20

Wide stellte das Auto beim Sozialamt ab und ging die Västra Hamngatan in nördlicher Richtung zur Domkyrkan. Er überquerte den Kirchplatz und ging weiter durch die stillen, dunklen Straßen zum Wasser hinunter. Der Samstagabend war kälter als die Abende im vergangenen Monat. Wide atmete kräftig aus und sah seinen Atem wie eine Wolke in der Nacht. Der Dezember nahte, massig und kühl, wie eine hohe Leiter, die die Leute hinaufkletterten, um das Licht und die Freude hoch dort oben in der jouletide zu erlangen. Der Dezember bedeutete Erwartung und das Glitzern in den Augen eines Kindes und Hyazinthenduft in der Stille. Und er war auch noch etwas anderes, etwas, was das Leuchten in den Augen eines Kindes jäh verlöschen ließ, wenn Erwachsene keine Kraft hatten, ihre Bürde bis zum Tag der Erlösung, dem 24. zu tragen. Aber daran wollte er nicht denken, jetzt schon gar nicht, da er hundert Meter entfernt die schimmernde Fassade der Oper von Göteborg sah.

Seine Oper nahm Wide ernst, vielleicht das Einzige, was er ernst nahm außer seinen Kindern, jetzt, wo er angefangen hatte, gegen den Alkohol zu kämpfen.

Schon als Jugendlicher hatte er sich für Zehn-Kronen-Karten in der Oper herumgedrückt, anfangs nicht wegen der Musik. Es war mehr das Großartige am Schauspiel, die Gesten voll inhaltsreicher Leere. Das Mienenspiel. Das Drama. Wahrscheinlich war er als Erstes vom Drama gefangen genommen worden, den häufig etwas unklaren, dünnen Erzählungen von Verrat und menschlicher Kleinlichkeit und Größe. Wide war ein Mann der sparsamen Gesten, wenn er nicht zu betrunken war. Der Betrachter musste schon sehr genau hinschauen, um das Drama seines Lebens zu entdecken, das in seinem Gesicht spielte, und vielleicht fühlte er sich deswegen von diesem allem sofort angezogen, was die Opernkunst dem Publikum mit Kraft entgegenschleuderte.

Am Nachmittag hatte er eine Weile in Eik Lindegrens Texten über Opernkritik gelesen, etwas über Puccini: der letzte große Opernkomponist im alten italienischen Stil, ein Mann, der ausschließlich Opern schrieb, für die Millionen draußen. Dass ihm zum Sterben unbehaglich war, wenn er nichts hatte, was er vertonen konnte. Nach der Premiere von Tosca am 14. Januar 1900 hatte Puccini sich wie »ein arbeitsloser Arbeiter« gefühlt.

Zwischen Tosca und Madame Butterfly lagen vier Jahre. Die Jagd nach einem neuen Libretto.

Hier drinnen erwartete ihn die Geschichte aus Japan. Er stand vor der Treppe, stieg sie hinauf und betrat das Haus, dessen Entstehung er mit Skepsis verfolgt hatte, und jetzt fragte er sich, warum. Vielleicht war es die kalte Arroganz, die er bei den Vertretern der Wirtschaft wahrzunehmen meinte, ein Hauch von Verachtung für andere und schlechter gekleidete Bühnenkunst oder Kultur. Ein Wunsch, im Licht der feineren Kunst gesehen zu werden, wovon die nicht das Geringste begriffen. Aber jetzt im Zentrum von Glas und Licht zum Fluss hin war ihm das egal; er gab seinen Mantel ab, bekam eine Plastikmarke, kaufte einer Frau in schwarzem Kleid mit kurzen schwarzen Haaren ein Programm ab, trank in der Bar ein Glas Weißwein und betrachtete dann diese Frau, die fünf Meter entfernt stand. Er sah den Umriss der Brüste unter dem Stoff; sie hatte schmale nackte Schultern, dünne Arme und ein breites Gesicht. Er vermutete, dass sie einen flachen Bauch hatte, ihre Brüste waren größer, als der schlanke Körper es zulassen sollte, die Hüften breit genug für die stabile Seitenlage und Gegenbewegung und … Himmel, er spürte, wie Hitze über seinen Hals schoss, als die Gedanken, schwer und geschwollen von Blut, zwischen seine Beine sackten. Plötzlich war er voller Begehren nach Lust mit dieser unschuldigen Frau.

Wide wandte den Blick zur Theke und las die Rollenliste (Darsteller, Interpreten …). Ard konnte einem Leid tun, mit dickem Kopf zu Hause; aber blockierte Sinne passten nicht zur Musik.

 

Er musste sich geschlagen geben. Dort im Parkett rechts, Reihe acht, Platz 263, nahm er die Architektur in Augenschein. Er hatte nicht auf dem Balkon sitzen wollen, schon gar nicht ganz oben mit dem Abgrund vor sich. Aber hier unten hatte er ein großes, schönes Gefühl, als er sich umschaute – das gedämpfte Gemurmel des Publikums, das seine Plätze aufsuchte, die Dissonanzen aus dem Orchestergraben.

Er hatte sich mit anderen über diese seelenlose Kathedrale unterhalten, aber da war er unwissend gewesen und hatte den Fehler begangen, sich über etwas zu äußern, wovon er keine Ahnung hatte.

Die Göteborger Oper war bereits für viele zur Kathedrale geworden, der Umzug war weit weniger schmerzhaft gewesen, als viele geglaubt hatten. Es war tatsächlich möglich, etwas Neues für vor langer Zeit geschaffene Werke zu bauen und für neue Werke. Es war möglich, eine neue Seele zu schaffen. Er spürte es.

Pinkerton schlenderte auf die Bühne. Es begann. Wide sah den falschen amerikanischen Leutnant, der bereit war, das Leben einer fünfzehnjährigen japanischen Geisha zu zerstören, die es doch eigentlich besser wissen müsste. Er setzte sich zurecht, schloss die Augen, öffnete sie wieder und gab sich der Geschichte hin.

In der Pause nach dem ersten Akt wollte er die Schlussszene so lange wie möglich nachklingen lassen, das schöne Bimbi dagli occhi pieni di malia mit Pinkerton und Cio Cio San im Hochzeitsbett, eine Trauung, die von Anfang an zum Tode verurteilt war.

 

»War es gut?«

Shaeffer hinter der Theke, Wide auf dem Hocker, in den er seinen Namen gravieren sollte.

»Es war gut.«

»Ein Klassiker.«

»Könnte es werden. Cio San war sehr gut, Nina Stemme. Sie war in Cortona engagiert.«

»Italien.«

»Wo sonst. Gib mir ein Glas Salentino.«

Wim Shaeffer öffnete die Rotweinflasche und schenkte ein. Wide holte Luft und nahm einen Schluck.

»Gut.«

»Möchtest du etwas dazu haben?«

»Der Tomaten-Auberginen-Pie sieht verlockend aus.«

»Das Grüne ist Basilikum.«

»Mag ich.«

»Dazu kannst du eine gegrillte Gänseleber haben.«

»Dazu? Ich glaub, ich esse ich wohl eher den Pie dazu.«

»Nur ein kleines Stück. Aber ich will dich nicht zwingen.«

»Dann lass ich mich nicht länger bitten.«

Eine Minute später war Shaeffer wieder da, schenkte Wide nach.

»Was für eine Version haben sie gebracht?«

»Die letzte, soweit ich sehen konnte.«

»Die Parisversion.«

»Ja.«

»Nicht so hartherzig.«

»Sie gefällt mir ganz gut. Pinkerton ist zwar ein Scheißkerl und seine Frau zu Hause ist auch nicht ganz unschuldig, obgleich sie genau das in dieser Version behauptet. Aber bei Pinkerton gibt es eine Andeutung von Reue. Das gefällt mir.«

Shaeffer schwieg. Er goss sich selbst ein kleines Glas Wein ein.

»Puccini mochte auch die abgemilderte Version lieber, wenn ich es richtig sehe.«

»Sagst du das, weil ich dir empfohlen habe, du sollst dich lieber von Puccini fern halten?«

»Nein.«

»Aber eigentlich hörst du gar nicht zu.«

»Nein.«

»Allem leistest du Widerstand.«

»Das stimmt nicht, nur Autoritäten.«

»Und ich bin so eine?«

»Im Augenblick bist du es, jedenfalls für die Gänseleber und den Pie, die da gerade kommen.«

Wide sog die Düfte vom Teller ein: Kräuter und liebliches, lebensgefährliches Fett und reife Tomaten.

»Sind hier auch sonnengetrocknete Tomaten drin?«

»Das ist der letzte Schrei. Wusstest du das nicht?«

»Ich dachte, im Augenblick müsste an allen Speisen Meerrettich sein.«

»Vergessen und begraben.«

»Ich mag Meerrettich.«

»Trotzdem, gone but not forgotten.«

»Das schmeckt gut zu Pasta.«

»Ja.«

Wide aß schweigend die kleine Portion.

Shaeffer kam zurück.

»Du weißt, dass Frauen mutige Männer bewundern, die sich über Autoritäten und Gruppendruck hinwegsetzen.«

»Da kriegt man doch gleich ein Gefühl von Geborgenheit. Wie steht es bei dir?«

»Ich empfinde dasselbe, aus meiner Perspektive.«

»Du hast keine Angst vor … Männern.«

»Jedenfalls nicht vor denen, für die ich mich interessieren könnte.«

»Glaubst du, ich hab Angst vor Frauen?«

»Nein.«

»Manchmal glaube ich es aber selber.«

»Wenn du aggressiv bist, dann hast du Angst vor Frauen. Die beiden Sachen passen nicht zusammen. Frauen scheuen die Aggressivität. Sei der, der du wirklich bist.«

»Wer bin ich?«

»Der, der hier vor mir sitzt und fähig ist, selber zu denken. Ein widerspenstiger Kerl. So was kommt an.«