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Sten Ard hatte sich von den Morden distanziert, auf diese Weise versuchte er, damit fertig zu werden. D-i-s-t-a-n-z: sich von einem Ereignis so weit wie möglich entfernt halten, um sein ganzes Ausmaß zu erkennen. Hoch oben auf dem Abstraktionspfad wandern, die ganze Perspektive sehen. Der Horizontlinie vom höchsten Punkt folgen. Basic, wie Ove Boursé gesagt hätte.

Von dort würde er die Scheiben der Wirklichkeit eine nach der anderen abschneiden, die einzelnen Teile durchdenken. Und dann: den Pfad bis zum Bodenschlamm hinunterklettern, falls es sein musste, bis zum gefrorenen Grund, den die Erde nie freigab, wenn Verbrechen und Schuld genügend tief reichten.

Es war, als ob die Tat an sich in prähistorischer Zeit geschehen wäre. War seine Distanz zu groß? Adrenalinschübe rasten durch seinen Körper, zurückgehalten von seiner Professionalität; aber er musste sich eingestehen, dass Anflüge von Zerstreutheit gewisse Tage im Dunkeln ließen während der Ermittlung. Vielleicht waren es die Art des Mordes und der Wahnsinn, der damit verbunden war. Oder die Dramatik, der rasche Verlauf – und dann das Schweigen. Und die bedrückende Ermittlungsarbeit. Die Enttäuschung, immer gegenwärtig, aber in wechselndem Ausmaß. Die Forderungen, die von oben ständig an die operative Verantwortung gestellt wurden – und ihm war bewusst, dass er nie frei davon sein würde, nie zu den oberen Rängen gehören würde. Diesen Wunsch verspürte er auch gar nicht. Aber in Momenten wie diesem, als er mit einer neuerlichen Anfrage von der Polizeidirektorin dasaß, die sich zwischen den Zeilen erkundigte, warum sich nichts tat … In Momenten wie diesem wünschte er sich größere Verantwortung – was in der Praxis weniger Verantwortung bedeutete – und einen Stuhl, von dem einen fast nichts mehr vertreiben konnte, wenn man sich erst einmal darauf niedergelassen hatte.

Sie hatten ein Profil, oder vielmehr mehrere. Sie arbeiteten. Sie hatten ein Phantombild, das der doppelt sehende und doppelnamige Obdachlose ihnen geliefert hatte. Er war mit einem weiteren Bericht wiedergekommen, und sie hatten ein neues Bild erstellt, das dem anderen ähnlich sah. Sie hatten den Zeugen ernst genommen. Das Problem bestand darin, dass es sie in Labyrinthe führen könnte. Der Mann, den sie ausgehend von dem digitalisierten Bild suchten, war vielleicht gar nicht ihr Mann. Die Spuren an den Decken mussten nicht bedeuten, dass ein und dieselbe Person Besitzer aller Decken war. Und so weiter, und so weiter.

Außerdem lag ihnen das psychologische Profil eines Menschen vor, der von heftigem Zorn getrieben wurde. Aber darauf wäre Ard auch von allein gekommen. Das erkannte jeder Normalbegabte. Der Täter nahm Trophäen seiner Opfer mit, und das war bei Serienmorden nichts Ungewöhnliches. Der Unterschied bestand natürlich in der Art der Trophäen, aber das änderte nichts an der Sache.

Dem psychologischen Profil zufolge bestand die Absicht des Mörders in diesem Fall darin, die Opfer der Fähigkeit zu berauben, den Gepeinigten jemals wieder dem auszusetzen, was einmal geschehen war und was ein definitives Ende haben sollte. Der Gepeinigte war Peiniger und Rächer geworden. Die Opfer konnten weder sehen, hören noch erzählen, was vor Ewigkeiten geschehen war. Die Sinne und die Fähigkeit zur Kommunikation befanden sich jetzt in der Macht des Mörders.

»Wir haben es hier mit einem sehr kranken Menschen zu tun«, hatte er erfahren. Sten Ard war zu dem Zeitpunkt schon klar gewesen, dass die Person dringend qualifizierter Hilfe bedurfte. Die beste, die die Gesellschaft zu bieten hat, um das zusammenzufügen, was man getrennt hat, dachte er.

Was passierte eigentlich mit den … Trophäen, den Teilen? Waren sie auf besondere Art arrangiert worden, in einem Zimmer, in dem es nach Angst und Verwesung stank? Dort einzutreten – danach sehnte er sich in diesem Moment am meisten und wünschte es sich gleichzeitig am allerwenigsten auf der ganzen Welt: die zwiespältige Begeisterung für die Polizeiarbeit, das Böse mit dem Guten verbinden in einer einzigen langen, verbrechensbekämpfenden Einatmung. Hinter Mundschutz.

Oder waren die Teile vergraben worden? Oder vielleicht in den Götaälv geworfen worden? Die Distanz. Es war wie früher, vor einigen Jahren, als Wide der antreibende Spürhund in seinem Team gewesen war. Wide mochte damals selbstzerstörerische Züge gehabt haben, wie jetzt, aber er war ein konstruktiver Polizist gewesen. Ard konnte beobachten, einordnen und manchmal lenken, wenn Wide auf dem Feld wütete. Eine kühlende Distanz, die ausgeprägte Fähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn jemand anders seinen Schädel der Hitze aussetzte.

Wide konnte sich nicht raushalten, wollte es nicht. Er begann wieder ein richtiges Leben zu führen, Ard sah die Zeichen, auch wenn sie nicht unbedingt mit dem Alltag der Polizei zu tun hatten.

 

»Wie geht es ihm?«

»Besser als vor kurzem.«

»Wie schön.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Aber es ist jedenfalls eine Veränderung in irgendeine Richtung.«

»Ich habe ihn schon so lange nicht gesehen.«

»Er war diese Woche hier; Dienstag, glaube ich.«

»Der einzige Abend, an dem ich nicht zu Hause war.«

Sie standen in der Küche, draußen der Samstagnachmittag vor seinem Untergang und Sten Ard hier drinnen mit einem Glas weißem Montecillo. Er spürte die angenehme Kühle des Glases, das sich beschlagen hatte, nachdem er den Wein aus dem Kühlschrank genommen und sich eingeschenkt hatte. Maja hackte und schnitt an der Anrichte: Zwiebeln, Kartoffeln, Mohrrüben, Tomaten, Petersilie, Sellerie, Lauch.

Es gab die richtige Art, eine Bouillabaisse zu kochen, und es gab die anderen Arten. Maja Ard erhitzte Olivenöl in einem Schmortopf, ließ die Zwiebeln mit dem Fischkopf und einer Rückengräte drei Minuten anschwitzen; dann gab sie Kartoffeln, Thymian, Tomaten, ein wenig Rosmarin, Fenchelsamen, Petersilie, Apfelsinenschale, Lorbeerblätter, Mohrrüben, Sellerie, Lauch, Salz und Pfeffer dazu. Das Ganze musste zwanzig Minuten in Wasser und Weißwein sieden, die letzten beiden Minuten mit Safran, dann wurde der Fischkopf herausgenommen, der Rest passiert und die sämige Suppe in einen großen Topf gegeben. Später sollten darin verschiedene Fischteile, abhängig von ihrer Festigkeit, zusammen mit Schalentieren gekocht werden.

Das war die richtige Art.

»Und was erwartest du von dem Abend? Ich frag mich, ob es eine gute Idee war.«

»Wie meinst du das?«

»Unsere Gäste, Jonathan Wide und Kajsa Lagergren. Sie kenne ich ja nicht richtig, und bist du sicher, dass es Spaß macht, mit jemandem, den man überhaupt nicht kennt, zusammen an einen kleinen Tisch gesetzt zu werden?«

»Wir sind doch auch noch da, du und ich. Und die beiden sind sich schon mal begegnet.«

»Du verstehst, was ich meine.«

»Ich glaube, es ist eine ausgezeichnete Idee. Jonathan und Kajsa sind sich ähnlich. Sie werden einander verstehen.«

»Dieselbe Schwermut.«

»So würde ich es nicht nennen.«

»Lieber Skepsis?«

»Das passt schon besser.«

»Na ja, du bist von Natur aus skeptisch, Sten, aber mit Jonathan ist es nach der Scheidung schlimmer geworden. Und wenn ich es richtig verstanden habe, tanzt deine Kajsa auch nicht gerade heiter durchs Leben.«

»Es gibt viele, die so leben.«

»Ein paar Tanzschritte könnten nicht schaden.«

»Taffe Mädchen tanzen nicht.«

»Möchtest du solche Typen in deinem Team haben?«

»Ich hab bloß Spaß gemacht.«

»Ich weiß.«

»Kajsa Lagergren hat eine empfindsame Seele. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt für die Fahndungsarbeit geeignet ist. Aber andererseits möchte ich ja genau solche Menschen haben.«

»Wer Gefühl hat, ist auch nachdenklich.«

»Ja. Diese Menschen sollten die Welt besitzen.«

 

Er war entspannter, als sie erwartet hatte. Der Mann, dem sie früher begegnet war, hatte Schwierigkeiten gehabt, länger als drei Sekunden in einer Stellung ruhig zu verharren.

Er war etwas kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, kräftiger, ohne erkennbares Fett, aber mit einem riesigen Oberkörper, der in die Breite gehen würde, wenn er nicht aufpasste. Die dicken blonden Haare waren mit Haargel nach hinten gekämmt, was ihn jünger wirken ließ als die vierzig, der er sich näherte, wie sie wusste. Trotz des feinen Netzes von Krähenfüßen um seine Augen sah er etwa wie ein verlebter Fünfunddreißigjähriger aus, dachte sie und reichte ihm die Hand. Seine Hand war warm. Ihre war kalt, das musste er bemerkt haben. Er hielt ein Glas Wein in der Hand, und sie wusste, dass er Alkoholprobleme gehabt hatte. Aber Alkoholiker war er doch wohl nicht? Solche Typen stürzten vermutlich nach einem einzigen Glas ab.

Sie merkte sofort, dass Jonathan Wide ein schweigsamer Mann war, und sie mochte schweigsame Männer. Vor allen Dingen solche, die den Mut hatten, den Mund zu halten, wenn sie nichts zu sagen hatten – was im Prinzip hätte bedeuten müssen, dass die Welt voller stummer Männer gewesen wäre. Jetzt war sie ungerecht, schalt sie sich, und sie nahm zwei Schlucke von dem Wein, der nach Erde und weißer Sonne schmeckte. Und sie selbst: Wann hatte sie etwas zu sagen?

Sie saßen in der Küche, was auch zur Entspannung beitrug. Um sie herum duftete es nach Kräutern und Knoblauch und nach mehr von dieser Erde und der weißen Sonne. Sie spürte, dass sich ihre Nervosität legte, und das kam nicht vom Wein. Sie war gern mit reiferen Menschen zusammen. Ard war fünfzig, Wide vierzig und sie bald dreißig. Maja Ard hatte noch nicht Ards Alter erreicht, sie brauchte noch keinen Gehwagen, so einen, wie Jonathan Wide ihn wer weiß wo geklaut hatte. Mit dem war er in die Küche gekommen, wo Sten Ard mit einer Schürze stand und Majonäse schlug.

»Der ist von meinem Freund, dem Barbesitzer. Da hing der Wagen an der Decke«, sagte er jetzt, als Maja eine Suppenschüssel aus Steingut auf den Tisch stellte, den Deckel abhob und die Dämpfe durch den Raum schweben ließ.

Dann hatte Wide Ard eine Trilogie von William S. Burroughs überreicht. »Die Länder im Westen«, las sie auf dem Umschlag. »Damit du eine Perspektive im Dasein findest«, hatte er gesagt und fast verlegen ausgesehen.

Maja hatte sich gegen das selbstverständliche Geschenk für Sten, eine Flasche Maltwhisky, entschieden und ein fast genauso selbstverständliches gewählt: Lyrik. Sie hatte eine schön gestaltete Ausgabe mit den gesammelten Gedichten des Chinesen Bei Dao gekauft.

Es wurde ein gelungener Abend. Sie hatte befürchtet, sie würden nicht von dem Fall lassen können. Sie wusste, dass Wide von seiner Warte aus auch daran arbeitete; aber vielleicht brauchten sie alle eine kurze Auszeit.

Das Essen war ausgezeichnet: die Croutons mit Knoblauch eingerieben, die Suppe mit Fisch und Schalentieren in einem warmen Teller, eine Rouille mit Cayennepfeffer. Göteborg war eine der ersten Städte der Welt, wenn es um Fisch und Schalentiere ging.

Maja Ards Arbeitsplatz war gefährdet. Darüber hatte sie Witze gerissen, sie selbst hatte davon angefangen.

»Es ist nur gut, dass sie sich jetzt an die Verwaltung ranmachen.«

»Das nenne ich den totalen Durchblick«, sagte Wide und tauchte ein Stück Weißling in die Suppe.

»Irgendjemand muss ihn ja haben, auch wenn es einen Arbeitsplatz kostet.«

»Dich schmeißen sie nicht raus. Und wenn, dann betrachte es als Chance, all das auszuprobieren, wovon dich dein Mann bisher immer abgehalten hat.«

»Mit anderen Worten, alles, was das Leben lebenswert macht.«

Sten Ard grinste, sog an einer Krebsschere und legte sie in die Schüssel für die Schalen und Gräten, die mitten auf dem Tisch stand.

»Maja träumt von der Freiheit.«

Seine Frau lächelte und hob das Glas.

»Stoßen wir an auf die Freiheit.«

»AUF DIE FREIHEIT!« Sie nahmen einen Schluck Wein, und dann stießen sie noch einmal auf den Fünfzigjährigen an, und Kajsa hielt eine kleine Rede, die sie »Rhetorische Fragen« nannte; danach hielt Jonathan Wide eine noch kürzere Rede, die persönlich und witzig war.

Kurz vor eins hatten Wide und Kajsa sich verabschiedet und ein gemeinsames Taxi bestellt. Sie hatte sich geweigert, Geld von ihm anzunehmen, als sie vor Wides Haus hielten. Er hatte ihr noch einmal die Hand gegeben und sie hatten »Tschüs« und »Bis bald« gesagt.

Ein anderes Mal. Sie konnte es sich vorstellen, mit diesem Mann zusammenzusitzen und zu reden, über Arbeit und Leben und Tod und die Lappalien dazwischen.

Sie hatten freundlich Witze gerissen über Ard und seine ständige Sorge, sein Körper könnte steif werden, und Wide versuchte zu zählen, wie oft der Chef Genickstarre gehabt hatte, hatte es dann aber aufgegeben, und sie hatte gelacht.