27

Als sie aussteigen wollte, merkte sie, dass etwas nicht in Ordnung war: Der Sicherheitsgurt hatte sich an der Seite verhakt und sie blieb hängen. Als sie sich bückte, um den Gurt zu lösen, ergoss sich ein Schwall Regen vom Autodach auf ihren Kopf.

Das war ein feiner Start in den späten Nachmittag. Aber der Spaziergang vom Mariaplan zur Högsbogatan würde ihr gut tun. Kein Auto: Sie wollte unauffällig daherkommen. Die Regenkleidung war dicht, ließ aber Luft durch; in dem alten Gummizeug war es schlimmer gewesen. Nach einer Viertelstunde war einem der Schweiß in die Augen getropft. Geldautomaten waren ausgeraubt worden, während zwei Meter daneben ein Polizist stand und sich die Augen rieb.

Kajsa Lagergren hatte so eine Ahnung wegen der Pizzeria in der Högsbogatan; die Ahnung war so stark, dass sie sich fast darüber wunderte, dass die Pizzeria nicht schon eher von den Schwarzmasken heimgesucht worden war. Sie lag mitten im Bild: Sie könnte das Hakenkreuz vollenden.

Das Einzige, was sie hatten, war die vage Registrierung eines Autos, das nach einem unvollendeten Überfall in der südöstlichen Ecke des Kreuzes davongebraust war. Aber die Polizei war zu spät gekommen, wie immer in diesem Herbst. Kein Autokennzeichen, nur eine blaugraue Rauchwolke in der Nacht und eine Silhouette, deren Merkmale auf hundert Automarken zutreffen konnten, jetzt, wo auch die Autos ihre Persönlichkeit verloren. Das Design in der Autoindustrie erschwerte die Arbeit der Polizei. Hätten die das nicht berücksichtigen können, dachte sie ärgerlich und ging die Oxhagsgatan in westlicher Richtung entlang. Die Villen hier könnten ebenso gut in einer Kleinstadt stehen wie in der gefährlichen Großstadt, dachte sie. Keine Bewegung auf der Straße und nur ein schwaches Zischen des spärlichen Verkehrs parallel zur Kungsladugårdsgatan.

Kajsa Lagergren bog nach rechts in die Högsbogatan ein und näherte sich dem barackenähnlichen Restaurant. Sie sah, dass die Tür geschlossen war, und das sah sie zum ersten Mal. Der Herbst und der frühe Winter an der Westküste hatten nun also auch den Besitzer des Restaurants bezwungen.

Bei offener Tür konnte man ins Lokal hineinschauen, sonst war das im Herbst kaum möglich: Beschlagene Fenster und die Wärme von den Backöfen taten das Ihre. Sie hatte beschlossen, ein spätes Mahl einzunehmen. Falls etwas passierte, konnte sie sich schlimmstenfalls auf den Fußboden gleiten lassen; es war nicht gut, allein zu sein. Aber dort drinnen würde sie wohl sicher sein. Bis jetzt hatten die Neonazis nie zugeschlagen, wenn sich Kunden oder Gäste in dem Laden oder Restaurant aufhielten, das sie sich ausgesucht hatten. Die Schwarzmasken sind offenbar nicht hinter den unschuldigen weißen Schweden her, dachte sie und nahm den Duft von Kräutern und Tomaten wahr.

Sie legte die Hand auf die Türklinke. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, aber nicht von ihr, sondern von innen, und sie sah eine schwarze Maske vor sich und hörte ein »Was zum Teu…«, und etwas Hartes traf sie an der Seite am Hals und noch einmal an der Stirn; sie hörte rennende Schritte, die sich entfernten, und dann merkte sie nichts mehr.

 

Er hatte sie gesehen. Zuerst wollte er hineingehen, aber dann hatte er diese drei Männer bemerkt, die sich Masken über die Gesichter zogen, als sie durch die Tür gingen und sie hinter sich schlossen. Ihn hatten sie nicht gesehen. Er war den Hügel schräg von den Häusern heruntergekommen und hatte eine Sicht, die sie nicht hatten.

Er war stehen geblieben, weil er nicht wusste, was er machen sollte. Es war unangenehm in der Kälte. Er hatte keinen Mantel für den kurzen Weg angezogen; weit wollte er ja nicht gehen, aber hier zu stehen war nicht gut, sein Rücken wurde nass und er fröstelte.

Jetzt sah er sie. Sie kam von der anderen Seite und war auf dem Weg zum Restaurant. Er hatte Recht gehabt, hier war etwas im Gang; sie waren hinter etwas her, und das konnte er sein, aber warum die schwarzen Masken? Hatten sie einen Plan? Dann hätten sie doch nur abwarten müssen, dass er das Lokal betrat, aber er war ja schließlich kein Idiot, oder?

Jetzt ging sie auf die Tür zu, jetzt öffn… Was pass… Sie bekam einen Schlag und noch einen, sie fiel um. Das waren die drei, die rannten nach links und er sah das Auto verschwinden.

Wie klein sie aussah. Sie war es, und er spähte durch die offene Tür, konnte aber nichts hören und schaute sie wieder an.

Er begriff, dass sie in etwas hineingeraten war, was so nicht geplant war. Sonst wäre es zu offensichtlich gewesen: Ihn konnten sie nicht anlocken, indem sie dieses Theater inszenierten.

Er begriff. Sie war genau wie das letzte Mal hier gewesen, auf der Jagd nach ihm, und jetzt war sie in das da geraten. Die Typen waren gewöhnliche Gangster, aber sie war etwas anderes. Er sah sich um, bückte sich, zog ihre Handtasche zu sich heran und öffnete sie, fand ihre Brieftasche, konnte aber keinen Ausweis entdecken.

Sie war eine von denen, und wenn sie aufwachte, würde sie immer noch hier sein und würde irgendwann wiederkommen. Es würde nie ein Ende nehmen. Das Einzige, was er wollte, war, dass es ein Ende nahm, oder, oder?

Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, zwischen den Ohren hatte er ein Gefühl wie von einer Ramme. Er schaute sich wieder um. Alles war dunkel und von oben fiel immer mehr Wasser; er sah die Lichter der Häuser auf dem Hügel, wo er zu Hause war. Er hörte ein Geräusch von drinnen, und ohne sich der Bewegung eigentlich richtig bewusst zu sein, hob er sie auf. Sie wog fast nichts, er blieb bei dem Fallrohr stehen, dann lief er mit seiner Last los. An der Giebelseite des Hauses zögerte er, umrundete sie und ging rasch hinein, in den Fahrstuhl, obwohl es ihm unangenehm war, mit dem Fahrstuhl zu fahren. Aber ihm war klar, dass es in diesem Augenblick nötig war. Er fuhr bis zum obersten Stock hinauf und stieg aus. Es war ganz still. Während er seine Tür öffnete, legte er sie sich über die Schulter. Drinnen schlug ihm die vertraute trockene Kühle entgegen. Er legte sie auf den Boden im Flur und schaute mit aufgerissenen Augen auf sie nieder. Erst jetzt wurde er ein wenig ruhiger. Sie war hier, aber er könnte nicht richtig erklären, wie sie hierher gekommen war, falls ihn jemand fragen würde. Doch es würde ihn niemand fragen, nur sie, und er würde antworten, wenn ihm danach zumute war.

 

Sie träumte, sie läge in einem Eisloch und fröre ganz entsetzlich. Dann träumte sie nichts mehr. Sie wurde wach, aber es war wie ein bewusstloses Wachsein, sie war nur ein wenig weggetreten. Es war ein hämmernder Schmerz über den Augen, der ihre Gedanken in Bewegung setzte. Als Nächstes merkte sie, dass es kalt war; der Traum hatte sie noch nicht losgelassen. Es war kalt und es gab kein Entrinnen vor der Kälte.

Dann erinnerte sie sich, dass sie vor einer geschlossenen Tür gestanden hatte. Und plötzlich war sie mitten in dem, was sie sich so oft ausgemalt hatte. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Sie hatte einen Schlag bekommen. Sie erinnerte sich an die schwarze Maske. Die hatte etwas gesagt, ganz kurz.

Kajsa Lagergren hatte die Augen noch nicht geöffnet, sie wollte es nicht. Mit geschlossenen Augen fühlte sie sich sicherer, aber bald musste sie sie öffnen, musste jemanden bitten, das Fenster zu schließen.

Sie konzentrierte sich, das viele Training war ihr jetzt von Nutzen: psychisch, physisch. Die Gedanken kamen in Gang, widerwillig, aber sie kamen in Gang. Ihr wurde klar, dass sie im Krankenhaus war. Jetzt öffne ich die Augen und bitte sie, das verdammte Fenster zu schließen, dachte sie.

Das ist kein Krankenhaus, dachte sie ein Weilchen später. Die Decke über ihr könnte eine Decke in einem Krankenhaus sein. Nein, es ist doch ein Krankenhaus, dachte sie. Vielleicht die Intensivstation? Als sie den Kopf vorsichtig nach links zu drehen versuchte, musste sie ihn sofort in die alte Lage bringen, weil es so wehtat; sie versuchte es noch einmal und es schmerzte noch mehr. Sie sah nur eine kahle Wand, dasselbe auf der rechten Seite.

Sie hatte keine Kraft, den Kopf zu heben, um nach vorn zu schauen. Schräg oben, hinter ihr, sah sie den Teil eines Fensters, das ein Stück offen stand. Keine Vorhänge, aber Jalousien, durch die spärliches Licht von einer Straßenlaterne sickerte. Irgendwo im Raum brannte ein anderes Licht. Es war Abend oder Nacht oder Morgen oder Nachmittag. In dieser Jahreszeit kann man das nicht genau wissen, dachte sie, nicht ohne Uhr.

Sie lag auf dem Fußboden. Sie fühlte die Härte in ihrem Rücken. Sie lag auf einer Decke oder zweien, nahm einen süßsäuerlichen Geruch wahr, spürte den Teppich durch die dünne, raue Weichheit. Sie bewegte ihre Finger und Zehen wie in einem Reflex, dann Hände und Füße, und weiter kam sie nicht. Sie versuchte die rechte Hand zu heben, aber das ging nicht. Auch der linke Fuß ließ sich nicht bewegen. Sie probierte es mit einer kreuzweisen Bewegung in die andere Richtung, linke Hand-rechter Fuß, aber sie schaffte es nicht. Himmel, ich bin gelähmt, dachte sie. Lieber Gott, mit den Rückenwirbeln ist etwas passiert, deswegen haben sie mich so hart gebettet. Lieber Gott, lass mich wieder gehen können, ich will auch nie mehr beim Göteborg-Lauf oder überhaupt jammern, dachte sie, und dann verlor sie erneut das Bewusstsein. Nicht lange, dann war sie wieder da, und ein heißer Schreck durchfuhr sie, als das Wissen um ihre Lähmung zurückkehrte.

Kajsa Lagergren versuchte den Kopf nach links zu drehen, diesmal gelang es besser. Das Hämmern in den Schläfen und über den Augen hatte etwas nachgelassen. Sie drehte den Kopf, so weit es ging, und spähte nach schräg links unten, ohne dass die Pupille im Schädel verschwand. Es reichte, um einen kräftigen Ring aus Eisen oder ähnlichem Material, der im Fußboden verankert war, zu erkennen. Ihre Hand war mit einem dünnen, starken Seil daran festgebunden. Sie drehte den Kopf nach rechts und sah auf der anderen Seite das Gleiche. Sie versuchte die Füße zu heben und begriff nun, dass der Widerstand, den sie in den Schenkeln und im Gesäß empfand, daher rührte, dass sie die Füße im Grunde heben konnte, etwas sie jedoch daran hinderte. Sie war nicht gelähmt und das Wissen überschwemmte sie mit Freude. Das war die erste Reaktion. Die zweite war eine andere. Die Freude erlosch, als sie einen schwachen Schatten im Raum wahrnahm. Jemand verursachte ein Geräusch, das laut kratzte, da es durch den Fußboden direkt in ihr Ohr zehn Zentimeter über der Oberfläche geleitet wurde.

 

Wide hatte einen Bericht bei einem Auftraggeber abgeliefert und fühlte sich wie der Bote des Teufels. Er wollte nicht gern persönlich berichten, dann schon lieber per Brief, Fax oder E-Mail. Aber es gab Leute, die trauten dem geschriebenen Wort nicht, und diesmal war er an so jemanden geraten.

Für einen, der interessiert und wach war, gab es viel in den Augen zu lesen. Bei dieser Frau blitzte bevorstehende Einsamkeit auf wie eine Leuchtgranate in der Nacht, soweit Wide sehen konnte. Aber er war nicht daran interessiert, weiter zu sehen als bis hierher, und entzog sich, bevor die Situation richtig unangenehm und erniedrigend werden konnte.

Einmal hatte ein Mann versucht, seinen Hund auf ihn zu hetzen, einen Golden Retriever, der zum Glück mehr Verstand hatte als sein Herrchen. Ein anderes Mal hatte eine Frau das Fenster geöffnet und Anstalten gemacht, aufs Fensterbrett zu klettern, jedoch mitten in der Bewegung innegehalten, als Wide sich nicht rührte. Wieder ein anderes Mal: Die Frau hatte an ihren Haaren und ihrer Kleidung gezerrt und angefangen, ihren Rock aufzurollen wie eine zweite Haut, und gezischt: »Fick mich, Fick mich jetzt, du Scheißkerl« – Ersatz-Rache und Revanche. Und Wide hatte die Szene rasch verlassen und die Verzweiflung konstatiert, als der Rock hinter ihm wieder heruntergezogen wurde.

Zur Hölle mit dieser Branche. Wie oft würde er das noch sagen müssen, bevor auch er in einem Käfig im Zoo landete? Für eine Weile tat Fluchen gut und wärmte, aber dann wurde es kalt und unbehaglich. Ungefähr, wie wenn man sich in die Hosen pinkelt, dachte er, während er vor der Rinne stand und darauf wartete, dass der Mann neben ihm weggehen würde, damit er sich in Ruhe entleeren konnte. Beim Pinkeln gedrängt an der Rinne zu stehen wie auf einer Tribüne – das mochte er nicht, und er vermutete, dass er mit diesem Gefühl nicht allein war. Pissrinnen. Zur Hölle mit ihnen.

Es war nicht das Bier, da er keins getrunken hatte. Peter Sjögren trank Bier, aber Wide hatte sich für Wasser entschieden, und er hoffte, die Entscheidung den ganzen Abend durchzuhalten.

»Du bist also in die alte Heimat zurückgekehrt«, sagte Sjögren, als Wide zurückkam und sich ihm gegenüber an den Ecktisch setzte.

»Ja. Teilweise war das eine Reise in die Vergangenheit.«

»Teilweise?«

»Ich hatte geglaubt, es würde mich mehr … berühren, nicht nostalgisch oder so, aber stärkere Gefühle hervorrufen für das, was gewesen ist.«

»Du hast nicht lange genug in the old country gewohnt.«

»So wird’s wohl sein.«

»Guck mich an. Bei mir kann man von starken Banden sprechen.«

Wide sah Peter Sjögren an. Er fragte sich, ob der Mann nach seinem Wegzug auch nur ein einziges Mal wieder dort gewesen war. Göteborg war sein Zuhause, aber Wide bezweifelte, dass Sjögren es auch so empfand. Peter Sjögren schien nirgends zu Hause zu sein, höchstens vorübergehend in der Kneipe, und Wide spürte plötzlich Trauer, als er den Freund aus der Kindheit betrachtete. Vielleicht empfand Sjögren dasselbe, wenn er Wide ansah.

»Heimat. Wogende Steinmauern, der Pflug, die Sense, der Hammer, die Sichel und die Axt, die die Finger in Blut tauchten. Erinnerst du dich an die Heufuhren in Torset, Jon?«

»An eins erinnere ich mich jedenfalls.«

»Als wir auf die Stierweide gefallen sind.«

»Als ich auf die Stierweide gefallen bin und du die Pforte sorgfältig geschlossen hast. Von außen.«

»Hat sich das so abgespielt?«, fragte Peter Sjögren mit einem schwachen Grinsen. Dann wurde sein Gesicht ernst. Er nahm einen Schluck Bier und stellte das Tulpenglas ab.

»Mensch, du hast mich dazu verführt, alte Fotos anzusehen, und das hab ich mit gemischten Gefühlen getan.«

»Die große Wehmut.«

»Das nicht gerade, aber ich musste an die letzten Schultage vor den Sommerferien denken. Da kann man vielleicht von Wehmut reden. Ich weiß nicht. Wir sitzen in der Kirche, und das Chlorophyll dringt fast durch die Mauern, so grün und schön ist es. Die Sonne wartet in der schönen Sommerzeit, und man soll rausstürzen und die Gaben vom lieben Gott annehmen. Aber haufenweise lagen solche Gaben ja nicht gerade herum.«

»Es gab doch die eine oder andere Heufuhre.«

»Die haben uns ein falsches Bild von der Wirklichkeit vermittelt.«

»Darüber hast du also nachgedacht.«

Peter Sjögren nahm noch einen Schluck, bekam einen anderen Glanz in die Augen.

»Es ist wie mit den Medien. Deren Bilder von der Wirklichkeit geben auch nicht die Realität wieder.«

»Nein, bei Gott nicht«, pflichtete Wide bei und goss sich den Rest Wasser aus der Flasche ein. »Wenn es so wäre, würde die Menschheit aus Männern in den Fünfzigern bestehen, die eine Halbglatze haben und blank gewetzte, billige, dunkle Anzüge tragen.«

»Ich meine, dass Medien, wir, ich, wenn man sich so weit raushängen will, Bilder schaffen, die gefährliche Erwartungen hervorrufen. Die Journalisten haben sich selbst eine Institution geschaffen. Das ist doch schäbig, nicht? Journalisten sind keine gut schreibenden Flaneure mehr. Und das ist schade. Ich möchte so einer sein.«

»Ein gut schreibender Flaneur?«

»Wenigstens ein Flaneur.«

»Dann ist es wohl an der Zeit, die richtige Welt willkommen zu heißen.«

»Vielleicht.«

»Ihr habt eine Welt geschaffen, in der sich die Gesellschaft in den Medien abspielt.«

»Hhmm.«

»Ach, ich weiß nicht. Aber es gibt viel da draußen, hier draußen, was nicht in den Zeitungen oder im Fernsehen auftaucht. Das richtige Leben.«

»Ja.«

»Das richtige, armselige Leben. Das Leben der Opfer«, fuhr Wide fort und bekam eine neue Flasche Vichy Nouveau auf den Tisch gestellt, »und wenn die Journalisten, oder wie sie sich nun nennen, weiterhin der Macht ihre kleinen pathetischen Stiche versetzen, können die Politiker sich als Opfer darstellen.«

»Das ist wohl schon passiert.«

»Ja. Aber das Gerede über mediale Macht nimmt zu, und dann wird es gefährlich, eine Meinung zu haben.«

»Wer von uns beiden hat denn nun nachgedacht?«, fragte Peter Sjögren und zeigte seine Zähne.

»Manchmal ist ein Degen gut, aber es gibt tatsächlich auch Schwerter«, sagte Jonathan Wide. »Dein Satz mit den Flaneuren ist jedenfalls gut. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Lesenswertes in deiner Zeitung gelesen zu haben.«

Peter Sjögren gab keine Antwort, er folgte einer Gruppe Frauen mit den Blicken, von der Garderobe bis zum Tisch am anderen Ende des Lokals.

»Die Västra-Schule gab es übrigens noch«, sagte Wide.

»Was?«

»Die Västra, oben beim Wasserturm. Die gibt’s noch.«

»Aha.«

»Ich habe mich mit einem eindrucksvollen alten Mann unterhalten, der dort Direktor gewesen ist. Über achtzig jetzt. Er versuchte sich mit viel Reden über sein angeblich schlechtes Gedächtnis wegzumogeln, aber er war echt gut.«

»So sind wir vom Hochland.«

»Ulla Bergsten ist in seine Schule gegangen. Ich hab ein Foto von ihr gesehen.«

»Das ist ja wohl logisch, da sie nicht auf unserer Schule war.«

»Erinnerst du dich, dass ich dir von einem Gesicht erzählt habe, das mir im Botanischen Garten aufgefallen ist und das mir bekannt vorkam? Jetzt habe ich es gesehen.«

»Jung oder alt?«

»Jung, auf einem Schulfoto von der Västra. Es hat auch einen Namen: Stig Thisenius.«

»Thilenius?«

»Thisenius, mit einem s und mit th. Stig.«

»Thisenius? Stig Thisenius?«

»Ja.«

»Der kommt mir tatsächlich bekannt vor.«

»Wie meinst du das?«

»Erinnerst du dich an einen Hockeyspieler aus den sechziger Jahren, der Sven Thylenius hieß? Er hat übrigens bei Västra Frölunda gespielt.«

»Nein.«

»Ich kann mich jedenfalls erinnern. Wegen meiner Sammelwut besaß ich unter anderem auch hundert Millionen Hockeybilder. Und an Sven Thylenius erinnere ich mich deshalb, weil ich von ihm viele Doppel hatte. Die waren nützlich, wenn man tauschen wollte.«

»Und?«

»Ich erkenne ihn, darum. Den Namen, Thisenius, das klingt doch wie mein Hockeyspieler, und deshalb erinnere ich mich an Thisenius.«

»Was?«

»Im Unterschied zu dir bin ich ein echter Sävsjöer. An das Mädchen Bergsten erinnere ich mich nicht, wahrscheinlich, weil sie ein Mädchen war. Aber ich bilde mir ein, dass ich einen Thisenius kannte, aber keinen Stig … So hieß der nicht, das war der Bruder, aber die sind bald weggezogen. Bevor er in die Schule gekommen ist, glaube ich. Ja, so war es. Ich kann mich nicht erinnern, wie er aussieht oder aussah, aber der Name ist noch präsent.« Peter Sjögren klopfte sich an die Stirn.

»Mensch, was sagst du da?«

»Hoppla, jetzt hat es dich aber gepackt.«

»Es gab also einen Bruder. Davon hat mir der alte Mann nichts erzählt.«

»Hm.«

»Das hätte er aber tun sollen. Das kann man ja wohl erwarten.«

»Du hast gesagt, dass er von seinem schlechten Gedächtnis geredet hat. Aber das war es vielleicht gar nicht. Dieser Bruder war ja nicht an seiner Schule, der ging überhaupt nicht zur Schule. Damals nicht und nie.«

Peter Sjögren sah Wide geradewegs an, ließ das Glas stehen.

»Hast du von dem Todesfall gehört?«, fragte Sjögren.

»Dass Stig Thisenius vom Zug überfahren wurde? Ja.«

»Das ist passiert, kurz bevor du in die Stadt gekommen bist. Es war entsetzlich. Ich kannte den Bruder eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht so gut, dass man mit ihm darüber hätte sprechen können. Aber das war sowieso nicht möglich, da sie schon weit weggezogen waren.«

»Jetzt kann ich dir nicht ganz folgen.«

»Eine Scheidungsgeschichte. Entschuldige, dass ich davon anfange, aber so war es. Manchmal fragt man sich, ob die ganze Welt verrückt ist, denn in diesem Fall wurde beschlossen, die beiden Brüder zu trennen. Der eine zog mit dem Vater nach Jönköping, glaube ich, und die Mutter blieb mit dem älteren Bruder in Sävsjö. Stig. Es war wie ein Tauziehen.«

»Der alte Direktor in Sävsjö sagte, dass Stig Pflegeeltern hatte.«

»Da täuscht er sich. Einen Pflegevater hatte er.«

»Das ist ja ’n Ding.«

»Eine Weile ging das Gerücht, Stig sei an dem Tag, als es passierte, von einer Clique gejagt worden. Aber es ist nichts herausgekommen. Vielleicht hatte niemand die Energie, sich damit auseinander zu setzen.«

»Eine Clique?«

»Ich weiß, was du jetzt denkst, aber in diesem Punkt kann ich dir nicht helfen. Ich hab nie Namen gehört. Und von Stig weiß ich auch nicht mehr, als dass er einsam war und dass ihm vielleicht mal übel mitgespielt worden ist. Sachen, die man so beiläufig hört.«

Wide schloss die Augen, öffnete sie wieder.

»Dieser … andere, den hast du nicht mal hier in der Stadt gesehen?«

»Nein, ich nicht, aber du vielleicht. Ich würde ihn nicht erkennen«, antwortete Sjögren.

»Wenn er es war«, sagte Wide.

»Du, Jon …«

»Ja?«

»Eine Frage nur: Warum beschäftigst du dich so sehr mit diesem ›Gesicht‹, das jetzt vielleicht einen Namen bekommen hat? Ich finde keine angemessene Erklärung.«

»Ich eigentlich auch nicht. Aber ich komme einfach nicht davon los. So was passiert manchmal.«

»Ich glaube, du hältst dich daran fest, weil du nichts Besseres zu tun hast. Was Sinnvolles.«

Darauf antwortete Wide nicht. Dann erkundigte er sich:

»Du erinnerst dich nicht zufällig, wie er hieß?«

»Ich hab darüber nachgedacht, während wir uns unterhalten haben. Aber ich bin nicht sicher. Ich glaube, er hieß Gunnar oder Gustav – nein, Gunnar, glaube ich, aber ganz sicher bin ich nicht.«

 

Wide kam vollkommen nüchtern nach Hause. Er setzte Wasser auf, gab das Kaffeepulver direkt in die Tasse, mischte es mit Milch und goss dann das kochende Wasser darüber.

Er trug die Tasse ins Schlafzimmer und hörte den Anrufbeantworter ab. Ard. Wide wählte die vertraute Nummer. Eine Minute später stand er da mit dem Hörer in der Hand, die dampfende Tasse auf dem Schreibtisch, und sah den Dampf auf dem Monitor des Computers gespiegelt.

Kajsa Lagergren war verschwunden, und das Bild, das er in diesem Moment von ihr vor Augen hatte, war ihre abwehrende Geste, als er versucht hatte, seinen Anteil der Taxifahrt zu bezahlen.