wie Schotter über den Fußboden, nicht wie Perlen. Sie hatten im Zimmer Nummer 10 nach Antworten gesucht, aber nur gefunden, was sie schon wussten. In diesem Zimmer waren keine Briefe mehr. Nur der eine. Er hatte ihn noch einmal gelesen, bevor er hierher gegangen war. Den Worten entströmte eine makabre Kraft, der man sich nicht entziehen konnte. In ihnen war eine Botschaft verborgen, die er nicht sah. Eine Antwort. Wie in diesem Zimmer.
Winter öffnete die Tür und trat hinaus in den Flur. Dort war es heller, ein bisschen. Die roten Tapeten dämpften das vorhandene Licht. Natürlich waren sie rot. Hier und da schimmerte etwas Gold. Alles war, wie es sein sollte im Hotel »Revy«.
Er ging die geschwungene Treppe hinunter. Auch sie schien aus einer anderen Epoche zu stammen, einer belle époque.
Genauso wie der Portier. Es war derselbe Portier wie damals.
»Dann ist das Zimmer also wieder freigegeben?«, fragte er.
Winter nickte.
»Das ist ein gutes Gefühl«, sagte der Mann. »Als würde hier wieder Normalität herrschen.«
»Normalität?«
»Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich bin nicht ganz sicher.« Winter wollte gehen. »Das Hotel macht doch sowieso bald zu.«
Ein Mann mit einem Koffer und einer Tasche für den Laptop kam durch die Schwingtür. Er schien direkt aus einem Zug gestiegen zu sein, vielleicht am nahe gelegenen Hauptbahnhof. Auf den Wangen des Mannes schienen rote Rosen zu blühen. Die Temperatur war nach Sonnenuntergang gefallen. Jetzt herrschte Winter. Der Mann trug einen Wintermantel. Winter trug einen Wintermantel. Der Mann meldete sich an, füllte ein Formular aus, stieg mit seinem Koffer die Treppe hinauf. Hier gab es keinen Piccolo.
»Ein normaler Gast«, sagte der Portier.
»Welcher Art?«
»Der will hier nur schlafen und arbeiten.«
»Welches Zimmer haben Sie ihm gegeben?«
»Nicht die Zehn, falls Sie das meinen.«
»Haben Sie die Liste?«
Der Portier reckte die Hand nach einem Blatt, das neben der Kasse lag. »Ich weiß nicht, ob sie vollständig ist.«
Schweigend nahm Winter das Papier entgegen und überflog es rasch. »Das sind ja mehr Namen, als ich dachte«, sagte er.
Draußen auf der Treppe klingelte sein Handy. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, als er es hervorholte. Offenbar war es glatt geworden, während er sich im Hotel aufgehalten hatte. Der Wind brachte Kälte mit sich.
»Es ist die gleiche Sorte Farbe«, sagte Torsten Öberg.
»Aber wir haben keine Dose«, sagte Winter.
»Die hat er.«
»Weiter hast du nichts im Zimmer gefunden?«
»Farbspuren?«
»Ja. Oder sonst was.«
»Es ist dieselbe Art Strick, wie du weißt. Mal sehen, was sie in Linköping herausfinden.«
»Ich bin nicht besonders optimistisch.«
»Jetzt weißt du jedenfalls das mit der Farbe.«
»Er muss die Dose mitgebracht haben.«
»Da kann man nicht sicher sein.«
»Ich verstehe, was du meinst, Torsten.«
»Aber wie das genau abgelaufen ist, kann ich auch nicht erklären. Das überlasse ich dir.«
»Besten Dank.«
»Aber es scheint irgendwie unerklärlich.«
Unerklärlich. Ja. Nein. Vielleicht war Elisabeth Ney mit einem weiß angemalten Finger durch die Stadt zu ihrem Rendezvous gegangen. Vielleicht gab es eine andere Erklärung. Es gab immer eine Erklärung, aber viele waren unbrauchbar. Vieles fand nie eine Erklärung. Das Unerklärlichste war fast immer eine Folge menschlichen Verhaltens.