15

Seine Tage waren kurz gewesen, aber jetzt wurden sie länger. Wenn er morgens erwachte, hatte er das Gefühl, es lägen Jahre aus Steinen vor ihm. Er versuchte den Tag in kürzere Abschnitte einzuteilen, wurde aber immer wieder zum Porträt gezogen: Er konnte eine Stunde lang davor stehen bleiben, so kam es ihm vor, und das war auch schön. Dann war Zeit vergangen.

Er sprach immer häufiger laut, immer lauter sprach er, das stellte er fest, wenn er sich selbst zuhörte. Wenn es geschah, musste er sich in der Küche aufhalten, die Wörter sollten ja nicht zum offenen Fenster hinausschallen; all die Leute da draußen müssten sich ja sonst fragen, worüber er redete, oder?

Es war gar nicht schlecht, all das, was er sagte. Nichts, weswegen er sich eigentlich schämen müsste. Alles, was er sagte, war richtig und wahr, außerdem an der Zeit: Alles, was er damals hätte sagen sollen, wenn er es nur hätte aussprechen können, das eine Mal und dann das andere Mal und später noch einmal. Und noch später, aber dann war es besser gewesen, erst zu handeln und es danach zu sagen.

Es war ein Gefühl, als stiege er aus einem Fahrstuhl, der auf dem Weg in die Hölle angehalten hatte, als wäre er wieder aufwärts gefahren und ausgestiegen. So ein Gefühl hatte er jetzt, eine Weile war es so gewesen, aber die Gedanken waren nicht verschwunden. Die Ereignisse verschwanden nicht. Er war nicht mehr ruhig. Die Stimmen verschwanden nicht.

»Wo ist er abgeblieben?«

»Er ist da hinten um die Ecke abgehauen.«

»Wir schleichen uns von zwei Seiten an.«

»Wo ist er?«

»Ich glaub, er ist über den Hof gegangen.«

»Da! Da hinten am Wald!«

»Mensch, lauft doch!«

»Aua, Schei…, meine Jacke.«

»Er ist schnell, dieser Mistkerl … Er läuft auf den Berg zu, den schafft er nicht.«

»Diesmal entkommt er nicht.«

»He, du.«

»Jetzt haben wir dich.«

»Guckt mal, hier, ich hab seine Jacke zerrissen.«

»Was sagst du, blöde Hundeschnauze?«

»Du widerlicher Stinkstiefel!«

»Wir schlagen dich tot, du Ratte.«

»Komm doch her, du Pissnelke.«

»Der Busch da hilft dir überhaupt nichts.«

»Versuch ni…«

»Er versucht zu türmen. Haltet ihn!«

»Du Schei…, er hat mich geschlagen!«

»Dir werden wir’s zeigen … Uns schlagen, wie?«

»Du feige Sau!«

»Er tritt!«

»Gib ihm eins in die Eier. Wie letztes Mal!«

»Da, schmeck mal, du Arschloch.«

»Er weint.«

»Wie der rotzt!«

»Ekelhaft, du Saftarsch.«

»So, das kriegst du wieder.«

»Reib ihn fester ein!«

»Haltet ihn mal da fest.«

»Jetzt komm mit.«

»Wir bringen ihn in die Höhle.«

»Ist niemand da?«

»Ulla, guck mal nach.«

»Leg dich hin, du Arsch.«

»Hast du Tannennadeln in die Visage gekriegt?«

»Die Höhle ist leer.«

»Wir bringen ihn hin. Steh auf, du alter Pisser.«

»Er kann selber gehen.«

»Geh!«

»Er soll sich bücken.«

»Mach zu.«

»Reicht das?«

»Mach ganz dicht.«

»Hat jemand eine Taschenlampe?«

»Ich … Hier ist sie.«

»Was ist das denn?«

»Das Messer, das siehst du doch.«

»Willst du …«

»Das haben wir doch so abgemacht.«

»Aber jetzt …«

»Wir haben lange genug darüber geredet.«

»Zieh ihn aus.«

»Ich nicht.«

»Ulla! Zieh ihm die Hose runter.«

»Halt ihn verdammt noch mal fest!«

»Zieh ihn endlich aus!«

»Scheiße, wie der brüllt.«

»Jetzt kriegst dus, du Sau.«

»Da! Da! Da!«

»Scheiße. Auf der Jacke ist Blut.«

»Reib’s ihm rein.«

»Jetzt rein mit ihm.«

»Bah, was für dreckige Unterhosen.«

»Hast du dir in die Hose geschissen, du Sau?«

»Äh – bah!«

»Wo ist das Messer? Wo ist das Messer, hab ich gefragt?«

»Du hergelaufener Zigeuner!«

 

In jedem Viertel schien es mehr als ein Dutzend zu geben, lauter kleine Läden, die die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen bedienten: Getränke, Süßigkeiten, Chips, Zeitungen, Illustrierte und Pornohefte, die, wie sie irgendwo gelesen hatte, in England »skinmagazines« genannt wurden. Illustrierte, die nicht offen als Pornohefte daherkamen, erst wenn man sie aufschlug, was aber selten eine Überraschung für denjenigen war, der sie kaufte.

Skinheads. Skinmagazines. Kajsa Lagergren war einen und einen halben Tag durch Teile des westlichen Göteborg gefahren und gewandert, von Långedrag und Fiskebäck nach Påvelund, Hagen, Grimmered. Aber die Tante-Emma-Läden häuften sich vor allem in den Stadtteilen der Mietskasernen, Kungladugård, Majorna, bis zu den alten dreistöckigen Holzhäusern, die auf Steinfundamenten errichtet waren. Diese Art Häuser gab es nur in dieser Stadt und in dieser Konzentration. Wegen Brandgefahr waren nur zweistöckige Holzhäuser erlaubt gewesen, wenn sie sich richtig erinnerte; man hatte die Bestimmungen umgangen, indem man die beiden Stockwerke aus Holz auf einem Erdgeschoss aus Stein errichtete. Darin steckt auch ein bisschen Göteborger Humor, dachte sie. Die Häuser waren Teil des Kulturerbes geworden und in diesem Stadtteil herrschte fast eine Stimmung wie in den fünfziger Jahren. Hier hielten sich immer noch viele Fisch- und Gemüseläden, Fleischerläden, Schuhmacher, Fahrradwerkstätten, Hutgeschäfte für Damen, Herrenausstatter für jene, die nicht nach der Mode schielten.

In diesem Teil von Göteborg herrschte eine freundliche Familiarität, aber auch das Gegenteil davon. Der Stadtteil hatte traditionell immer eine Art Freistaat für die Unglücksraben der Gesellschaft dargestellt, die »Ausgestoßene« genannt wurden; aber es wurde nie gesagt, von wem sie ausgestoßen worden waren. Angstschreie hatten zur Geräuschkulisse des Viertels gehört, zusammen mit dem Sommergeschrei der Kinder, die in den Planschbecken unterhalb der Kungsladugårdsschule spielten, und der jaulende Fahrtwind der Straßenbahnen, die meistens mit der Regelmäßigkeit des Fahrplans vorbeifuhren.

Ein Freistaat war es immer noch, aber auch eine wildere, eine gefährlichere Gegend. In allen Stadtteilen von Göteborg war das Leben schwerer geworden, das las sie in den Gesichtern, denen sie jetzt begegnete: wilde Blicke, die ihre suchten, heftige Bewegungen in ihre Richtung. Die Verrückten mussten zusehen, wie sie klarkamen, aber das funktionierte nicht, niemand hielt Verteidigungsreden für sie. Vor einem Lebensmittelgeschäft wollte ein Mann mit bandagiertem Kopf die Straße überqueren, unter Einfluss von wer weiß was, aber als er vorwärts zu gehen versuchte, stieß er gegen die Wand neben sich. Auf der Straßenseite gegenüber saßen zwei Frauen, auch unter Einfluss von irgendwas, die Köpfe gegen die Wand unter dem Schild von dem Blumenladen gelehnt, was dem Ganzen eine Fröhlichkeit verlieh, eine makabere Fröhlichkeit, dachte sie und ging weiter nach Süden. An der Straßenbahnhaltestelle hatte sich eine Gruppe versammelt, fünf, sechs Personen, mit Flaschen und einem vorübergehenden Gruppengefühl. Als sich die Straßenbahn näherte, stürmte die Gruppe die Tür im letzten Wagen. Es dauerte eine Weile, ehe die Bahn weiterfuhr – wegen der beschlagenen Fenster und des Regens konnte sie nichts erkennen; aber sie sah, dass nach einer Minute einige andere Fahrgäste aus dem Wagen rannten. Eine Flasche wurde ihnen nachgeschleudert, sie zerbrach am Wartehäuschen.

Hier war sie als junge Polizistin in Uniform umhergefahren; es war noch gar nicht so lange her, aber sie hatte das Gefühl, als lägen Lichtjahre zwischen damals und jetzt.

War hier umhergegangen, war stehen geblieben und hatte sich etwas zu essen gekauft, ein Würstchen an der Bude am Mariaplan. Bullenfraß. Manchmal hatte sie Dienst mit einem anständigen männlichen Kollegen gehabt. Und jetzt war sie wieder hier, die Positive, Kajsa, denk positiv, und es gab ja positive Ergebnisse des Umstandes, dass die Gesellschaft so verdammt hart geworden war. Das Positive war, dass sich die Stimmung am Arbeitsplatz verändert hatte, als ob die Bullen kapiert hätten, dass man auch an sich selbst denken durfte, und das brachte es mit sich, dass man mit einer gewissen Moral vor sich selber auftreten durfte. Es gab einen alten verkommenen Geist im Dienst, aber ihr schien, dass jetzt eine neue Stimmung entstand, vielleicht eine Art Fürsorge an der Stelle, wo der Geist der Polizei eher einem Haufen Trainingsklamotten geglichen hatte, die nach einem verschwitzten Training über eine Woche in der Tasche vergessen worden waren. Verrottet.

Früher hatte die Polizei sich erst mit dem Scheiß der Rowdys auseinander setzen müssen, dann mit dem Scheiß von den Kollegen, erst recht sie als Frau – und das bildete sie sich nicht nur ein. Aber im letzten Jahr oder in den letzten beiden Jahren hatte sich etwas verändert. Die Realität hatte es notwendig gemacht. Wenn eine Frau eine Außenseiterin im Polizeijob gewesen war, so änderte sich das jetzt. Sie hätte es Unterdrückung nennen können, aber die Unterdrückung fand jetzt andernorts statt. Deutlich spürbar gab es sie in der Gesellschaft, und die Schikanen am Arbeitsplatz, die sich Mitte der neunziger Jahre wie Schleier von Gelächter über den Polizeiberuf gelegt hatten, was zu riesigen Schlagzeilen geführt hatte, diese Schikanen richteten sich nun geradewegs von oben gegen die Gequälten der Gesellschaft, und da schien auch den Miesesten im Dienst die Lust auf den eigenen Scheiß zu vergehen. Immer noch gab es eine männliche und eine weibliche Kultur am Arbeitsplatz, anders wäre es ja auch merkwürdig gewesen, aber irgendetwas Neues lag nun in der Luft.

Kajsa Lagergren ging die Kungsladugårdsgatan zur Högsbogatan hinunter, bog nach rechts ab und ging einige Hundert Meter weiter. Sie spürte die Feuchtigkeit durch den Regenmantel, aber ihre Entscheidung war richtig gewesen; sie hatte die Zeit, die sie diese Straße entlangging, gebraucht.

Vor der Pizzeria blieb sie stehen, trat ein, bestellte eine Margherita und setzte sich ganz hinten ins Lokal. Sie war der einzige Gast.

 

Nach einer Weile fühlte er sich etwas ruhiger; er wusste, dass er ruhig werden würde, wenn er durch den Park und die Stadt gegangen war und diesen Ort erreichte, wo er etwas wie Frieden empfand.

Das ganze Jahr hindurch hatte er dieses Gefühl. Vielleicht rührte es daher, dass hier draußen die Jahreszeiten so deutlich zu sehen waren und der Kontrast so groß war, wenn er ins Haus kam. Anfangs hatte er die Arbeit vermisst, aber nur zu Anfang, dann war es schön gewesen, hierher zu kommen, während er darauf wartete, dass andere Gesichter auftauchten. Er glaubte nicht, dass sie ihn inzwischen kannten. So oft kam er schließlich auch nicht hierher, oder? Außerdem war es teuer. Das Gebäude war so schön. Die Scheiben des Palmenhauses waren wie einladende Wände. Jetzt war er ruhig, und er ging hinein und ließ seine Seele von Glas und Grün umfangen, und er hatte das Gefühl, als träte er gleichzeitig in etwas Freundliches, Schönes.