17
Ihr Vater war gealtert, die Distanz verschärfte den Eindruck noch. Anfangs war es ihr nicht weiter aufgefallen, die Haare waren ihm nicht ausgegangen und er bewegte sich ohne Schwierigkeiten. Es waren weniger das Aussehen, Haut oder Körper; sein Altern äußerte sich in einem schleppenden Tonfall, Müdigkeit und manchmal einer Teilnahmslosigkeit, die er, wie sie wusste, mit diesen verflixten langen Spaziergängen zu bekämpfen versuchte.
Heute war Sonntag und heute war er zu Hause. Sie saßen auf dem feinen Sofa, das Mittagessen war beendet. Auf dem Tisch stand der Kaffee und ihre Mutter war in der Küche. Kajsa hoffte, sie würde noch ein Weilchen dort bleiben. Es kam nicht oft vor, dass sie miteinander sprachen, ihr Vater und sie, wirklich miteinander sprachen. Wann hatte er sie in ihrer Wohnung besucht? Wann hatte er angerufen und gesagt: »Jetzt komme ich, egal, was du davon hältst.« Ein kleiner Abstecher in die Stadt, ein gemeinsamer Besuch von … ach, irgendwas. Sie wohnte nicht in Werchojansk. Und er auch nicht. Wann hatte sie angerufen und gesagt: »Jetzt komme ich, egal, was du davon hältst …«
»Papa, wie war die Stimmung unter den Menschen, als du jung warst?«
Durch die großen Fenster des Wohnzimmers fiel schwindendes Tageslicht. Es ließ ihn grauer wirken, grauer, als er war, es unterstrich die Linien in dem erfahrenen Gesicht. Als sie selbst älter wurde, hatte sie die Ähnlichkeit deutlicher gesehen: die Linie zwischen den Augenbrauen, ein Gesicht, das immer breiter zu werden schien, ein leicht hochgerecktes Kinn. Aber sein Kinn hatte sich gesenkt, und sie wollte es gern etwas heben, wenigstens an diesem Sonntag.
»Das ist keine leichte Frage, Kajsa.«
»Als du jung warst, erwachsen wurdest.«
»Die Stimmung?«
»Wie sind die Menschen miteinander umgegangen?«
»Na ja, als ich jung war, ging der Krieg gerade zu Ende. Das war eine besondere Situation. Nicht, dass ein Kind Krieg wie ein Erwachsener erlebt, aber als er vorbei war, habe ich natürlich die Freude bemerkt.«
»Überall große Freude.«
»Natürlich. Und Erleichterung, eine unerhörte Erleichterung. Niemand hatte wissen können, ob der Krieg nicht doch nach Schweden kommen würde. Selbst als sich das Blatt 1943 wendete, war niemand sicher.«
»Aber alle konnten sich doch wohl nicht freuen.«
»Wie meinst du das?«
Wie meinte sie das? Sie meinte die zerstörten Menschen und ihre Engagements im Namen dessen, worüber sie während dieses Krieges gesprochen hatten, die Symbole, die sie benutzten. Wer hatte sie verwahrt, sie aufpoliert, sie weitervererbt? Wie vererbte man Hass? War das ein naiver Gedanke?
»Ich meine, auch in Schweden hat es Freunde der Deutschen gegeben. Nazis.«
»Bei Gott. Aber es war sonderbar, wie wenig es nur noch während der letzten Kriegsjahre waren und erst recht danach.«
»Wie vom Winde verweht.«
»Das kann man wohl sagen. Jedenfalls ihre Ansichten, wie weggeblasen.«
»Aber vorher hat es sie gegeben.«
»Du weißt wohl, dass Westschweden immer ein guter Nährboden für Faschisten und Nazis und solches Gesindel gewesen ist. Hier hat eine verrückte und gefährliche Bewegung nach der anderen ihren Anfang genommen. Schön ist das ja nicht, aber so ist es nun mal.«
»Du hast bestimmt einiges gesehen.«
»Als Kind sieht man es wohl nicht mit den Augen, wie du es jetzt siehst oder ich heute. Aber ich erinnere mich daran, wie aufgebracht mein Vater häufig nach Hause gekommen ist.«
»Sie haben ihre Arroganz demonstriert.«
»Dein Großvater schien sich am meisten über die Polizei aufzuregen«, sagte Kajsa Lagergrens Vater und blinzelte sie an, während er den linken Mundwinkel etwas verzog.
»Die alte, übliche Story«, sagte sie und salutierte.
»Ist es wirklich so?«
»Das hast du doch gesehen. Neonazis und Skinheads dürfen ihre Versammlungen und Musikveranstaltungen abhalten, und die Polizei steht draußen und guckt zu, wenn drinnen ihre Rufe ertönen, und dann werden einige sauer auf die Polizei, weil die nichts tut … Aber heutzutage gibt’s auch ziemlich viel Applaus …«
»Warum unternimmt die Polizei denn nichts?«
»… und wenn die Polizei was tut, dann gibt es ein Geschrei wegen ungesetzlicher Dienstausführung und nicht respektierter Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit.«
»Es ist verdammt schwer.«
»Ja.«
»Wie sollte es denn sein, was wünschst du dir?«
»Keine Ahnung. Mal so, mal so, ich bin mir nicht ganz schlüssig. Aber ich weiß, dass jetzt mehr Versammlungen stattfinden, viel mehr. Es scheint keine Rolle mehr zu spielen, wenn sie keine Genehmigung bekommen.«
»Das stimmt.«
Der Vater streckte sich nach der Pfeife auf dem Tisch, bereitete sie vor und legte sie für den Spaziergang beiseite.
»Ich weiß, dass viele diesen Naziversammlungen zu Anfang des Krieges Einhalt gebieten wollten, den ›Deutschversammlungen‹, wie sie genannt wurden. Aber das ging natürlich nicht. Es war ja eine Frage der Klassen. Die, die gegen die Nazis waren, standen nicht gerade auf der höchsten Stufe der Leiter.«
»So ist es wohl immer.«
»Vielleicht. Einem Kollegen von meinem Vater ist übrigens was passiert. Sie waren beide Angestellte in einem Büro, also keine Arbeiter; da durfte man nicht wie ein Arbeiter denken. Büroangestellte waren etwas Besseres und sollten auch feinere Ansichten haben, das heißt, die Ansichten der Rechten teilen. Aber das kapierten weder mein Vater noch sein Kollege.«
»Sie haben widersprochen?«
»Das nicht, aber an ihrem Arbeitsplatz herrschte ganz klar Deutschenfreundlichkeit. Eines Abends fand so eine Sympathiedemonstration für die Deutschen statt und mein Vater stand wie üblich am Straßenrand und protestierte. Hinterher traf er seinen Kollegen, der wusste, wo die Typen sich aufhielten.«
»Und da sind sie hingegangen.«
»Ja. Vater fand es sinnlos, reinzugehen, doch sein Kollege, Arne hieß er übrigens, war der Meinung, man müsse denen da drinnen mal ordentlich den Marsch blasen, und das versuchte er auch. Sie haben ihn vermutlich eine Weile reden lassen, aber dann haben sie ihn rausgezerrt und ihn nach Strich und Faden zusammengeschlagen.«
»Aber das waren keine aus dem Büro?«
»Wer kann das wissen? Er war eine Weile krankgeschrieben, und da gab es viele, die fanden, ihm sei recht geschehen.«
Recht geschehen, recht geschehen, recht geschehen, hämmerte es in ihrem Kopf, als die Müdigkeit kam. Sie war zum zweiten Mal die Fünf-Kilometer-Runde auf halbem Weg den Mörderhügel hinaufgetrabt, ihre Schuhe schlidderten wie Mountainbike-Reifen, als sie sich dem höchsten Punkt entgegenstemmte. Es war ein Unterschied, im Wald zu laufen, im-Wald-zu-lau-fen, im-Wald-zu-lau-fen, dachte sie im Rhythmus ihrer Schritte, die immer energischer wurden auf dem weichen, feuchten Untergrund aus Rinde. Ihre Füße wurden förmlich eingesogen und ihre Schenkelmuskeln und Waden schmerzten leicht. Das war etwas anderes als Asphalt, ein Erlebnis zu laufen, wie es sein sollte, nicht dieses Hindurchlavieren zwischen Autos und Straßenbahnen, Betrunkenen auf den Straßen der Stadt; City girls they’re all right they just want you for the night, fuhr es ihr durch den Kopf, einer dieser kleinen, scharfen Gedankenblitze, die Läufern manchmal durch den Kopf schossen, wenn sie weit und lange gelaufen und müde geworden waren. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann im Bett gewesen war, etwas, an das sich jede Frau ohne Schwierigkeiten erinnern sollte, aber vor ihrem inneren Auge entstand kein Gesicht, und das machte auch nichts. Einem Citygirl ging es nicht um ein Gesicht, es ging um andere hervorragende Teile, aber auch um den Intellekt, dachte sie und zog eine Grimasse angesichts der lang gezogenen Steigung vor ihr – das Gehirn des Mannes, das die Batterien fast den ganzen Abend in Gang hielten, und die übliche Enttäuschung, wenn der Hirntod und die Leichenstarre eintraten und in ihrer ganzen schimmernden Pracht demonstriert werden sollten, und dann war nicht mehr viel. Zwei Sekunden lang, die das Rückenmark betäubten, war es wunderbar, und hinterher hatte man das Gefühl, als wäre einem ein Körper von Scandia in die Wohnung geliefert worden. Sie sah den Fernsehmast im Delsjön aufragen, der imponierte Kajsa Lagergren nicht, und mitten in ihren immer schwerer werdenden Schritten wurde ihr klar, dass sie einen Mann brauchte, der all diese verdammten Gedanken bei der Stange halten konnte, und sie grinste an der steilsten Stelle.
Während sie die Tür öffneten, zogen sie sich die Masken über das Gesicht. Es war neun Uhr abends, und Au Shan Yew beharrte darauf, bis zehn offen zu haben; er wollte selbst so lange anwesend sein, wie er Kraft hatte. Schließlich war er noch nicht älter als siebzig, und das betonte er häufig. Eine halbe Stunde zuvor hatte er seinen Neffen Ten Yew nach Hause geschickt; er legte gerade das Paket Dim Sum in die Tiefkühltruhe, als ihn der erste Schlag über dem linken Ohr traf, und bevor der Schmerz kam, hatte er das Gefühl, dass es keine Geräusche mehr auf der Welt gebe. Auch aus der anderen Richtung kam dieser Schmerz, als der nächste Schlag seine rechte Gesichtshälfte traf, und er sank zu Boden. Als er den Schlag an seiner Hand spürte und nach unten schaute, fast wie in einem Reflex, sah er, dass die Hand in einem seltsamen Winkel vom Handgelenk wegragte, und alles da unten war weiß, er stolperte und stolperte noch einmal und ging zu Boden, der von Reiskörnern bedeckt war.
Niemand sagte etwas. Die Säcke voller Jasminreis, die am Eingang standen, wurden in die Mitte des Ladens geschleppt, mit raschen Schnitten aufgeschlitzt, der Reis ergoss sich in einer weißen Flut über den Boden; einen Augenblick später war Au Shan Yews Körper teilweise mit Millionen von runden Reiskörnern bedeckt. Das Blut seiner Wunden färbte Tausende der Reiskörner rot, all das Rot breitete sich aus wie eine kleine Insel mitten in diesem weißen Meer. Einer der Männer watete durch den Reis zur Mitte des Haufens und versetzte dem Mann, der auf der Insel Hainan geboren war, einen Tritt gegen den Kopf, einen Tritt, der den Körper in Spasmen zucken ließ. Der Mund des Mannes öffnete und schloss sich, füllte sich mit harten Reiskörnern, die sich mit Blut zu Brei mischten und seine Atmung erschwerten. Er war immer noch bei Bewusstsein, hörte die Geräusche um sich herum wie in einem fernen Film. Jetzt sterbe ich, dachte er.
Die Männer mit den schwarzen Masken ließen sich Zeit in dem Laden, der überwiegend aus einem großen Raum ohne verborgene Winkel bestand. Die sorgfältig gefüllten Regale wurden mit Hilfe der Eisenstangen leer gefegt. Chinesische Grundnahrungsmittel fielen zu Boden und sammelten sich in Haufen: Chinakohl, Selleriekohl, Bok choy, frische Ingwerwurzeln, frische Lotuswurzeln, Frühlingsrollenhüllen, Vogelnester, Wintermelonen, frische Mungbohnenkeime, Schneeerbsen, eingemachte Haliotschnecken, frischer Sojabohnenkäse, Wan-Tan-Hüllen, getrocknete Reisnudeln, chinesische Würste, zwei Sorten Haifischflossen, Glasnudeln, frische Eiernudeln, eingelegte Louquats, Ginkgonüsse, eingelegte Litschis, Konservendosen mit Bambussprossen, eingelegte Wasserkastanien, eingekochte Kumquats, Eiszapfenradieschen, chinesische Petersilie.
Auf dem Weg hinaus machten zwei der Männer das Zeichen »high five«, der Dritte rutschte auf zerquetschten Zwiebeln aus und fluchte leise. Sie nahmen die Masken ab.
Draußen wandten sie sich nach rechts, umrundeten den Häuserblock und setzten sich ruhig in ein Auto, das gegenüber vom Möbelgeschäft parkte. Die Eisenstangen hatten sie in den Kofferraum gelegt, eingewickelt in weichen Stoff. Sie fuhren geradeaus, bogen nach links ab, passierten Au Shan Yews Laden und sahen einige Leute mittleren Alters vorsichtig durch die Türöffnung spähen.
»Was ist da denn passiert«, sagte einer der Männer im Auto.
Die Ruhelosigkeit loderte wie eine Flamme durch seinen Körper, sie tobte wie ein eingesperrtes Tier in ihm. In seiner Brust juckte es heftig. Die langen Spaziergänge halfen nicht, nicht einmal das Haus half wirklich, nur für den Moment. Dass es so einfach gewesen war, immer wieder musste er daran denken. Dass alles vorbei war. Er hatte sich erleichtert gefühlt und sich danach gesehnt, aber das Gefühl genügte nicht. Er hasste immer noch. Er war schließlich immer noch der, der gelitten hatte, oder? Er war immer noch ein Opfer, oder?
Diese Frau hatte ihn überhaupt nicht bemerkt, aber das schien nur so; ihm war nicht entgangen, dass sie ihn lange angesehen hatte, und fast bewunderte er sie, weil sie so tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, wie er im Schutz vor dem Regen im Wartehäuschen an der Straßenbahnhaltestelle hinter ihr gestanden hatte. Er hatte sich ein wenig über ihr Kind gebeugt, ernst in diese großen, weit aufgerissenen Augen geschaut und das Kleine hatte angefangen zu weinen. Die Frau hatte sich zu dem Kind hinuntergeneigt und irgendwelchen Nonsens geplappert. Nicht einmal da hatte sie von ihm Notiz genommen. Das bewies, dass sie eine von denen war; so hatten sie ihn behandelt oder genau entgegengesetzt, und er war wütend geworden und weggegangen, ohne sich umzudrehen. Er wollte ihr grinsendes Gesicht nicht sehen, wenn er sich umdrehen würde. Er wusste, dass es so war.
Und dann, plötzlich: Die Zärtlichkeit, die sich wie eine weiche Ruhe in seinem Körper ausbreitete, als er in dieser Dämmerung, die wie Schiefersplitter über die Stadt fiel, wieder bei der Kirche an der Mauer stand und zusah, wie diese beiden Männer sich für die Nacht einrichteten. Hatte er sie nicht schon früher einmal gesehen? Den Großen. War es nicht hier gewesen? Er erkannte ihn wieder, aber vielleicht auch nicht, das war nicht wichtig.
Oh, er wollte einen Einsatz leisten, in seinem Kopf brannte es vor Eifer, wieder einen Einsatz zu leisten; aber gestern Nacht hatte er Angst gehabt, hatte die Decken nicht mitgenommen. Er wollte es nicht tun, oh, er wollte es tun, das eine und das andere, das eine zuerst, dann das andere.
Er blieb stehen, bis die Gefühle von Zärtlichkeit und Schrecken wichen. Dann ging er an der Kirchenmauer entlang in die Richtung der zwei Männer und folgte ihnen in zehn Meter Abstand zur Storgatan.
Einer der beiden Obdachlosen wartete, bis die Schritte leiser klangen, und als er meinte, der Abstand sei groß genug, hob Janne-Janne ein wenig den Kopf und sah dem Mann nach, der schwach von den Verkehrslichtern der Allén angestrahlt wurde.