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Er hatte sich verfahren, musste bei einem unbewohnten Hof drehen und fand endlich die Abzweigung vor der neuen Straße, die irgendwann in den letzten Jahren gebaut worden war. Ein Schild kündigte einen Badeplatz an. Wide bog nach rechts ab, fuhr an etwas vorbei, das vielleicht einmal eine Schule gewesen war, dann einen Kilometer weiter einen Schotterweg entlang, bis er eine kleine Abzweigung nach links sah. An der Einfahrt stand ein sehr altes Gestell für Milchkannen, wie zur Erinnerung daran, wie es einmal gewesen war.

Wide hielt an, nahm einen Zettel aus der Innentasche seiner Wildlederjacke und studierte die Handskizze, las die Anmerkungen am Rand: Beim Milchgestell abbiegen, 500 Meter weiter bis zu einem Hof, der Weg führt nach rechts einen Abhang hinunter in den Wald, wird schmaler, bis zum Ende fahren, ungefähr einen Kilometer. Dort ist es.

Er fuhr in den Wald, auf dem Weg zeichneten sich schwache Traktorspuren ab, aber sicher es war schon lange her, seit hier zuletzt ein Auto gefahren war. Das war kein einladender Weg.

Als er vorsichtig die letzten hundert Meter fuhr, tauchte das Haus wie am Ende einer Allee auf. Er hielt vor einem rostigen Tor, stieg aus und stellte erstaunt fest, dass sich doch Autospuren auf der Erde abzeichneten. Er bückte sich und betrachtete sie genau: Sie waren zwar schon alt, stammten aber auch nicht gerade aus der Vorzeit. Jemand hatte hier draußen etwas zu erledigen gehabt. Vielleicht ein Makler, jemand von einem Bausyndikat. Das Gebäude mit dem Anbau stand seit mindestens sechzehn Sommern leer. Eine Auseinandersetzung um Grund und Boden hatte den Abriss oder Umbau verhindert, aber Wide fragte sich, ob inzwischen irgendwas passiert war, obgleich der Streit beigelegt war. Das Grundstück, abseits gelegen und von dichtem Wald verborgen, war vermutlich nicht besonders attraktiv. Hätte es nicht in der Nähe den See gegeben, hätte hier vermutlich nie jemand gebaut.

Wenn es nach ihm ginge, würde hier auch nie mehr gebaut werden, jedenfalls kein Sommerlager. Nach seinen eigenen Erfahrungen in jenem Sommer war er kein Anhänger solcher Einrichtungen. Als Kind hatte er nicht begriffen, warum er sich von seiner Mutter trennen und zu einem siebzig Kilometer entfernten fremden Ort fahren sollte, um den Sommer mit sechzig anderen verschreckten, einsamen Kindern zu verbringen. Es war etwas weiter südlich in dieser Gegend gewesen, aber genau wie hier könnte es dort ausgesehen haben. Wide öffnete das Tor, das vor Rost kreischte. Vor ihm lag ein einstöckiges Holzgebäude; die weiße und gelbe Farbe blätterte ab, das Dach hatte auffallend viele neue Pfannen. Von hier aus wirkten viele Fenster intakt, und Wide vermutete, dass die Fenster im Erdgeschoss Licht in einen Speisesaal warfen und die oberen Schlafsäle erhellten. Er konnte sich selbst dort drinnen vorstellen, ein Kind, das sein Gesicht am ersten Abend gegen die Scheibe drückte und auf den fremden Wald und Weg starrte, einen Weg, der es erst nach einer Ewigkeit wieder von hier wegführen würde; die Geräusche und Bewegungen hinter dem Kind, als die anderen Kinder ihre Betten abdeckten für die erste Lektion »Betten machen«. Später die Stille, als er im Bett in dem Schlafsaal lag, dessen Wände sich nach außen wölben mussten von all den Sehnsüchten der Kleinen, die an jemanden weit Entfernten dachten, jemanden, an den man sich schmiegen konnte. Aber das Kind, das er war, sollte bald begreifen, dass viele der Kinder, mit denen er den Sommer verbracht hatte, zu Hause keine Geborgenheit erwartete.

Der erwachsene Jonathan Wide verließ das Kind am Fenster und ging nach links, zwischen dem größeren Gebäude und einem kleineren hindurch, in dem vielleicht die Betreuerinnen ihre Schlafräume gehabt hatten, junge Frauen, die in den Sommerlagern des Landes arbeiteten, als das schwedische »Volksheim« in all seiner Pracht errichtet wurde. Sie waren nett und ein wenig linkisch gewesen, erinnerte Wide sich. An dem Ort, wo er gewesen war, hatte die Leiterin sie in der Zucht des Herrn gehalten. So viel hatte er damals schon begriffen. Einige Male hatten die Kinder es auch zu spüren bekommen, aber nicht oft.

Er ging zum Wasser hinunter, der kleinen Bucht, die im Schutz einer Eiche mit einem geteilten Stamm lag. Der Platz für die Morgen- und Abendwäsche, fürs Bad unter strenger Aufsicht. Zu seiner Zeit waren sie nach dem Abendessen in Reih und Glied hinuntermarschiert. War es hier genauso gewesen? Er trat an den Wassersaum, hockte sich hin und legte die linke Hand auf die Steine unter der Wasseroberfläche. Das Wasser war kalt, aber nicht so kalt, wie er es erwartet hatte. Er ließ die Hand liegen und schaute über den See Hindsen, ein widerspenstiger, unfreundlicher Name, der zu diesem Binnensee mit gezackten Ufern und kleinen, verstrüppten Buchten passte, die er von hier aus sehen konnte. Bis in die Buchten hinein reichte das Licht nicht; wer Sonne im Gesicht haben wollte, musste sich einen langen Steg bauen oder mit einem Boot übers Wasser fahren. Auch die Bucht der Kinder erreichten die Sonnenstrahlen nicht.

Wide zog die Hand aus dem Wasser, das sich fast warm anfühlte, als er sie nach einer Weile in der kalten Luft wieder eintauchte. Er richtete sich auf, kehrte zu dem Gebäude zurück und stieg die kurze, abgetretene Treppe zu dem doppelflügligen Eingang hinauf, während er einen Schlüssel aus der Tasche zog. Aber ein großer Abstand oder besonders gutes Sehvermögen waren nicht nötig, um zu erkennen, dass ihm jemand zuvorgekommen war und das alte Schloss aufgebrochen hatte. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen. Wide zog einen Handschuh an, bevor er die Türklinke berührte und sich Zugang zum Haus verschaffte.

Wer war hier gewesen? Oder: Wer war als Letzter hier gewesen? Kaum denkbar, dass ein Gebäude wie dieses in all den Jahren keinen unerlaubten Besuch gehabt haben sollte. Ein Landstreicher oder mehrere? Jugendliche, die das Abenteuer suchten? Vermutlich. Verliebte? Eine Erklärung gab es immer.

Im Inneren des Gebäudes war es heller und geräumiger, als er erwartet hatte. Er war auch überrascht, wie intakt noch alles war, als ob die Anlage erst in der letzten Saison geschlossen worden wäre. Er sah den Staub in den rechteckigen Lichtflecken der Fenster, aber woran hätte man gesehen, dass es fast zwanzig Jahre alter Staub war? Er erblickte die langen Tische im Speisesaal und die Stühle darauf – einige waren vom Tisch heruntergerissen worden, aber nicht mehr als fünf oder sechs.

Der Saal schien auf Besuch und Leben zu warten, eine Hoffnung, dass Jugendliche herkommen und die Stühle von den Tischen heben und anfangen würden, mit den Bestecken zu klappern.

So hatte es damals ausgesehen, als er selbst Kind gewesen war, und er erinnerte sich an einen sonnigen Vormittag, als er und noch jemand Putzdienst im Speisesaal hatten. Wie die Sonne plötzlich wie ein Scheinwerfer durch ein Fenster hereingeknallt war und wie sie ihn getroffen hatte, wie er mit dem Mopp in der Hand stehen geblieben war und eine der Erzieherinnen das Radio lauter gestellt hatte, als der Hit des Sommers gespielt wurde, einer der wenigen Popsongs, die es damals gab, und wie er im Takt zur Musik mit dem Mopp über den Boden gefahren war, You better come home Speedy Gonzales, dadadarararara. Das hatte er nie vergessen. Es war die schönste Erinnerung jenes Sommers. Die einzige gute Erinnerung, aber vielleicht würde ihm ja noch mehr einfallen, wenn er genauer darüber nachdächte.

Jonathan Wide durchquerte den Raum und stieg die Treppe hinauf, die nicht so stark knarrte, wie er erwartet hatte. Es war, als hätte die Feuchtigkeit das Holz zu einer Masse zusammengezogen, die die Geräusche für sich behielt. Erst als er die oberste Treppenstufe erreichte, federte die geschliffene Tannenplanke unter seinem Fuß und gab ein kurzes Brmp von sich.

Hier oben befanden sich drei große Schlafsäle. Wide ging nach links und betrat einen Raum, in dem jetzt keine Betten mehr standen. Sie waren andernorts innerhalb der barmherzigen Gemeinde benötigt worden. Die Luft hier drinnen war kalt und dick, wie Wasser an der Grenze zum Gefrierpunkt. Er ging zum Fenster. Es war zweifach verglast; das hätte er dem Haus gar nicht zugetraut. Durch die leicht beschlagenen Scheiben konnte er den Rasen unten sehen, die Fahnenstange, die in einem schlechten Zustand war, nachdem hier jahrelang nicht mehr der »Tag der schwedischen Flagge« begangen worden war. Das nördliche Ufer, wo er nicht gewesen war. Die kleine Steinmauer, die den Hof umschloss. Das Tor. Sein Auto davor, ein fremdes Wesen und der hässlichste Gegenstand in seinem Blickfeld. Dahinter der Wald.

Wide stand mit geschlossenen Augen mitten im Schlafsaal. Dann verließ er ihn und ging in den Saal gegenüber. Er trat ans Fenster: die Bucht dort unten, wo er seine Hand ins Wasser gehalten hatte, die Eichen, der Spielplatz, auf dem immer noch ein Schaukelgestell stand, das jetzt so verrostet war, dass nicht mehr zu erkennen war, welche Farbe es einmal gehabt hatte.

Wer kann schon erkennen, welche Farbe wir einmal gehabt haben, dachte er und hielt die Formulierung in seinem Kopf fest. Die sagte etwas aus. War er ein Dichter?

Wide verließ den Raum, ließ die oberste Treppenstufe aus, hörte aber trotzdem ein Brmp von der zweitobersten, als seine sechsundachtzig Kilo darauf landeten. Unten entdeckte er eine Tür, die er vorher nicht gesehen hatte, ganz hinten im Speisesaal vor der kleinen Eingangshalle.

Die Tür war angelehnt, er drückte leicht dagegen und schaute in einen mittelgroßen Raum. Die Wände rundherum waren mit Vorratsregalen bedeckt. Die Regale waren leer. Er betrat den Raum und entdeckte ganz hinten auf einem breiteren Regalbrett einen ordentlich gestapelten Haufen: Militärdecken oder typische Decken, die es immer in einem Sommerlager gegeben hatte, zwanzig Decken oder mehr.

Wie lange lagen sie hier schon? Warum waren sie liegen geblieben? Wide musterte den Stapel. Er war größer gewesen, höher. Nein. Das war verdammt weit hergeholt. Darin lag ein Symbolwert. Aber war er nicht deswegen hier? War seine Reise denn etwas anderes als eine Suche in einer weit entfernten Vergangenheit? Warum fand er einen halbhohen Stapel Decken? Es muss etwas zu bedeuten haben, dachte er, und plötzlich wurde ihm sehr kalt.

Was war hier passiert? Innerhalb dieses Gebäudes, an diesem Ort – hatte sich etwas Entsetzliches abgespielt. Wide war seiner Sache sicher wie jemand, der nichts weiß, sich aber umso stärker auf sein Gefühl verlässt.

Draußen hatte ein sanfter Landregen eingesetzt; das war der Unterschied zum Meer, das in Göteborg gemeinsame Sache mit dem Himmel machte und mit lauter Stimme Aufmerksamkeit verlangte. Wide hatte vergessen, wie leise ein Herbstregen in Småland sein konnte. Er hob sein Gesicht, aber der Regen schien an ihm vorbeizufallen und seine Haut nicht zu berühren. Wide öffnete das quietschende Tor, ging an seinem Auto vorbei und in den Wald dahinter. Der war sehr dicht, als ob Wildnis und Boden sich nachdrücklich in Erinnerung bringen wollten, wenn es dem Himmel nicht gelang.

Als er in der Anstalt gewesen war, eine Bezeichnung, die er passend fand, war es vorgekommen, dass Kinder aus dem Gebäude in den Wald geflohen waren. Der Ruf hatte sich unter den anderen fortgepflanzt: »Lasse ist abgehauen!« Aber meistens war es ein Spiel gewesen mit einem Anflug von Ernst, eine Art halb verzweifeltes Versteckspiel, das vorbei war, bevor sich die Dunkelheit der kurzen Nächte herabsenkte. Wie war es hier wohl zugegangen? War jemand »abgehauen«? Er musste Siv Karlsson danach fragen, ob sie sich an dergleichen erinnerte. Aber ihre Erinnerungen waren so schwach gewesen. Er hatte sie verstanden, er konnte sie buchstäblich sehen unter den kleinen Mädchen damals, abends weinten sie nach jemandem im Mädchensaal und drückten sich tagsüber an den Hausecken herum.

Wide ging tiefer in den Wald, der eher ein Dickicht war. Es gab nur wenige freie Flächen, er musste große Schritte über Reisig und kräftige Äste machen, die einen zweiten Boden über dem Waldboden bildeten.

Hundert Meter weiter entdeckte er einen Reisighaufen, der bearbeitet aussah, aber nicht von der Natur. Er ging näher heran, und da sah er die Hütte: Wacholderbeeren, die von der Zeit fast balsamiert und hart wie Stein geworden waren, Bretter und Gerümpel und Tannenzweige. Wann war diese Hütte gebaut worden? Wide wusste, dass so etwas sehr lange Bestand haben konnte, wenn man pfleglich damit umging.

Er drang noch fünfundzwanzig Meter weiter vor, aber das war gleichsam, wie sich in einen Dschungel zu bohren; er kehrte um, folgte seiner eigenen Spur und ging zurück zum Auto.

 

Der Tag war vorbei, als er im Zentrum parkte und zur Redaktion der Värnamo Nyheter schräg gegenüber vom Kaufhaus hinaufging.

Peter Sjögren hatte mit der Erfahrung eines Journalisten behauptet, man müsse bei der lokalen Medienmacht anfangen zu suchen, wenn man in einem fremden Gebiet nach Informationen sucht, und diesen Rat befolgte er.

Er hatte wirklich eine seltsame Frage, und die Redaktion war im Moment zu jung, um darauf antworten zu können, aber wenn er eine Weile wart…, ach, da kam er ja gerade, und Göte Jonsson war vermutlich der Einzige, der vielleicht etwas wusste.

Göte Jonsson war Chef vom Dienst und würde im nächsten Jahr in den Ruhestand gehen, ein Mann, der das meiste gesehen und gehört hatte und sich an Hindsekind erinnern konnte. So furchtbar lange war es ja noch gar nicht her, dass das Ferienlager geschlossen worden war, und das war nur gut so. Göte Jonsson gefiel die Vorstellung nicht, dass man Kinder wie eine Herde Kälber zusammengepfercht hatte.

Bilder? Nein, damit konnte die Zeitung nicht dienen, obwohl man das vielleicht vermuten sollte. Das Sommerlager hatte einen Vertrag mit einem ortsansässigen Porträtfotografen gehabt. Mal drüber nachdenken … Wenn Wide ein Weilchen Geduld hätte, würde er ein bisschen rumtelefonieren.

»Sehr nett von Ihnen.«

»Sind Sie übrigens selber Småländer? Da ist etwas in Ihrer Sprechweise …«

»Ich hab ein paar Jahre in Sävsjö gewohnt.«

»Ach du Scheiße.«

»Wieso?«

»Sind Sie kürzlich mal dort gewesen?«

»Nein.«

»Fahren Sie hin, dann werden Sie sehen.«

»Sävsjö kann sich wahrscheinlich nicht mit Värnamo messen.«

»Nichts kann sich mit Värnamo messen. Värnamo ist der Mittelpunkt. Jönköping hat zum Beispiel den Ruf, Smålands Jerusalem zu sein, aber wir hier halten den Weltrekord freier Kirchen.«

»Wirklich?«

»Bei Gott, so ist es. Ich bin nicht religiös, aber man kriegt einen Zorn, wenn Recht nicht Recht ist. Wir sind die Besten hier in Värnamo, wenn es um Gott geht, vielleicht sogar die Besten auf der ganzen Welt. Die Leute kapieren es bloß nicht.«

»Was für eine Sünde.«

»Sünde? Nein, ich rede von Gottes Güte. Mit Sünde beschäftigen wir uns hier nicht.«

Göte Jonsson war offenbar ein Weltmeister im Zynismus, aber jetzt entschuldigte er sich und telefonierte eine Weile.

»›Natanaels Porträt‹, beim alten Polizeigebäude. Sie haben Glück.«

»Scheint so.«

»Schöner Name für eine Firma, was? Und der Alte ist im Augenblick sogar im Laden. Er hat ihn gegründet und wird ihn an seinem letzten Tag mit in den Himmel nehmen. Wenn einer ein gutes Porträt vom Herrn machen kann, dann ist es Natanael.«

Der zukünftige himmlische Hoffotograf wartete hinter dem Tresen, als Wide, Jonssons Anweisungen folgend, den Marktplatz und die Kreuzung überquerte und die wenigen Schritte bis zu dem Schild »Porträt« ging, das ihm in grün schimmerndem Reklamelicht durch den düsteren Nachmittag entgegenleuchtete, und den Laden betrat.

Dieser Mann hatte die Kinder da draußen fotografiert. Es war überhaupt seine Idee gewesen.

»Eigentlich sollte damals jedes Kind ein Foto von der ganzen Gruppe mit nach Hause nehmen, aber mit den Bestellungen war das so eine Sache.«

»Wollten nicht alle eins haben?«

»Doch, schon, aber wer sollte sie bezahlen?«

»Sie bekamen die Bilder nicht geschenkt?«

»Wer sollte sie ihnen schenken? Da draußen herrschte nicht gerade Überfluss. Soweit ich verstanden habe, kamen manche Kinder aus schrecklich armen Verhältnissen. Schrecklich arm, ein Elend war das zu der Zeit«, sagte der kleine Mann, der vor Wide stand, und fügte mit einer Grimasse hinzu: »Und heute ist es kaum besser.«

Natanael Maars war mager und dunkel. Wide vermutete, dass er an die siebzig war, aber er bewegte sich flink und sicher, und in seinen Augen war eine Schärfe, die klare Antworten auf Wides Fragen versprach.

»Ich würde gern einige Fotos von früher sehen, falls das möglich ist.«

»Ja?«

»Und zwar vom Sommer 1961 und ’62.«

»Das ist lange her.«

»Haben Sie damals mit dem Fotografieren angefangen? Mit Kinderfotos?«

»Hhmm … ja, das habe ich.«

»Sind noch Negative vorhanden?«

»Natürlich gibt es Negative. Hier herrscht Ordnung.«

»Ich würde die Bilder von diesen beiden Sommern gern kaufen.«

»Zwei Bilder.«

»Ja.«

»Heute ist das nicht zu schaffen.«

»Aha.«

»Morgen früh, um neun können Sie sie abholen.«

»Das wäre prima.«

»Größe?«

»Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, A4 oder so.«

»Darf man fragen, wofür Sie die brauchen?«

Was sollte Wide antworten? Dass er sich auf einer Suche in der Vergangenheit befand? Er sprach von der Atmosphäre des Sommerlagers, ließ aber mehr aus, als er sagte. Natanael Maars wiegte den Kopf.

»Ich hab mich da draußen nie wohl gefühlt. Für die Kinder mag es ja einen Moment nett gewesen sein, als ich die Kamera aufstellte und sie sich zusammendrängelten und kicherten, aber wirklich fröhlich ging es dort nicht zu. Das war ein Ort, wo sich niemand wohl fühlte.«

 

Wide hatte sich auf eine Übernachtung eingestellt: Unterhose, Strümpfe, T-Shirt, ein hellblaues Baumwollhemd und Ersatzjeans. Ein Necessaire mit den bescheidenen Hygieneartikeln eines Mannes. Hemingways »The First Fortynine Storys«, die er kürzlich bei einem Buchhändler zu Hause gefunden hatte. Er stellte das Auto auf dem Parkplatz des Stadthotels ab, nahm die Tasche, die aus einem kräftigen blauen Gewebe bestand, und buchte ein Zimmer mit Fenster zum Marktplatz, auf dem sich um diese Zeit, halb sechs, nur wenige Menschen bewegten.

Er schüttelte sich die Schuhe von den Füßen, zog die Jacke aus und ließ sie auf den Boden fallen, streckte sich auf dem Bett aus und spürte, wie seine Muskeln erschlafften. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, sah auf die Uhr: zwanzig vor sechs. Wenn er den letzten Kurzfilm in seinem Leben rasch rückwärts laufen ließ, würde er in Schuhe und Kleider schlüpfen und es gerade noch zum Schnapsladen schaffen, falls es in diesem frommen Ort einen gab. Er blieb still liegen, die Gelüste in Gedanken und den müden Körper daneben ausgestreckt, und bevor er eine endgültige Entscheidung getroffen hatte, war er eingeschlafen.

 

Wide hatte von Körpern geträumt, die auf dem Wasser trieben, und erwachte von einem Zucken in seinem rechten Bein. Über seinem Kopf brannte die Bettlampe, er lag still und war vier Sekunden lang vollkommen desorientiert. Dann stellten sich seine Augen auf das Zimmer ein, alles gedämpft grau, und ihm wurde klar, wo er sich befand. Er setzte die Füße auf den dünnen Teppichboden und stand auf, zog sich aus und ging nackt ins Bad. Dort konnte er den Lichtschalter nicht finden, tappte zurück in den dunklen Vorraum und entdeckte die Schalter vor der Badtür. Er knipste das Licht an, das ihn blendete.

Wide steckte den Stöpsel in die Badewanne und ließ heißes Wasser einlaufen. Er stellte sich vor die Toilette und leerte seine Blase. Er schien minutenlang zu pinkeln und hatte ein Gefühl, als hätte er nicht mehr gepinkelt, seit er Göteborg verlassen hatte. Aber er hatte nichts weiter getrunken als den Kaffee bei Siv Karlsson und nicht mehr gegessen als ihre Käsebrote. Die dicke Butterschicht auf dem Brot hatte ihn am Leben erhalten.

Er spülte, wusch sich nachlässig die Hände, ging noch einmal ins Zimmer und öffnete die Minibar. Wide nahm die kleine Whiskyflasche und ein Bier heraus, schraubte den Deckel ab und goss Johnny Walker Black Label – ein typischer Hotelwhisky – in eins der hohen Gläser, die in Plastik gehüllt auf dem Kühlschrank standen. Daneben sah er den Flaschenöffner. Er nahm die Bierflasche und das Whiskyglas mit ins Bad und stellte das Wasser ab. Die Badewanne war zu einem Drittel gefüllt. Flasche und Glas stellte er auf den Boden und steckte einen Fuß ins Wasser. Es war heiß. Langsam tauchte er den Fuß ganz ein, dann den anderen, und als er in der Wanne stand, senkte er den Körper langsam in das blau schimmernde Wasser, bis es an seinen Hoden brannte. Er richtete sich ein Stückchen auf und senkte sich dann wieder hinein, diesmal ein bisschen tiefer und noch ein bisschen, und schließlich saß er in der Wanne, lehnte sich zurück, und als sein Kopf den Rand berührte, atmete er die angenehmen Dämpfe im Raum ein und tastete nach der Bierflasche auf dem Boden.

Sein Körper war weich und warm, als er sich rasierte; er wechselte die Kleidung und verließ das Zimmer. Es war fast halb zehn. Aus dem Restaurant, zwei Stockwerke unter ihm, hörte er leise Musik.

Wide ging nach unten, durchquerte die Lobby und betrat das offene Lokal, das von Tischlampen erleuchtet war. Der begrenzte Schein warf Halbkreise über die Tischkanten auf den Boden. Er setzte sich an einen Tisch für zwei Personen und bestellte ein Bier. Der Kellner hatte ihn schon kommen sehen, und als das Bierglas vor ihm stand, las Wide die kurze Speisekarte und bestellte eine Maräne. Dann hob er den Blick. Im Restaurant saßen mehr Gäste, als er vermutet hatte, überwiegend Männer in seinem Alter, vermutlich Vertreter. Sie steckten in Anzügen, die offenbar zu ihrem Outfit gehörten, das sie immer noch trugen, obwohl das Reisen und Zum-Kauf-Überreden für diesen Tag beendet war. Er sah sich diskret um. An einer langen Tafel neben einer etwas erhöhten kleinen Bühne saß eine Gruppe Frauen, die etwas zu feiern schien. Eine der Frauen erhob sich und hielt eine Rede, aber Wide konnte sie von seinem Platz aus nicht verstehen. Das Orchester machte gerade eine Pause, aber das Gemurmel der Gäste erstickte die Worte. Alle Männer, die er sah, trugen Anzüge, weiße Hemden und Schlipse. Wide registrierte es, aber er fühlte sich nicht fremd in seinem grauen T-Shirt, dem hellblauen Hemd, schwarzen Jeans und schwarzen Boots. Jetzt brachte der Kellner den Fisch. Er schmeckte ausgezeichnet.

Nach dem Essen blieb Wide noch eine Weile beim Kaffee sitzen, Alkohol wollte er keinen mehr. Er sah die Band zurückkehren und hörte kurz darauf wieder die Musik: Sie handelte von Liebe und ähnlichen Beziehungen, war mit den richtigen falschen Phrasen vertont und wurde begleitet vom Bass. Wide hatte keine besondere Meinung über diese Musik, außer dass sie ihm missfiel. Aber er verstand ihre Funktion, und er sah sie jetzt auch, als Männer und Frauen auf dem kleinen schachbrettartigen Tanzboden aufeinander zutraten für einen Tanz der späten Jahre.

Er zahlte und stand auf. Da sah er, wie die lange Tafel mit den Damen von Herren in Sakkos umschwärmt wurde, die alle scharfe Falten auf dem Rücken hatten. Es war, als ob eine Horde Drohnen den Duft von Honig geortet hätten, oder von Weibchen. Als Wide gerade gehen wollte, stieß er leicht mit einem Mann zusammen, der sich dem Tisch der Damen auf etwas unsicheren Beinen näherte, den Blick auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, und Wide überlegte, ob der Mann wohl gerade übte, was er sagen würde, wenn er an den Tisch kam. Lieber Gott, lass mich nicht eine geile, angetrunkene Drohne im Anzug in einem Stadthotel werden, wenn ich einmal älter bin, dachte Wide und nahm den Fahrstuhl zu seinem Zimmer hinauf.

Er setzte sich an den Schreibtisch, knipste alle Lampen aus, nur die über dem Tisch nicht, nahm einen Stift zur Hand und dachte über den Tag nach.

Er war sich noch nicht im Klaren darüber, was er da gesehen hatte. Darüber musste er schlafen und nachdenken. Er zog einen Bogen Hotelpapier heran und notierte das Datum darauf, so, wie es ein Dichter machen würde. Dann schrieb er:

 

Vor dreißig Jahren

 

ich habe die jahre rückwärts gezählt

im takt der lamellen

hab die abzweigung verpasst

 

jetzt sind wir angekommen

einige nachzügler der sonne leuchten in deinem haar

die strahlen bündeln sich

oben auf deinem kopf

 

niemand ist zu hause

aber das habe ich auch nicht erwartet

eine tür schlägt im takt zu

speedy gonzales

der plötzlich in meinem kopf tönt

you better come home

töntesinmeinemkopf

 

im erdgeschoss suche ich die wände mit blicken

ab über dem südlichen türrahmen

sehe ich das foto

die ganze familie versammelt

ich sitze auf einem ast, nur das gesicht ist zu sehen

einige strahlen leuchten in meinem weißen haar

 

ihr wart so viele, sagst du

 

Wide legte den Stift weg und las das erste Gedicht, das er in seinem Leben geschrieben hatte, falls es ein Gedicht war. Er lächelte, sein Gesicht straffte sich, er rieb sich die Stirn und spürte wieder die Müdigkeit im Körper. Dann zerriss er das Blatt in Streifen und warf es in den Papierkorb, in dem nur der Deckel der Bierflasche lag.