35
Er konnte nicht schlafen, aber damit hatte er gerechnet. Trotzdem, der Versuch musste sein. Niemand kam lange ohne Schlaf aus. Doch diese Arbeit sorgte für Schlaflosigkeit, damit war er nicht allein. Körperliche Arbeit wäre gesünder, da konnte man erschöpft in den Schlaf fallen. Aber auch die war nicht ungefährlich. Bäume konnten einem auf den Kopf fallen. Baugerüste einstürzen. Traktoren umkippen.
Winter richtete sich auf. Angela schnarchte dezent, mehr um ihn auf die Probe zu stellen. Elsas Schnarchen hatte wundersamerweise aufgehört, als wollte es der Medizin einen Streich spielen. Eine Operation war nicht mehr nötig. Winter konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, der Chirurg der HNO-Station habe enttäuscht ausgesehen, aber das konnte reine Einbildung sein.
Er hatte die Enttäuschung in Mario Neys Augen gesehen, als Winter ihm erklären musste, dass er nicht nach Hause würde fahren können. Erklären? Er hatte es ihm nur gesagt.
Halders hatte den Kopf geschüttelt, als sie vor dem Verhörzimmer standen. »Wir wissen zu wenig über ihn.«
Winter hatte einen Blick auf die Uhr geworfen.
»Und du haust nächste Woche ab in die Sonne«, hatte Halders hinzugefügt, dem das nicht entgangen war.
»Das wollte ich nicht kontrollieren.«
»Was denn?«
»Ich wollte wissen, wie spät es ist.«
Halders hatte aufgelacht. Ein ungewohnter Klang zwischen den verklinkerten Wänden des Korridors, hier wurde selten gelacht.
Oben im Dezernat waren sie Ringmar begegnet. »Jonas ist vor einer halben Stunde gegangen.«
Winter hatte genickt.
»Seine Mutter sah nicht gerade glücklich aus darüber.«
»Und er selber?«
»Mehr wie ein Schuldiger«, hatte Ringmar gesagt.
»Wessen schuldig?«
Ringmar hatte mit den Schultern gezuckt.
»Ich fahr nach Hause«, hatte Winter gesagt.
Das Whiskyglas blitzte im Mondschein auf. Es war das einzige Licht im Zimmer, ein Mondstrahl, der weiter hereinreichte als die Straßenbeleuchtung vom Vasaplatsen. Es war eine klare Nacht. Beim Anblick der Sterne am Himmel fiel Winter unwillkürlich Mario Ney ein. Es war dieser Weltraum, nach dem Ney sich zu sehnen schien. Am Himmel waren mehr Sterne, als Winter je gesehen hatte. Der Himmel war von den südlichen Schären bis nach Angered übersät davon.
Er hob das Glas. Die Farbe war jetzt nicht zu erkennen, aber er wusste, es war Bernstein. Die Nacht war farblos, wenn man schwarz nicht als Farbe zählte. Und weiß. Winter beobachtete, wie der weiße Lichtschein die Dunkelheit im Zimmer durchschnitt. Weiß. Er musste an die weiße Hand denken. Was symbolisierte die weiße Farbe, für was stand sie: Die Farbe allein. Die Farbdose, die sie enthalten hatte. Er dachte an eine Wand, die weiß gestrichen worden war. Warum war Paula Neys Hand weiß gewesen? Es musste etwas bedeuten. Es war eine Botschaft. Weiße Farbe. Die Farbdose. Eine weiße Wand. Weiß gestrichen. Frisch gestrichen. Woher kam die Farbdose? Das wussten sie nicht. Hatten sie … die Maler gefragt? Die Maler in Paulas Wohnung. Die Wände dort. Halbfertig. Fast fertig. Unfertig. Was gibt es hier, was wir nicht sehen?, hatte Halders gesagt. Auch Winter hatte dieses Gefühl gehabt. Denk jetzt nach. Denk nach.
Eine weiße und halbfertige Wohnung.
Denk nach!
Eine abgerissene und neu errichtete Wand war nichts Besonderes.
Aber.
Eine Botschaft.
Die Wand ist eine Botschaft.
Hinter der Wand. Der weißen Wand.
Ein paar nachlässige Pinselstriche darüber.
Und fertig.
Weiß.
Er stellte das Glas auf den Tisch. Er hatte es die ganze Zeit in der Hand gehalten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Erst als seine Hand zu zittern begann, fiel es ihm auf. Er hatte immer noch keinen Schluck von dem Whisky getrunken.
Er stand auf, ging ins Schlafzimmer und nahm seine Kleidung vom Stuhl.
»Was ist, Erik?« Angela bewegte sich im Bett. Das Mondlicht fiel auch ins Schlafzimmer, und das Bettzeug leuchtete weiß. Hier drinnen sah es aus wie auf einem Gemälde.
»Ich muss was überprüfen«, sagte er.
»Jetzt?« Sie richtete sich auf. »Wie spät ist es?«
»Ich bin bald zurück.«
Sie hatte gepackt, dann wieder ausgepackt.
Wovor habe ich Angst?
Der Koffer lag auf dem Fußboden, der geöffnete Deckel erinnerte an eine ausgestreckte Zunge. Er war innen rot gefüttert. Das Futter hatte sich wie Samt angefühlt.
Sie konnte sich nicht erinnern, was sie eingepackt hatte. Stück für Stück hatte sie Kleidung aus der Kommodenschublade genommen, ohne hinzusehen, was sie griff, als wüsste sie nicht, wohin es ging.
Sie hatte eine Freundin angerufen, die um Mitternacht zu Hause sein würde. Ich könnte etwas eher da sein, wenn du willst. Gegen zwölf ist nicht mehr viel los. Nein, nein, hatte sie abgewehrt.
Das Telefon klingelte wieder.
Gellte wie ein Schrei.
Das war schon lange nicht mehr vorgekommen, jedenfalls hatte sie das Gefühl, es wäre lange her. Es hatte nicht mehr geklingelt, seit sie mit dem großen Polizisten gesprochen hatte, dem Glatzkopf. Hinterher war sie sich blöd vorgekommen. Aber das Telefon hatte aufgehört zu klingeln, als ob der Anrufer wüsste, dass sie es der Polizei erzählt hatte. Irgendwie unheimlich.
Sie beschloss dranzugehen.
»Hallo?«
»Ich bin tatsächlich ein bisschen früher nach Hause gekommen.«
»Ja …«
»Bist du schon auf dem Weg?«
»Ich … weiß nicht.«
»Was ist mit dir los? Natürlich kommst du zu mir.«
»Wie spät ist es?«
»Das ist doch egal. Jetzt machst du den Koffer zu und kommst her.«
»Woher … weißt du, dass er noch offen ist?«
»Deine Stimme klingt, als hättest du wirklich Schiss.«
Sie antwortete nicht.
»Bestell dir einfach ein Taxi.«
»Das ist zu teuer.«
»Du willst doch wohl nicht in die Straßenbahn steigen?«
»Ich hab … noch nicht darüber nachgedacht.«
»Wenn ich ein Auto hätte, würde ich dich abholen.«
»Du hast ja gar keinen Führerschein.«
Sie hörte die Freundin lachen. Das tat ihr gut. Vielleicht musste sie wirklich weg von hier. Es wäre schön, mit jemandem zu sprechen. Vielleicht würde ihr klar, ob sie sich alles nur einbildete.
»Ich komme«, sagte sie.
Zehn Minuten später merkte sie, dass es schwer werden würde, ein Taxi zu bekommen. Die Leitungen waren immer besetzt. Das war sonderbar. Ich sollte ein anderes Unternehmen als Taxi Göteborg anrufen, aber ich will nicht. Ich trau mich nicht. Bestimmt ist es dumm von mir, aber es ist das einzige Unternehmen, dem ich vertraue.
Sie sah auf die Uhr. Den Fahrplan der Straßenbahn kannte sie auswendig. Ihr blieben noch zehn Minuten, dann fuhr die letzte Bahn in die Stadt.
Ihr Entschluss stand fest. Der Koffer war gepackt.
Im Treppenhaus roch es feucht nach Herbst.
Draußen fühlte es sich nach Regen an, es regnete aber nicht. Die Luftfeuchtigkeit schien hundert Prozent zu betragen.
Sie ging schnell, vom Fußweg aus konnte sie die Haltestelle schon sehen. Plötzlich hörte sie das Geratter der Straßenbahn auf der anderen Seite des Hügels. Das bedeutete, dass sie es vielleicht nicht schaffen würde. Sie begann zu laufen.
Fast hätte sie die Balance verloren, als vor ihr ein Schatten auf den Asphalt fiel.
Winters Gedanken bewegten sich schneller als der Fahrstuhl auf dem Weg hinunter in die Garage.
Warum hat Jonas ausgerechnet dort in der Erde gegraben? Ausgerechnet da? Er grub nach Paula. War sie ein Symbol? Ein Symbol für die verlorene Kindheit? Die Liebe? Oder glaubte er wirklich, Paula liege dort unten? Wusste er, dass sein Hund dort lag? Nein. Ja. Nein. Hatte er Börge da draußen beobachtet? Ihn im Wäldchen seiner Kindheit graben sehen?
Winter drückte auf die Fernbedienung, und sein Auto blinzelte ihm zu.
Er tippte Anne Sandlers Nummer.
Sie meldete sich nach dem dritten Klingeln. Er nannte seinen Namen und fragte nach Jonas.
»Ich weiß nicht, wo er im Augenblick ist«, sagte sie.
Ihre Stimme klang fern, gedämpft, nicht nur, weil er aus der Unterwelt anrief.
»Ich wollte Sie auch schon anrufen«, sagte sie.
»Ach?«
Er öffnete die Autotür. Drinnen wurde es hell. Er roch den vertrauten Duft nach Leder, der nie verflog, Geborgenheit vermittelte.
»Ich meine, ich hab hier draußen ein Gesicht von früher erkannt«, sagte sie. »Erst kürzlich.«
»Wen?«
»Ich weiß es nicht. Dieses Gesicht … Der muss damals hier gewohnt haben. Als Jonas klein war. Was heißt, hier gewohnt, es war jemand, den ich einige Male hier gesehen habe.«
»Daran erinnern Sie sich nach so langer Zeit?«
»Ja … Ist das nicht seltsam?«
Winter meinte ihr Gesicht vor seinem inneren Auge zu sehen. Ihre Verwirrung.
»Vielleicht täusche ich mich auch.«
»Warum wollten Sie mir das erzählen?«
»Ich weiß es nicht … Ich habe es Jonas erzählt. Dass ich ihn wiedergesehen habe, diesen Mann. Kürzlich. Ich … weiß nicht, warum ich es getan habe.«
Manchmal verrät uns das Unterbewusstsein nicht, warum wir etwas erzählen, dachte Winter. Nicht sofort. Manchmal kommt es erst später heraus. »Und was hat Jonas gesagt?«
»Er hat nichts gesagt …«
Winter wartete auf die Fortsetzung.
»… aber ich hab gemerkt, dass es ihm wichtig war.«
»Wichtig? Inwiefern wichtig?«
»Ich weiß es nicht. Es schien … wichtig, bedeutungsvoll. Ich hab versucht, ihn zu fragen, aber er sagte nichts. Jedenfalls ist er irgendwie darauf angesprungen.«
Winter schwieg.
»Und kurz darauf … haben Sie ihn ja im Wäldchen gefunden.«
Winter fuhr in Richtung Süden, die Aschebergsgatan hinauf, am Vasa-Krankenhaus vorbei, wo er einen Sommer lang in der Pflegeabteilung gearbeitet hatte, als er noch glaubte, selbst nie alt zu werden.
Er fuhr am Chalmers vorbei, bog nach links in den Kreisverkehr am Wavrinskys Plats ein, fuhr an der Guldhedenschule vorbei, bog nach rechts in den Kreisverkehr am Doktor Fries Torg ein und überquerte die Straßenbahngeleise, um in eine Stra…
Die Frau kam aus dem Fußweg gestürzt, der durch ein Wäldchen führte.
Ihre Haare flatterten im Wind.
Sie rannte, fuchtelte wild mit den Armen.
Vielleicht hatte sie ihn gesehen, vielleicht auch nicht.
Winter hatte mitten auf den Gleisen gebremst. Plötzlich hörte er Geratter und sah, dass der Hügel linker Hand von einem grellen Licht angestrahlt wurde. Es waren die Scheinwerfer einer Straßenbahn, die den Hügel heraufkam, direkt auf ihn zu. Das Licht fing die Frau ein, die immer noch lief, auf ihn zulief. Winter sah die Haltestelle, und er dachte, verflucht, die Bahn muss doch halten! Da ist eine Haltestelle! Aber die Straßenbahn ratterte weiter. An der Haltestelle wartete niemand. Niemand wollte dort aussteigen. Winter hörte das durchdringende Schrillen der Straßenbahn, das Geratter, die Warnsignale.
Die Frau war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Er riss das Steuer nach rechts, ließ die Kupplung kommen, drückte das Gaspedal herunter, und der Mercedes hob ab vom Gleis wie ein Jagdbomber von einem Flugzeugträger.