21
Janne-Janne rannte. Himmel, er konnte rennen, wenn er musste, und jetzt musste er. Als ob der Schnapsladen in diesem Augenblick für alle Ewigkeit dichtmachte. Die Reflexe waren nicht verloren gegangen, einmal hatte er in der Schule den Sechzig-Meter-Lauf gewonnen. Noch war Leben in ihm, und er wurde nicht mal müde, obwohl er schon fast oben auf dem Sprängkullen war.
Dieses Gesicht – als es gewissermaßen zu seinem Gesicht heruntergeflossen war, da dachte er, er müsse auf der Stelle sterben; er wusste nicht, was ihn veranlasst hatte zu reagieren, aber das war schon mal passiert. Vor vielen, vielen Jahren hatte er auf einer Parkbank in Kopenhagen geschlafen und war aufgewacht, weil er so verdammt durstig war. Drei Dänen hatten sich genähert, er hatte sie gefragt, wo es etwas zu trinken gebe, und sie hatten sich bereit erklärt, ihm den Weg zu zeigen. Unten am Hafen merkte er, dass einer von denen plötzlich hinter ihm ging und die anderen beiden an seiner Seite, und mitten in einem Satz, den er gerade von sich geben wollte, hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und war über widerhallendes Kopfsteinpflaster davongestürmt.
Und diese Taktik hatte er auch diesmal angewandt. Er war unter dem Arm des Großen weggetaucht und davongestürmt wie eine Antilope, zurück durch den Park und an der Kirche vorbei, ohne den schlafenden Sixten zu stören oder ihn zu warnen. Erst beim Skanstorget wurde er langsamer.
Scheiße, was sollte er jetzt tun? Verfolgte der andere ihn? Nein. Sollte er umkehren und sich vergewissern? Nee, vielen Dank.
Janne-Janne sah sich um, aber das gab ihm keine Sicherheit. Sollte er sich beruhigen? Er versuchte es, aber das konnte dauern.
Vielleicht hatte überhaupt keine Gefahr bestanden. Hatte er sich vielleicht in der Person getäuscht? War es wirklich der, der Decken über Jungs breitete, die an der frischen Luft lebten? Nach dem die Polizei suchte?
Janne-Janne beschloss, sich zu beruhigen. Es könnte ja auch ein ganz anderer gewesen sein. Der sich gefragt hatte, warum der Kerl ihm dauernd folgte. Der nur ein paar freundliche Worte wechseln wollte. Dass er oben im Hagapark gestanden und sie beobachtet hatte, war vielleicht nur ein Zufall. Und so weiter und so weiter.
Sollte er wieder zur Polizei gehen? Wieder vor einem riesigen Computerbildschirm stehen und so lange reden, bis ein Gesicht entstand? Aber wenn es ein unschuldiges kleines Lamm aus Gottes Hain war? Darüber musste er nachdenken. Uff, war das ein harter Abend gewesen. Jetzt brauchte er Kraftstoff, das war mal sicher wie das Amen in der Kirche.
Jonathan Wide verließ die Såggatan zehn Minuten vor neun, es war Viertel nach, als er an Kallebäck vorbei auf die Autobahn in östlicher Richtung fuhr, Göteborg im Rückspiegel. Der Wetterfrosch im Radio hatte für diesen Tag unverändertes Wetter vorausgesagt, aber Wide wusste, dass sich die chronischen Inkontinenzbeschwerden des Novembers in Kürze zeigen würden. Im Augenblick sah der Himmel aus wie mit einer dünnen Plastikschicht bedeckt; sie war durchsichtig und gemächlich erstickend, gefüllt mit Nässe, die nur auf den richtigen Moment wartete, um sich auf alle Abarten der Menschheit zu stürzen.
Wide fror, die Heizungsanlage im Auto hatte eine neue Macke, und er merkte, dass es besser wurde, wenn er den Regler beim Fahren mit der rechten Hand festhielt. Es war eine verdammt unbequeme Art, Auto zu fahren. In Höhe von Bollebygd gab er auf und steckte eine Kassette in das Abspielteil des Radios, das in einem Knäuel von Kabeln lose auf dem Handschuhfach lag. Emmylou Harris sang für die Wälder und Gewässer und die finsteren Randgebiete von Borås, was in Wide ein schmerzliches Gefühl weckte, das ihm ziemlich echt vorkam. Most novembers I break down and cry cause I can’t remember if we said goodbye. Das geht einem zu Herzen, da der Monat doch so gern beim Weinen hilft, dachte Wide, als er durch Borås fuhr, das schwachsinnige Planer zwei Meter neben den Schlafzimmerfenstern der Stadtbewohner mit dieser Autobahn durchgeschnitten hatten. Schon das genügt, dass man weinen möchte, dachte er, tat es aber nicht. Bis vor kurzem hatte das Land einen Ministerpräsidenten gehabt, der aus dieser geteilten Stadt stammte, und Wide hatte den Verdacht, dass die Heiserkeit des Mannes durch all das Rumgebrülle in seiner Jugend entstanden war. Quer über das Niemandsland der Verkehrsführung, das ihn von seiner Herzallerliebsten auf der anderen Seite trennte. Aber damals gab es die Autobahn wohl noch nicht, dachte Wide, hielt das Bild jedoch noch eine Weile fest, weil es ihm gefiel.
Vor zwölf erreichte er das Zentrum von Värnamo. Er kam an einem großen Ziegelbaukomplex vorbei, den er für eine Schule hielt, was ihm einige Sekunden später ein Schild am Giebel bestätigte: Finnvedsschule, in drohendem Schwarz wie eine letzte Warnung an die erst halbwegs gebrochenen Seelen. Jonathan Wide konnte sich nicht erinnern, dass er sich in diesem Schulsystem jemals zu Hause gefühlt hatte.
Er fuhr in Richtung Süden, bog in ein Villenviertel ab, das menschenleer zu sein schien, wenn die Kinder nicht zu Hause waren, hielt im Rönnbärsvägen vor einem Souterrain, das mit weißen Ziegeln verkleidet war, und stieg aus. Er reckte sich, so diskret er konnte. Die ganze Strecke von Göteborg war er ohne Pause gefahren, und das bereute er jetzt. Hunger hatte er auch. Er fragte sich, ob er dort drinnen eine Tasse Kaffee und einen Happen zu essen bekommen würde.
»Eine Tasse Kaffee? Möchten Sie etwas dazuhaben?«
Die Frau war in seinem Alter, jedenfalls sollte sie das sein, und sah doch nicht mal wie fünfunddreißig aus, noch nicht einmal wie dreißig, und legte es nicht darauf an, so zu wirken. Sie musste um die vierzig sein und war genau wie Wide in den frühen sechziger Jahren im Sommerlager gewesen – genau wie Rickard Melinder.
Außerdem war sie am Hindsen im Sommerlager gewesen – Värnamo war nicht von Feuersbrünsten heimgesucht worden und die Listen waren erhalten. Aus ihnen ging hervor, dass sie gleichzeitig mit Melinder dort gewesen war, im Sommer 1962.
Wide wäre am liebsten sofort hinausgefahren und dann wieder hierher, aber sie hatte am Vormittag zu tun. Sie sah aus, wie ihre Stimme am Telefon klang: ruhig, nahm sich Zeit nachzudenken, ehe sie antwortete.
»Gern einen Kaffee.«
»Ich hab ein paar Käseschnitten vorbereitet.«
»Wunderbar, danke.«
Sie verließ den spärlich möblierten Raum: Parkett, ein antiker Schrank, der teuer aussah, eine Sitzgruppe, mit einem dünnen, einfachen Stoff bezogen, dessen Design Wide gefiel; außerdem war der Sessel, in dem er saß, bequem. Durch eine Tür konnte er in ein Zimmer sehen, das mit Bücherregalen gefüllt zu sein schien. Eine moderne Großvateruhr tickte quer durch den Raum, in dem er sich befand. Das Geräusch klang beruhigend.
Die Frau kehrte mit einem Teller belegter Brote zurück. Der Kaffee stand schon auf dem Tisch, die Tassen daneben. Ihr Name, Siv Karlsson, war direkt und simpel, wie ihre Körperformen. Sie setzte sich.
»Sie haben sich also unter den Unglückskindern des Ortes umgehört.«
»Wollen Sie das so nennen?«
»Na ja, ein bisschen war es doch so. Es waren ja nicht gerade die Kinder reicher Leute, die in Sommerlager verschickt wurden.«
»Verschickt wurden?«
»So fühlte es sich gewissermaßen an, man wurde dorthin verfrachtet. Ich hab in Gislaved gewohnt, das ist gar nicht so weit von Värnamo entfernt, aber es hätte ebenso gut Härjedalen oder sonst wo gewesen sein können. Man fühlte sich so weit weg von zu Hause. Schließlich war man erst neun.«
»Verfolgt Sie die Erinnerung?«
»Nicht, dass es mir schlaflose Nächte bereitet hat. Aber was für eine seltsame Zeit das gewesen sein muss. Mit neun Jahren einen ganzen Sommer weg von zu Hause – und meine Mutter durfte mich in all den Wochen nur ein einziges Mal besuchen. Mir ist es unvorstellbar, dass ich meine Tochter als Neunjährige oder in sonst einem Alter einen ganzen Sommer weggeben sollte und sie nicht treffen dürfte.«
»Ich verstehe.«
»Sie wissen es ja selber, da Sie auch in einem Sommerlager waren.«
»Ja.«
»Außerdem muss man sich fragen, warum Eltern das zugelassen haben. Aber es war eben eine andere Zeit. Meine Mutter hatte es schwer, allein mit mir und mehreren kleinen Geschwistern. Sie brauchte Entlastung.«
Wide biss in eine Brotschnitte und nahm den Geschmack nach echter Butter und kräftigem Käse wahr.
»Wie war denn der Sommer im Sommerlager?«
»Es ist seltsam, aber ich kann mich kaum erinnern. Eigentlich müsste es doch genau umgekehrt sein, schließlich war es eine ganz neue Erfahrung. Aber anfangs war ich vermutlich etwas geschockt – die vielen Kinder, die Betreuerinnen, der Vorsteher, der große Speisesaal, in dem es klirrte und klapperte. Die Schlafsäle. Manchmal kommt es mir in der Erinnerung so vor, als wäre ich als neunjähriges Mädchen zum Militär einberufen worden.«
»Sie sagen, es war eine Art Schock. Haben Sie ihn dann überwunden?«
»Nach einer Weile schon. Man findet Freundinnen. Da waren ein paar Mädchen, mit denen hab ich immer gespielt, das ist mir eingefallen, nachdem wir miteinander telefoniert hatten. Ich erinnere mich auch an einen Namen, aber an nicht mehr.«
»Sie haben also darüber nachgedacht.«
»Weil ich so viel rede? Vielleicht. Irgendwann will man wohl darüber reden.«
»Ja.«
Eine Weile schwiegen sie, Wide hörte keinen Laut von der Straße. Das Tick, tick, tick der Uhr rahmte das Gespräch ein. Die Frau schenkte ihm Kaffee nach.
Er öffnete den Umschlag, den er mitgebracht hatte.
»Ich habe hier ein Bild und möchte, dass Sie es sich anschauen.«
»Darf ich mal sehen.«
Er nahm das Foto von seiner eigenen Schule heraus, auf dem die Sonne durchs Fenster schien und alle Kinder in kleine Engel verwandelte.
»Das ist ja ein Klassenfoto. Mal sehen, ob ich Sie erkenne.«
Sie schaute genau hin, er wartete, sie hob den Blick und tippte auf ein kleines Gesicht auf dem Bild.
»Da.«
»Genau.«
»Sie gucken ein bisschen störrisch, wenn ich das sagen darf.«
Wide legte ihr ein anderes Foto vor.
»Noch ein Klassenfoto.«
»Ja. Auf diesem Bild ist ein Gesicht, das auch im Sommerlager war, jemand, der im selben Sommer dort war wie Sie.«
»Den ich wiedererkennen soll? Dann war das erste nur ein Test?«
»Nicht direkt. Ich weiß auch nicht, warum ich es Ihnen gezeigt habe. Sie sind mir doch nicht böse?«
»Nein, nein. Aber Menschen verändern sich unterschiedlich. Sie scheinen eine Menge erlebt zu haben, wenn ich das so ausdrücken darf; trotzdem haben Sie sich seit Ihrer Kindheit nicht vollkommen verändert. Bei anderen ist das nicht so.«
»Stimmt.«
»Jetzt wollen wir mal sehen … Hier herrschen ja komische Lichtverhältnisse. Es sieht aus, als hätten die Kinder eine Art Glorienschein, jedenfalls die in der mittleren Reihe.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Mir geht es um einen Jungen.«
Sie studierte das Bild, die große Uhr schlug die Zeit, die zu Minuten wurde.
»Neeeein – da ist niemand, den ich spontan erkenne. Außerdem hab ich mich damals nicht mit Jungen abgegeben. In dem Alter war ich noch nicht reif.«
»Schauen Sie noch einmal genau hin.«
Wide wartete.
»Nein, ich erkenne wirklich niemand.«
Wide legte seinen Finger auf Rickard Melinders Hals. Siv Karlsson schwieg, hob das Foto hoch, legte es wieder hin.
»Nein.«
»Melinder, Rickard Melinder.«
»Es ist schrecklich, was da in Göteborg passiert ist. Ich würde Ihnen ja so gern helfen. Aber Namen sagen mir gar nichts, ich erinnere mich wirklich nur an den Namen einer Freundin, nur an den.«
»Und nicht an dieses Gesicht?«
»Nein.«
»Sie erinnern sich an nichts anderes? – Irgendwas Besonderes, was in dem Sommer passiert ist?«
»Es ist ja ziemlich viel passiert. Wie meinen Sie das?«
»Ein Unfall, irgendwas?«
»Jemand hat Bauchschmerzen gekriegt … Vielleicht war’s der Blinddarm. Sie wurde abgeholt und ins Krankenhaus von Värnamo gebracht.«
»Es war eine Sie?«
»Ich glaube, ja. Aber sie ist noch vorm Sommerende zurückgekommen.«
»Sonst nichts?«
»Was, zum Beispiel?«
»Als ich selbst im Sommerlager war, gab es so manchen Ärger. Jemand wurde sogar etwas gemobbt.«
»An dergleichen kann ich mich nicht erinnern. Was aber nicht bedeuten muss, dass es nicht vorgekommen ist. Jedenfalls hab ich nicht direkt Auseinandersetzungen mit angesehen. Nein. Das ist das Unheimliche … Ich denke darüber nach, seit Sie angerufen haben. Dass eins dieser Kinder, die damals dabei waren, jetzt ermordet wurde.«
»Ja.«
»Und Sie meinen, damals im Sommerlager passierte etwas?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Spur. Ich wollte nur die verschiedenen Möglichkeiten überprüfen.«
Sie dachte nach. Wide war schon vorher aufgefallen, dass sie mit Daumen und Zeigefinger an ihrem Ehering drehte, während sie nachdachte. Dann sagte sie plötzlich:
»Einmal, als wir uns versam… Irgend so was.«
»Wie bitte?«
»Ein Fotograf, ja, natürlich, so war es. Einmal ist ein Fotograf gekommen und hat uns fotografiert. Kinder, Erzieher, alle haben sich versammelt.«
»Das ist ausgezeichnet.«
»Warum ist mir das nicht eher eingefallen? Aber vielleicht hilft das ohnehin nicht weiter. Das Foto besitze ich nicht.«
»Könnte es nicht in irgendeinem Karton liegen?«
»Nein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich das Bild jemals bekommen habe.«
»Aber Sie sind sicher, dass fotografiert worden ist.«
»Ja, das bin ich. Wir mussten uns alle unter einem Baum aufstellen, glaube ich. Es gab einen, dessen Stamm teilte sich in der Mitte; in der Gabelung konnten einige sitzen.«
»Aber ein Bild haben Sie nicht gesehen.«
»Nein … Vielleicht hing eins am schwarzen Brett. Wahrscheinlich, aber daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Und ich kann natürlich nicht erwarten, dass Sie sich erinnern, wer der Fotograf war.«
»Nein.«
Vermutlich ein Berufsknipser aus der Kommune Värnamo, dachte Wide.
Vor über dreißig Jahren. Einen Versuch war es trotzdem wert.
Hier drinnen herrschte ein besonderes Licht, eine besondere Luft. Er spürte es, sobald er das Foyer betrat, das zu seiner Zeit anders ausgesehen hatte.
Alles schlug ihm entgegen, als er hereinkam. Seit dem Umbau 1985, oder wann das nun gewesen war, hatte sich viel verändert, aber nicht das Gefühl, woanders zu sein, wie eine Art Freiheit. Er konnte lange vor den Flaschenpalmen dort links stehen, genau vor der Tür. Zu dieser Jahreszeit drängelten und stießen sich dort keine Leute. Er hatte seine Ruhe und mehr verlangte er ja gar nicht; jetzt wollte er nur seine Ruhe haben, er war sehr erstaunt darüber, dass ihn jemand wie dieser arme Teufel im Park verfolgt hatte. Der hatte ihn doch noch nie gesehen, der bildete sich das bloß ein; und wenn er ihn gesehen hätte, spielte das keine Rolle, es gab keinen Grund, ihn zu verfolgen.
War der Unglückliche ihm aus Dankbarkeit gefolgt? Weil er ihm einen kleinen Dienst erwiesen hatte? Dankbarkeit war nicht nötig, er wollte nichts mehr mit denen zu tun haben, das war nicht gut für ihn. Weder das eine noch das andere wollte er mehr, das hing alles zusammen, und er brauchte keine Läuterung. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Wollten die ihm drohen? Zeigten sie etwa auf diese Art ihre Dankbarkeit? Was wussten die denn davon, was er erlebt, was er durchgemacht hatte.
Er wusste, warum er die Nähe der Pflanzen suchte. Was wuchs und grün war, hatte genug mit sich selbst zu tun. Die Pflanzen waren nicht grausam wie andere wachsende Geschöpfe, die noch grausamer wurden, wenn sie ausgewachsen waren. Sie waren auch gegen alles Übrige grausam, was in der Natur wuchs: Wer pflegte die Flaschenpalmen, wo sie zu Hause waren, auf Round Island vor Mauritius? Er kannte ihr Schicksal. Es gab nur noch zehn Exemplare in der freien Natur, und diese Palmenart würde aussterben, wegen der Nutzbarmachung des Bodens. So was ließ man sterben, während andere Parasiten auf der Erde den Tod verdienten. Die Grausamen sollten sterben.
Die Menschen überschätzten sich, wie oft hatte er das nicht schon gedacht. Das dachte er auch jetzt, während er etwas tiefer in das Palmenhaus ging. Er stellte sich neben einen Bambus. In diesem Teil des Gebäudes war niemand, hier waren nur er und die Pflanzen. Was waren Menschen gegen das Bambusgras? Es konnte wie ein zehn Stockwerke hohes Haus vierzig Meter hoch werden, der Stamm konnte einen halben Meter Umfang haben, noch mehr. Was war schon das bisschen Mensch gegen einen solchen Bambus?
Es war halb eins und hier drinnen herrschten dreiundzwanzig Grad. Er ging zum südlichen Balkon hinauf und setzte sich auf eine der Bänke, knöpfte seinen Kragen auf und versank in der weißen, verschlissenen, grünspanfarbenen Umgebung. Es war angenehm, in der feuchten Wärme zu sitzen und dann nach Hause zu gehen, wo sich die Winde frei bewegten und für frische Luft in seiner Wohnung sorgten. Dort fror er gern, das mochte er, er trug ja die Gerüche von hier mit sich, sein Mantel duftete nach grüner Freiheit.
Er verließ den Balkon und ging für einige Minuten ins Mittelmeerhaus, wo die Luft trockener, die Düfte intensiver waren. Lange betrachtete er den Drachenbaum. Er hätte gern den Stamm gestreichelt, aber er wusste, dass man so was nicht tat. Schließlich war er hier Pfleger gewesen, er wusste, wie man sich gegenüber dem hehren Wachstum zu verhalten hatte.