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Für Janne-Janne war das Leben ein kalter Wind und ein Tanz ohne Musik. »Was für ’n Tanz?«, hatte Sixten einmal philosophisch gefragt, und dann hatten sie nicht mehr viel gesagt. Sie waren der Frigångsgatan in westlicher Richtung gefolgt. Es war sinnlos, mit Sixten zu reden, denn er war müde und wollte schlafen.
Sie schlurften an der Schule vorbei, die jetzt ein Kino war. Vor unzähligen Jahren war Janne-Janne in diese Schule gegangen. Hier war er rausgekommen und war die Linnégatan runtergehüpft, kein Schlurfen, und er hatte eine Mutter gehabt, die auf ihn wartete. Damals.
Sie schlurften weiter, mit einem Einkaufswagen, der Wohn- und zwei Schlafzimmer enthielt, Küche und Garderobe, ihr mobiles Heim. Janne-Janne schob ihn, Sixten, eine Hand auf dem Wagen, hatte sozusagen die Führung übernommen. Sixten war sehr betrunken, aber er hielt sich aufrecht; er konnte immer gehen. Janne-Janne nahm an, dass er beim Militär gewesen war. Da lernte man gehen. Janne-Janne war nüchtern – wenn er das von sich selbst behaupten durfte.
Sie überquerten den Linnéplatsen bei Rot, weil niemand mehr nach Askim, Hovås und in die anderen Paradiese nach Hause fuhr, gingen direkt auf den Schlosswald zu und tauchten in ein Waldstück, wo sich der Weg teilte. Dank der Straßenlaternen über den Straßenbahngleisen konnte er die Enten im Teich auf der anderen Seite des Weges sehen. Sie wurden von Dunst eingehüllt, der wie dünnes Silber war, und es war merkwürdig, dass sie trotz ihres Federkleides nicht froren; ihn fror jedenfalls, nicht mal die Sachen, die er in seiner »Garderobe« hatte, würden an diesem Abend reichen. Janne-Janne besaß kein Thermometer, aber er war schon lange genug dabei, um sicher zu sein, dass es nicht viel über dem Gefrierpunkt war. Null Grad waren es. Sie hatten ihr Ziel für diesen Abend erreicht und er befreite Sixten vom Wagen. Sixten wich zur Seite, Janne-Janne zerrte ein Stück Teppich vom Wagen und legte ihn Sixten um die Schultern.
»Der Flickenteppich für Sie, mein Baron«, sagte er, »auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.« Er pinkelte zehn Meter entfernt, wo ihr Klo und ihr Bad waren, aber heute badete er nicht.
Er breitete einen Teppichfetzen auf der Erde aus, zog sich eine weitere Jacke an und deckte sich mit einem Bettbezug zu, den er mit Zeitungen voll gestopft hatte. »Gute Idee«, hatte Sixten am Abend zuvor gesagt, was aber nicht dazu führte, dass er jetzt dasselbe tat. So war es oft, er war für die Ideen zuständig und Sixten für nichts.
Er vermutete, dass es fünf oder sechs Uhr war, vielleicht noch etwas früh, aber sie arbeiteten hart und standen früh auf, und er machte es sich bequem. Als er sich auf die Seite drehte, sah er, dass sich etwas beim Klo in den Büschen bewegte. Er war alt, aber seine Augen waren in Ordnung, hier lag keine Brillenschlange. Jetzt bewegte es sich wieder. War es ein Bulle? Nee. Von denen störte sie keiner mehr, die hatten genug mit den Glatz- und Schwarzköpfen zu tun. Hatten sie irgendjemandem den Platz geklaut? Nee, hier gab es keine Pfähle; nach einigen Jahren wusste man, wenn man in das Revier eines anderen geraten war. »No trespassing«, wie dieser verrückte Schwedisch-Amerikaner in der Höhle beim Zoo immer gerufen hatte, wenn man sich ihm auf fünf Meter näherte.
Jetzt bewegte sich wieder etwas. Sollte er Sixten wecken? Nein, das war sinnlos, Sixten konnte man nicht wecken. Janne-Janne wurde es ein wenig flau im Magen. Er hatte zwar nichts davon gehört, dass im Augenblick einer in der Stadt herumlief, der Leute erschlug, aber es gab ja überall welche, die sonderbare Ideen hatten. Hin und wieder passierte was. Er hatte schon ziemlich oft Prügel bezogen, aber immer war ein ehrlicher Zoff Anlass gewesen.
Er lag still, vielleicht würde es verschwinden. Jemand stand dort. Ein Mensch. Schaute er zu ihnen, zu ihm? Janne-Janne schloss die Augen, lange. Als er sie wieder aufschlug, war nichts mehr zu sehen. Der da gestanden hatte, war verschwunden. Er überlegte, ob er aufstehen und nachsehen sollte, aber das war wohl nicht nötig.
Er wühlte ein bisschen herum, fand endlich eine bequeme Rückenlage und blinzelte zum Himmel hinauf, der grau, schwarz und blau war; vielleicht war es der Große Bär, den er dort oben sah. Plötzlich hörte er direkt neben sich ein Geräusch. Janne-Janne erschauerte, ihm wurde eiskalt und Angst packte ihn, als er jetzt zwei Hände und irgendwas Großes sah, was sich von oben herabsenkte. Eine schwere Pferdedecke landete auf ihm. Er hatte nicht einmal die Augen bewegt, blinzelte wie erstarrt; dabei musste er aussehen, als ob er schliefe, denn jetzt beugte sich jemand über ihn. Er nahm ein Gesicht wahr wie einen hellen Ball, und das musste bedeuten, dass der andere nicht viele Haare hatte. Er hörte ihn schwer atmen. So klang das bei mir auch, bevor sie mir die Polypen rausgenommen haben, dachte er, und da fühlte er sich nicht mehr so erstarrt. Als er dem anderen die Faust gerade ins Gesicht hauen wollte, zog es sich zurück, rasch, und er hörte Schritte, die sich entfernten. Er richtete sich auf. Jemand ging nach links zu den Hütten hinauf und verschwand hinter den Bäumen. Er warf einen Blick zu Sixten. Auch er war mit einer Decke zugedeckt. Die hatte er, Janne-Janne, ihm nicht gegeben, soweit er sich erinnern konnte. Er besaß eine Decke. Die war ziemlich trocken. Komisch das alles. Er legte sich wieder hin. Wirklich komisch. War das einer von der Heilsarmee? Na, die taten nicht viel ohne volle Orchesterbegleitung. Doch, sie taten auch viel in aller Stille, doch. Er musste sie fragen, aber für heute Abend reichte es, und er legte sich wieder zurecht.
Er war auf dem Weg, auf dem Weg, auf dem Weg. Jetzt war es anders, eine Begegnung und ein Gespräch. Sie gingen nebeneinanderher und der andere keuchte ein bisschen auf dem steilen Abhang.
»Kaum zu glauben, ein richtiger kleiner Wald mitten zwischen den Häusern.«
»So ist es an vielen Stellen in dieser Stadt.«
»Richtig grün.«
»Ja.«
Sie hatten ein kleines Plateau erreicht und sahen die Mietshäuser auf der anderen Seite des Friedhofs. Überall flammten Lichter auf, das war seine Lieblingszeit des Tages: die Dämmerung. Schade, dass die Häuser so hässlich waren.
»Schön sind die Schuppen dahinten ja nicht gerade.«
»Findest du? Ich finde, die sehen wie alle Häuser aus.«
Sie gingen weiter in westlicher Richtung, das Gebüsch wurde dichter.
»Das ist also dein Nachhauseweg.«
»Immer. Viel gute, frische Luft.«
»Genügend Bewegung.«
»Ja.«
»Du kleidest dich dem Wetter angemessen, muss ich sagen. Schöner Dufflecoat. Handschuhe.«
»Ja.«
Der andere sah ihn an.
»Ich war wirklich erstaunt, als du dich gemeldet hast. Wie viele Jahre ist es jetzt her? Dreißig?«
»Neunundzwanzig, glaube ich.«
»So lange. Gut, dass du dich gemeldet hast. Irgendwann hab ich auch mal dran gedacht.«
»Irgendwann.«
»Man kann ja nicht behaupten, dass es schön war. Aber wir waren Kinder. Du weißt, wie …« Aber er hatte genug von dem Gefasel und war zwei Schritte zurückgeblieben. Er sah sich um. Wie immer war es um diese Zeit still und leer, aber im Augenblick verschwendete er keinen Gedanken daran. Genau hier sollte es sein. Er bückte sich hinter einen Stein und zog die Eisenstange hervor, holte aus und schlug zu. Er spürte die starke Vibration in den Armen, als sie mit Wucht den Nacken des anderen mit dem weichen und gleichzeitig schweren Laut traf, den er so gut kannte. Wie stark er sich fühlte, zu Hause. Als der Kerl in die Knie ging, schlug er wieder zu, tschock, und als der Körper fiel und zur Seite rollte, wusste er, dass kein Leben mehr darin war. Er zog ihn nach links, wo er schon früher einen guten Platz gefunden hatte. Er holte das Messer hervor.
»Bengt Arvidsson. Tot und verstümmelt auf eine Art, wie wir es schon mal gesehen haben.«
Ove Boursé erstattete Bericht vor den im Raum Versammelten. Alle waren sehr ernst. Ard drückte seine Hand fest in die Seite seines Halses.
»Die Verletzungen sind uns bekannt, der Winkel, die ganze Art.«
»Der Winkel?«
Kajsa Lagergren hob den Blick.
»Der Schlag erfolgte etwa aus gleicher Höhe. Wir haben herausgefunden, dass es sich um denselben Täter handeln könnte und dass er oder sie etwa einsachtzig groß ist.«
»Wie etwa neunzig Prozent der schwedischen Bevölkerung.«
»Ja, vielleicht Ard und Kajsa ausgenommen. Du bist doch einssiebzig oder so?«
Sie antwortete nicht, betrachtete die Bilder, die sich durch die unheimliche Wiederholung immer ähnlicher wurden. Die Gesichter wurden austauschbar mit allen Verletzungen und Löchern. War das die Absicht des Mörders?
Ove Boursé fuhr fort:
»Wie bei den anderen beiden Fällen war es auch diesmal nicht schwer, die Identität festzustellen. Das Opfer hatte alle Papiere bei sich. Alles stimmte.«
»Und?«
Kajsa Lagergren spielte auf das an, was alle schon wussten, wofür sie aber eine Bestätigung brauchten.
»Nein. So ist es diesmal nicht. Vermutlich werden sich euch deswegen jetzt erst recht alle Härchen aufrichten, außer bei Sten. Nein, Bengt Arvidsson stammt nicht aus derselben kleinen Stadt wie die beiden anderen, die wahrscheinlich demselben Mörder begegnet sind. Wir haben noch keinen anderen Zusammenhang festgestellt. Na ja, es ist early days.«
»Aber die Ähnlichkeiten des Verbrechens selber sind groß.« Sten Ard erhob sich und strich sich mit einem Blick auf Boursé über die Glatze. »Und wir geben noch keine Hypothesen heraus.«
»Eine Botschaft.«
Kajsa Lagergren sprach mit sich selbst, leise.
»Kajsa?«
»Mitten in dieser Raserei ist eine Botschaft, eine Mitteilung an die Welt enthalten, wie wir ja schon vorher vermutet haben. Wir müssen sie entschlüsseln. Dort finden wir die Antwort darauf, ob es sich hier um einen Racheakt handelt oder etwas ganz anderes.«
Boursé nickte.
»Wir werden alle Ähnlichkeiten überprüfen und es muss schnell gehen.«
»Ja. Gott sei Dank leben wir im Computerzeitalter.«
»Und wir müssen mit größerem Druck arbeiten.«
»Mit größerem Druck.«
Boursé wandte sich an Sten Ard.
»Apropos Presse, was machen wir mit unseren Freunden, den Journalisten?«
»Wie – machen?«
Ards Stimme klang gereizt, er sah sich schon von den starken Scheinwerfern angestrahlt, die die Leute vom Fernsehen mit sich rumschleppten. Er sah den Schweiß auf seiner eigenen Stirn.
»Was wollen wir sagen?«
»Du meinst, was ich sagen soll.«
»Ja.«
»Eine Linie ist schon vorbestimmt. Die Leute haben ein gewisses Bewusstsein. Mit anderen Worten: Sie hatten schon vorher Angst, aber jetzt kriegen sie vielleicht richtig Schiss.«
»Gefasst und ruhig also.«
»Ja. Die Botschaften, von denen Kajsa sprach, behalten wir für uns.«
»Wie lange?«
»So lange es geht, was vermutlich nicht sehr lange sein wird, da die Gerichtsreporter Informationen liefern müssen und hier drinnen immer extra Druck machen.«
»Hier drinnen?«
Calle Babington hatte etwas gesagt.
Ard bewegte den Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen.
»Nicht in diesem Raum, das hoffe ich bei Gott. Aber es gibt andere Geister in unserem Gestrüpp, vielleicht übereifrige Spurensucher oder Fotografen. Oder Krankenwagenfahrer, Obduzenten, Ärzte, Gerichtsmediziner. Die haben sogar den Titel mit den Reportern gemeinsam.«