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Als er bei der Abzweigung Kallebäcksmotet den Fuß vom Gaspedal nahm, begrüßten ihn die Lichter der Halbmillionenstadt. Von hier oben sah Göteborg aus wie ein Tal voller verstreuter kleiner Sterne. Er wusste, dass das Bild bei Tageslicht anders aussah: Die Stadt war wie ein breiter Strauß stachliger Blumen, die Gebäude abwechselnd wie Unkraut und gezüchtete Pflanzen von Kortedala – bis Långedrag!, wie der Kerl von einem der lokalen Musiksender in Wides Autoradio gerade ausrief. Der alte Kasten war zu neuem Leben erwacht, ganz plötzlich. Wann hatte er das letzte Mal so gut funktioniert? Vielleicht hing das mit dem Salzgehalt der Atmosphäre zusammen. Oder mit dem Schnee in der Luft, dachte Wide. Das Zentrum war mit Schnee bedeckt. Seit er den sicheren Hafen verlassen hatte, war es Dezember geworden: Sieh mal einer an, was Göteborg für Anstrengungen machte, um das bevorstehende Fest der Freude und des Lichts zu feiern.
Majorna war ein weißer Stadtteil. Der erste Schnee der Saison, der mehr als eine Stunde liegen blieb, überzog die guten und die bösen Orte mit derselben Schicht Unschuld. Wer heute Abend einen Mord begeht, muss in seinen eigenen Spuren rückwärts gehen und sie mit einem Tannenzweig verwischen, dachte Wide. Er fühlte sich erschöpft nach der anstrengenden Fahrt durch die Dunkelheit und bei Glätte, hinter Scheibenwischern, die ihr Bestes gegeben hatten.
Seine Wohnung wirkte behaglich. Leute, die nie verreisten, brachten sich um das Erlebnis der Heimkehr, dachte er. Er war eine Nacht weg gewesen. War das nicht lange? Wide wurde bewusst, dass er seine Wohnung seit der Scheidung kaum mehr als für eine Nacht verlassen hatte. Das letzte Mal im vergangenen Sommer – eine Reise nach Jütland –, aber daran wollte er jetzt nicht denken.
Er war in etwas hineingezogen worden, was ihn nicht losließ. Oder wollte er nicht loslassen? Das hatte nichts mit seiner alten Heimat zu tun. Er war nicht sentimental, nicht so, jedenfalls. Es war etwas anderes. Vielleicht waren es die Bilder in seinem Kopf von all den jungen Menschen, die ihn antrieben, weiterzusuchen. Oder war es nur der Spürhund in ihm, der sich nicht um Kosten scherte und seine eigenen und die Spuren anderer verfolgte? Vielleicht wollte er sich nur beweisen, dass er immer noch nicht am Ende war.
Er hatte noch den Rest einer halben Flasche Black Ribbon und wärmte sich mit dem Whisky auf dem Stuhl neben dem Bett auf, während Larry Garner Another Bad Day krächzte, aber Wide erkannte bald, dass Blues an diesem Abend nicht seine Musik war, und trotz der anstrengenden Fahrerei war der Tag vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Er stellte den Anrufbeantworter an, während er noch Alkohol im Mund hatte.
Es war das zweite Mal – oder das dritte? Nein. Das zweite. Was machte sie hier? Oder hatte er sich in der Person getäuscht?
Das erste Mal hatte er sie in der vergangenen Woche gesehen. Er wusste es, weil nicht so viele Leute in die Pizzeria kamen, und er hatte ein gutes Personengedächtnis.
Diesmal war er sofort an der Tür umgekehrt, als er sah, dass sie sich mit dem netten dunklen Mann hinter dem Backtisch unterhielt. Warum hatte er mit ihr gesprochen? Wo er doch mit dem Mann sprechen wollte! Dazu war es nicht gekommen, aber das war wahrhaftig nicht seine Schuld.
Er war noch eine Weile herumgewandert und dann zurückgekehrt. Da meinte er, sie in einem Auto in einer Seitenstraße sitzen zu sehen. Er ging auf der anderen Straßenseite daran vorbei und las den Straßennamen – Delfingatan, nur damit er es wusste. Wieso hatte er das eigentlich nicht gewusst, obwohl er schon so lange hier wohnte?
Es war sonderbar, dass jemand vor einer Pizzeria wartete, der offenbar keine Pizza bestellt hatte. Das hatte er sofort erkannt.
Sie wollten ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Entweder schickten sie ihm Frauen – wie die Frau mit dem Kind an der Straßenbahnhaltestelle – oder sie kamen selber.
Er würde sich still verhalten, denn es war vorbei; er hatte beschlossen, dass es vorbei war. Er hatte damit etwas in seiner Wohnung gemacht, und das war eine gute Sache. Die hatte ihm den Frieden gebracht. Es war so gut geworden, dass er es gerne jemandem gezeigt hätte, aber so was konnte man ja nicht tun, das war ihm klar. Ha! Allein die Vorstellung, das jemandem zu zeigen …
Natürlich konnte sich ein Überfall auf ein Restaurant ereignen. Eigentlich hätte es schon längst passieren müssen, aber es war ja nicht sicher, dass es wieder passieren würde. Und wenn? Was konnte sie tun?
An einigen Stellen hatte sie eine diskrete Bewachung postiert und sie saß hier. Sie hatte zuerst mit dem Mann dort drinnen darüber reden wollen, es sich dann aber anders überlegt. Was konnte sie ihm schon raten? Sein Restaurant zu schließen? Er war ja nicht blind oder taub, er wusste es sowieso, wie alle Fremden.
Kajsa Lagergren dachte an die Stunden in der Zeitungsredaktion. Einer der Anrufer hatte von political correctness gesprochen. Es war immer noch politisch korrekt, Einwanderer zu mögen und jene nicht zu mögen, die Einwanderer ablehnten; aber das würde sich ändern, es hatte schon angefangen. Dann sitzt ihr da mit eurem korrekten Denken!, hatten sie zu hören bekommen. Das Volk denke anders und jetzt würde das Volk entscheiden. Lebte man etwa nicht in einer Demokratie? Aber die würde verschwinden, wenn die Schwarzköpfe mehr zu sagen bekämen. Wäre er, Sten Ard, denn nicht Kommissar? Wisse er nicht, dass die meisten Verbrechen von Menschen mit hässlichen Namen begangen würden?
Und so weiter. Aber sie dachte auch an die anderen Stimmen, die vom Widerstand schwedischer Mitbürger gegen Ausweisungsbeschlüsse gesprochen hatten, von einer kleinen Bewegung, mit deren Hilfe Flüchtlinge vor der Deportation gerettet worden waren. Wie vor dem Krieg in Europa. Eine Widerstandsbewegung. Ihr war das nichts Neues. Die Polizei geriet in die schwierige Position zwischen zwei Stühlen. Aber wenn die Behörden härter durchgriffen, dann würde auch der Widerstand von Gruppen härter, die auf Korrektheit Wert legten. Wie lange wollten sie das durchhalten? Ein Anzeigesystem war schon geschaffen. Es war eine neue Zeit – oder die neue alte?
Sie hatte bei der Bestellung mit dem Besitzer dort drinnen über alles Mögliche geredet und den großen Mann bemerkt, der hereingekommen und sofort wieder umgekehrt war. Ein Menschenscheuer? Oder plötzlich geänderte Pläne?
Als sie im Auto über ihre Karte nachgedacht hatte, meinte sie, den Mann wieder gesehen zu haben; er lief auf der anderen Straßenseite vorbei. Er war groß und ging leicht vornübergebeugt, als trüge er einen Rucksack oder so etwas Ähnliches. Aber als sie seinen Gang aus den Augenwinkeln verfolgte, sah sie auf seinem Rücken nichts weiter als die Bewegungen seines Dufflecoats.
»Das ist gut. Du hattest Recht.«
»Jetzt haben wir den Zusammenhang.«
»In Mariannelund sind wir auch fündig geworden. Bengt Arvidsson ist in einem Sommerlager gewesen – an diesem Ort am Värnamosee.«
»In Hindsekind.«
»In Hindsekind. 1962 war das.«
»Genau.«
»Und dann bekommen wir von dir die Bestätigung mit der Frau – dem Mädchen. Trotz des Brandes.«
Es war einige Stunden später, nachdem Wide in die Stadt zurückkehrt war, aber immer noch derselbe Abend. Sie saßen in Ards Haus in Kungssten, auf der Ekebäckseite, in dem Raum, den Ard seine Bibliothek nannte, in teuren Ledersesseln, die Ard unter Seelenqualen gekauft hatte. Ihm war es nicht um das Geld gegangen. Es war eher ein sozialer Widerwille, der Widerwille eines Menschen, der aus einem Milieu stammte, wo man sich Luxus versagte. Aber Sten Ard und seine Frau Maja hatten sich rasch an das Leder gewöhnt, ihre Gäste ebenso, und Wide ließ einen Talisker zwischen den Fingern kreiseln und genoss den herben, guten Ledergeruch und gleichzeitig den starken Duft nach Rauch, der vom Maltwhisky aufstieg.
»Verdammt viele Gesichter.«
»Das ist ein Anfang – mehr als ein Anfang, Sten.«
»Vielleicht bringt uns das einer Lösung näher. Hoffentlich.«
»Wie meinst du das?«
»Hast du auch schon einmal daran gedacht, dass der Mörder vielleicht hinter einer besonderen Person her ist? Einer von den dreien. Dass der Mord an den anderen beiden nur eine Art Verschleierung war, eine Ablenkung von dem, um was es in Wirklichkeit geht?«
»Natürlich.«
»Aber du glaubst nicht daran?«
»Nein, jetzt noch weniger, seitdem ich in Småland war.«
Ard schwieg. Er wartete darauf, dass Wide weitersprach.
»Es ist ein grässlicher Ort. Ich habe das Grausen gekriegt. Oder vielmehr – das Grausen ist hinterher gekommen.«
»Hm. Warum hast du keinen Kontakt zur Polizei in Värnamo aufgenommen? Die hätten auf der Stelle rausfahren und eventuelle Spuren des Einbruchs sichern müssen.«
Sie hatten darüber gesprochen. Die offene Haustür. Die Deckenstapel neben dem Speisesaal.
»Manchmal ist es nicht richtig, das eigentlich Richtige zu tun. Ich brauchte noch einen Tag. Als ich Värnamo verließ, war ich nicht sicher, ob ich zurückkommen würde, ob es wichtig wäre, noch einmal dort herumzugehen.«
»Daraus ist nichts geworden.«
»Nein, mir schien, ich brauchte es nicht mehr.«
»Ja, jetzt ist es zu spät. Jetzt ist die Polizei da draußen und bestimmt betrachtet sie die Sache mit einer gewissen Skepsis. Einbrüche sind nichts Ungewöhnliches auf dem Lande. Aber die Decken sind sichergestellt worden.«
»Was machst du, wenn sich daran Spuren derselben Erde nachweisen lassen?«
»Was ich dann mache? Dasselbe wie jetzt, Jagd nach neuen Namen, Adressen und Angehörigen. Wir kommen nicht schneller voran – es sei denn, man würde mir das gesamte Personal des Präsidiums zur Verfügung stellen.«
Wide lehnte einen zweiten Whisky dankend ab; er hatte noch gar nicht aus dem Glas getrunken, das er in der Hand hielt. Ard hob den Kopf.
»Ich hab ein weiteres Gespräch mit Henrik Bjurlinge gehabt.«
»Melinders Partner?«
»Ja. Ich hab ihm klar gemacht, dass wir mit seinem Alibi nicht zufrieden sind, oder besser gesagt, mit dem Fehlen eines Alibis.«
»Ihm mit Untersuchungshaft gedroht?«
»So was entscheide ja nicht ich, sondern der Staatsanwalt.«
»Du gemeiner Kerl.«
»Ja.«
»Hat er es mit der Angst zu tun bekommen?«
»Und ob. Genau wie andere Leute will er sich nicht mit der Gesellschaft anlegen, unschuldig oder nicht.«
»Hatte er was Neues zu sagen?«
»Es hat eine Weile gedauert, aber er hat ein Alibi.«
»Ein anderer Mann?«
»Woher weißt du das?«, fragte Ard, aber ihm war bewusst, dass der Grund ziemlich klar war.
»Der Grund ist ja ziemlich klar – vorausgesetzt, er hat es nicht getan.«
»Ja.«
»Warst du – diskret?«
»So diskret wie möglich. Dinge, mit denen Menschen sich beschäftigen, pflegen an die Oberfläche zu treiben. Plötzlich steht ein Polizist vor der Tür und fragt nach dem Herrn des Hauses, und die Hausfrau will wissen, was passiert ist.«
»Aber so war es diesmal nicht.«
»Nein. Der andere war allerdings ein Herr des Hauses. Außerdem noch ein ziemlich hoch stehender. Bjurlinge sträubte sich lange, aber schließlich musste er uns den Namen nennen.«
Wide nahm schließlich einen Schluck.
»Wir leben in einer Zeit der Abweichungen. Das ist einerseits gut.«
»Wie meinst du das?«
»Es ist nötig, um dem kleinen Mann klar zu machen, dass nicht alles gleich aussieht. Dass Menschen unterschiedlich sind oder von der Norm abweichen, aber dass sie deswegen noch lange nicht böse sind.«
Ard applaudierte im Stillen, nahm das Glas vom Tischchen und prostete Wide zu.
»Du bist ein guter Mensch, Wide.«
»Ach, sei still.«
»Die Gesellschaft braucht dich. Ich brauche dich. Dieser Fall braucht dich, wie du soeben bewiesen hast. Dies ist ein Fall der Abweichungen.«
»Weißt du, was ich glaube?«
»Nein.«
»Wir haben es hier mit einem Opfer zu tun, das Jäger geworden ist, und einem Jäger, der Opfer geworden ist.«
»Könnte sein.«
»Und die erste Jagd begann vor mehr als dreißig Jahren.«
»Wenn es mehr als eine Jagd war.«
»Es muss die erste gewesen sein.«
»Ja.«
»Was machst du jetzt, Jonathan?«
»Ich muss mit ein paar Gedanken ins Reine kommen. Und ein Gesicht verdrängen, ein totes. Es will einfach nicht verschwinden.«
»Da ist noch etwas, was du tun willst.«
»Ach?«
»Du kommst Samstagabend her und isst mit uns.«
»Besonderer Anlass?«
»Ist der nötig? Aber es gibt tatsächlich einen. Der bescheidene Anlass ist mein fünfzigster Geburtstag. Den hab ich nächste Woche noch mal, aber wenn es dann in unserem Fall brisante Entwicklungen geben sollte, dann verschiebe ich ihn, bis wir einen Fortschritt erzielt haben.«
»Also nur ein kleines Mittagessen.«
»Ein sehr kleines. Du bist eingeladen. Wir sind ganz unter uns – du, ich und Maja und eine junge Frau aus unserer Abteilung, mit der ich gut zusammenarbeite. Du hast sie kennen gelernt, kurz bevor du uns verlassen hast: Kajsa Lagergren.«