Dreizehn

Schließlich redete sich Kate bei Reed alles von der Seele. Nach nur vierundzwanzig Stunden Beschäftigung mit den inzwischen eingetroffenen Briefen und Nachrichten hatte sie den ganzen Haufen liegengelassen und war mit Reed in die Hütte in den Berkshires geflohen. Das Gras war üppig gewachsen, seit sie es im frühen Frühjahr gesehen hatte, und wenn der Wind hindurchfuhr, wogten die Halme wie das Meer. Kate hatte gar nicht bemerkt, wie erschöpft sie war, wie intensiv sie in Oxford wieder die junge Frau aus längst vergangenen Tagen geworden war, wie unermüdlich sie durch die Straßen von Oxford gewandert und geradelt war, immer auf der Suche nach einem Gedanken, einer Erinnerung oder der immer wieder neuen freudigen Überraschung beim Betreten eines so schönen Gartens wie dem des New College. Sie war unbeschreiblich erleichtert, daß sich hier in den Berkshires niemand um irgendwas gekümmert hatte, daß Büsche und Bäume um die Wette wuchsen und wu-cherten – soweit dieses Bild überhaupt auf das Pflanzenreich übertragbar war. »Sieht fast aus wie der Dschungel von Neuguinea«, hatte Reed angeboten, während sie gemächlich ins Innere der Hütte und dort von einem zusammengebrochenen Sessel zum nächsten wanderten und ihnen noch ein paar müde Metaphern durch den Kopf gingen. Auch Reed hatte unter großem Arbeitsdruck gestanden, und Kate kam es vor, als hätte ihnen jemand die Stöpsel aus den Fußsohlen gezogen und alle Energie ströme nun aus ihnen heraus.

Ob es an der Trägheit dieses Lebens lag oder an ihrer besonderen Nähe zueinander oder an der zarten, tastenden, suchenden Art ihres Gesprächs – jedenfalls hörte Reed sich die Theorie über Max ohne seine üblichen spitzen Kommentare zu Kates hochfliegenden Speku-lationen an.

»Du hast das gefunden, was uns in wirklichen Kriminalfällen so gut wie nie begegnet«, bemerkte er. »Ein subtiles Motiv. Wie es sich für euch Literaturmenschen gehört. Und wirklich sehr neunzehntes Jahrhundert: die Geschichte seiner niederen Herkunft verbergen…

Wenn seine Bücher nur halb so großartig sind und eine Art Kodex der wahren Werte festlegen, wie du sagst, vermute ich, daß er wirklich alles tun würde, um seine ärmliche Herkunft durch eine gute Geschichte reinzuwaschen. Es ist ja ein dreifacher Schlag für ihn: Er wurde nicht nur adoptiert, was heutzutage keine so schreckliche 130

Sache mehr ist. Er weiß nicht nur, daß er unehelich geboren wurde, was gesetzlich und größtenteils auch gesellschaftlich heute ebenfalls kein Problem mehr ist; er weiß auch noch, wer seine Eltern waren oder zumindest, aus welchen Schichten, und das gefällt ihm überhaupt nicht. Immer vorausgesetzt, daß das, was du so munter vermu-test, auch wirklich so in den Briefen steht.«

»Und was jetzt, Reed?«

»Da gibt es nur eines, mein Liebling. Vergiß die ganze Geschichte. Wir können überhaupt nichts beweisen. Zweifellos ließe sich durch eindringliche und systematische Zeugenvernehmungen herausbekommen, daß er in Maine war und nicht, wie er behauptet und wir ihm allzu leichtfertig abgenommen haben, in seiner Klasse in New York. Vielleicht fänden wir durch ebenso eindringliches Nach-forschen in Maine auch jemanden, der ihn zur sogenannten Tatzeit dort gesehen hat. Aber vor einer Anklagejury würde das nicht reichen, und schon gar nicht vor Gericht. Es würde also erst gar nicht zu einem Verfahren kommen. Und du würdest ganz nebenbei eine hervorragende Karriere ruinieren.«

»Ich hatte an Erpressung gedacht«, sagte Kate.

»Tatsächlich? Es gibt doch keine Moral mehr auf dieser Welt!

Ich erinnere mich, daß das einmal als das schlimmste Verbrechen galt, als das, moralisch gesehen, allerverwerflichste. Die Detektive in den Krimis lehnten es mit einer eleganten Handbewegung ab, Erpresser zu verfolgen, und meinten nur: ›Soll die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen. Ich mische mich da nicht ein.‹«

»Nennen wir es eine vertretbare Erpressung.«

»Nennen wir es lieber ein Verbrechen und vergessen das Ganze.«

»Wie kann ich das, Reed? Ich weiß, es ist altmodisch und sentimental und überhaupt nicht up to date, von Wiedergutmachung zu reden, von Gerechtigkeit für Gerry Marston oder etwas derartigem.

Aber ich habe Leo gesagt – wir beide haben das getan –, daß man tun muß, was man tun kann. Ich muß ja niemandem etwas erzählen.

Man kann auch für sich selbst und insgeheim ehrenhaft bleiben.«

»Nur wenn man der liebe Gott persönlich ist oder es zu sein glaubt.«

»Das glaube ich nicht.« Kate sah einem Kardinalvogel zu, der zwischen Bäumen und Gebüsch hin und her flog. Sein leuchtendes Gefieder machte ihn mehr als seine Artgenossen zu einem Geschenk der Natur. Aber er schien sich dessen nicht bewußt und behandelte seine matter gefärbte Gefährtin mit einer Zuvorkommenheit, die 131

sogar den Maßstäben eines Max gerecht geworden wäre. »Was man anfängt, muß man auch zu Ende führen. Man tut einfach, was man in dem Moment tun muß. Das muß Krishna wohl gemeint haben. Na ja, vielleicht werde ich nicht nur älter, sondern auch schrulliger. Du hast recht, du hast absolut recht. Wir vergessen die ganze Angelegenheit.

Irgendwie wünschte ich nur, du hättest ihre Leiche gesehen und sie gekannt.«

»In Ordnung«, sagte Reed und nahm sie in die Arme. »Max hat schon einmal hierhergefunden. Soll er es noch einmal tun. Wir fahren bald in die Stadt und rufen ihn an.«

Es wurde recht spät, bevor sie losfuhren und mit Max sprachen.

Ihre Einladung war kurz und knapp und ohne weitere Erklärungen, aber er hatte angenommen. Am Tag darauf kämpfte sich Max, der einzige Besucher, den die Hütte je erlebt hatte, wieder durch das ungemähte Gras. Diesmal blieb er nicht stehen, um nach einem Pfad zu suchen. Er hat begriffen, dachte Kate, und diesmal alle Bedingun-gen akzeptiert.

Sie saßen am Tisch, denn Kate und Reed waren sich einig, daß dies der beste Platz für ihr Gespräch war. Sie hätten sich auch drau-

ßen im ungemähten Gras niederlassen können, aber abgesehen davon, daß man sich Max nur schwer im Gras ausgestreckt vorstellen konnte, schien eine etwas formellere, gewissermaßen geschlossene Runde angemessen. Da es nur zwei ordentliche Stühle gab, saßen sich Kate und Max am Tisch gegenüber, während Reed zwischen ihnen auf der Fensterbank balancierte und sich an seiner Pfeife zu schaffen machte. Dadurch hatte seine Anwesenheit etwas Unbe-stimmtes, als könnte er bei Bedarf aus seinem Zustand der Zerstreut-heit auftauchen, hoffte aber, daß das nicht nötig würde.

»Sie fragen sich wahrscheinlich, warum wir Sie hergebeten haben«, lautete Kates schwache Eröffnung. Sie hoffte, mit diesem zarten Hinweis Max zum Reden zu bringen, dazu, mit allem heraus-zurücken, so daß sie am Ende nur noch zu sagen brauchte: »Also gut, was machen wir jetzt?« und zur Sache kommen konnte. Doch Max war für solch ein Duell ein viel zu erfahrener Gegner. Kate hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß die meisten Menschen, gleich welchen Alters und welcher Position, über sich zu reden anfingen, sowie man ihnen eine Chance dazu bot. Doch Max besaß einen me-thodisch arbeitenden Verstand und Disziplin, und nicht einmal das Alterwerden hatte ihn in die Falle des Bedürfnisses nach Selbstdar-stellung laufen lassen. Er reagierte auf Kates dümmliche Einleitung 132

nur mit einem Nicken, und sie mußte von vorn anfangen. Sie mied Reeds Blick.

»Ich war zwei Wochen in Oxford«, sagte sie. »Der größte Teil der Papiere von Dorothy Whitmore liegt im Somerville, dem Ihre Mutter sie ja vermacht hat. Aber die Briefe, die die Whitmore an Cecily Hutchins geschrieben hat, nachdem diese nach Amerika gezogen war, sind natürlich in dem Haus in Maine geblieben. Eigentlich hatte ich erwartet«, fügte sie lahm hinzu, »sie bei den Hutchins-Papieren in Wallingford zu finden.«

»Ohne Zweifel hat Cecily sie vernichtet«, sagte Max. »Hätten Sie das an ihrer Stelle nicht auch getan?«

»Nein«, sagte Kate. »Nicht, wenn ich bestimmt hätte, daß der Kram der Nachwelt erhalten bleiben soll. Cecily war viel zu intelligent, um wie Swinburnes Schwester alle harmlosen Briefpassagen drucken zu lassen und den Rest zu verbrennen. Ich glaube, diese Briefe waren da, Max, und mehr noch, ich glaube, Sie wissen das auch. Mehr noch«, sagte sie und versuchte vergeblich, keine Emotion in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen, »Sie waren derjenige, der sie vernichtet hat.«

»Vielleicht hat mich Cecily zum Verwalter ihres literarischen Nachlasses gemacht, damit ich all das vernichte, was ich für vernich-tenswert halte.«

»Auf dem Weg nach Maine und auch in New York haben Sie aber etwas anderes gesagt. Sie sagten, es ginge Ihnen darum, das Material vor Ausbeutung zu bewahren und – unausgesprochen –

auch vor Vernichtung. Sie als Literat und Wissenschaftler könnten das besser entscheiden als ihre Kinder.«

»Das stimmt. Es war dumm von mir, etwas anderes sagen zu wollen. Zudem habe ich als Kunsthistoriker ein profundes Gefühl dafür, wie wichtig es ist, die Dinge zu konservieren. Unterlagen zu vernichten widerspricht allem, woran ich glaube, selbst wenn, wie in diesem Fall, Diskretion walten sollte. Verzeihen Sie, wenn ich nun meinerseits eine Frage stellen muß. Worauf wollen Sie hinaus, Ka-te?«

»Worauf ich hinaus will?« Kate spürte, daß Max die Gesprächs-führung übernommen hatte und sie sie nur schwer zurückgewinnen würde. Immerhin habe ich noch alles in der Hand, sagte sie sich. Er blufft. Er will herausbekommen, was ich weiß. »Ich unterstelle, daß diese Briefe existiert haben, daß Gerry Marston sie irgendwie entdeckt hat und daß… daß Sie gezwungen waren, sie ihr wieder abzu-133

nehmen.«

Max beugte sich über den Tisch, als wolle er auf keinen Fall die Pointe einer Anekdote verpassen.

»Und was stand in den Briefen, die Miss Geraldine Marston gefunden hat?« fragte er und streckte ihr die offenen Hände fast fle-hentlich entgegen.

»Ich weiß, was darin stand, Max.«

»Tatsächlich, Kate? Sagen Sie es mir.«

»Die Wahrheit über Ihre nicht ganz so feinen Vorfahren«, sagte sie, stand auf und fing an, in der Hütte auf und ab zu gehen. »Die Tatsache, daß Ihr Vater nicht der jüngere Sohn des jüngeren Sohns eines Herzogs war, sondern ein Niemand im Rang eines Unteroffi-ziers, den Dorothy Whitmore während des Krieges in Frankreich getroffen und später in London wiedergesehen hat. Dort hat sie sich in ihn verliebt oder vielleicht auch nur Mitleid mit ihm gehabt. Sie waren das Resultat. In all den Briefen muß es um die Frage gegangen sein, was aus Ihnen werden und was die Whitmore unternehmen sollte. Es könnte sogar noch spätere Briefe geben, in denen es, als die Whitmore wußte, daß sie dem Tod nahe war, darum ging, ob sie Sie in ihrem Testament als ihren Sohn anerkennen sollte. Am Ende hat sie es dann natürlich nicht getan. Sie hatten ja eine Identität und ein Erbe. Sie waren voll und ganz ein Reston, der jüngere Sohn des jüngeren Sohnes eines jüngeren Sohnes.«

Dann drehte sie sich zu Max um und sah, daß auch Reeds Augen auf ihn gerichtet waren. Max saß schweigend auf seinem Stuhl und schien objektiv über die Wahrscheinlichkeit nachzudenken, daß er ein Mörder sei. Man konnte fast hören, wie sein ausgezeichneter Verstand arbeitete und die Möglichkeiten abwog. Er schlug das eine elegant gekleidete Bein über das andere und nahm eine Zigarette aus dem Etui in seiner Jacke. Umständlich zündete er die Zigarette an und schob Etui und Feuerzeug in die Tasche zurück. »Ich brauche wohl kaum zu fragen, ob ich rauchen darf«, sagte er, »da Reed mir darin vorausgegangen ist. Möchten Sie auch eine Zigarette?« fragte er Kate und griff erneut nach seinem Etui.

»Nein, danke«, sagte Kate. »Ich habe es mir abgewöhnt, leider.«

Das stimmte nicht. Sie merkte erstaunt, daß sie keine von Max’ Zi-garetten aus seinem vollendeten Etui rauchen wollte. Es gibt den Fall, daß jemand einfach zu zivilisiert ist. Ich wäre sogar dankbar, dachte Kate, wenn seine Socken um die Knöchel Falten schlügen.

»Erzählen Sie mir mehr von meinen Eltern«, sagte er. »Bitte, Ka-134

te. Sie können kaum erwarten, daß ich über so ein Thema diskutiere, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie wissen. Man hat Herzöge vielleicht an einem seidenen Strick aufgehängt, aber man hat nicht ver-langt, daß sie ihn selber drehen.«

Also erzählte Kate die ganze Geschichte noch einmal. »Ich weiß, das sind alles nur Vermutungen«, fügte sie hinzu, als sie am Ende war. »Aber ich glaube, man kann sie beweisen. Ich werde es jedenfalls versuchen.«

»Und ich nehme an, es gibt einen Preis dafür, daß Sie es nicht versuchen. Verzeihen Sie, daß ich das so hart sage.«

»Das macht gar nichts. Es ist ein hartes Geschäft. Verdammt hart.

Und ein Teil des Preises«, sagte sie schneidend, »ist, daß Sie mir erzählen, was genau passiert ist.«

»Ach, das habe ich befürchtet. Wissen Sie, ich habe sie nicht ge-tötet. Ich hatte von der benachbarten alten Dame, die mit Cecily befreundet war, gehört, daß sie das Mädchen in der Gegend gesehen hatte. Sie war nicht nahe genug herangekommen und wußte deshalb nicht, daß es ein Mädchen war. Das ist so das Resultat eurer herrli-chen Unisex-Welt«, setzte er hinzu, »ohne Geschmack, was Kleidung angeht, und alles in Hosen.« Zum erstenmal hatte er wieder zu seiner alten, herablassenden Attitüde gefunden, fiel jedoch bald in einen anderen Tonfall zurück. »Ich flog nach meiner letzten Vorlesung nach Boston und von Boston dann zu einem kleinen Flugplatz in der Nähe von Cecilys Dorf. Meine angebliche Furcht vorm Fliegen ist übertrieben worden – von mir. Ich habe alles bar bezahlt und brauchte keinen Namen zu nennen, beziehungsweise nicht den richtigen. Dort angekommen, nahm ich mir ein Taxi in die Stadt und lieh mir dort ein Pferd. Die Touristensaison war vorüber, und man war mehr als froh, mir eines gegen bar auszuleihen. Ich konnte schon immer reiten und hatte mich wie ein Bauernbursche angezogen, um mein wahres Selbst möglichst zu verbergen. Zu Pferd war der Weg leicht zu finden. Nur ein- oder zweimal habe ich Kinder auf dem Heimweg von der Schule nach der Richtung gefragt. Selbst wenn sie sich an die Begegnung erinnern könnten, wäre ihnen nur ein Mann auf einem Pferd, in Arbeitskleidung mit Mütze in Erinnerung geblieben. Ihre Miss Marston war da, als ich ankam. Im Haus. Sie mag eine nette Studentin gewesen sein, meine Liebe, aber sie war eine Einbrecherin und Diebin. Gott weiß, wie lange sie schon dort war.

Sie hat die wichtigen Unterlagen gefunden, das stimmt, schließlich hatte Cecily alles wohlgeordnet hinterlassen. Um in Cecilys Akten-135

schränken etwas zu finden, brauchte man kein Examen und keinen Doktortitel. Und nun stellen Sie sich bitte vor: Sie hatte etwas entdeckt, was niemand je erfahren durfte. Bis jetzt wußte nur sie davon.

Selbst wenn es mir gelungen wäre, die Veröffentlichung der Papiere zu verhindern, hätte sich das, was sie wußte, herumgesprochen. Das ist immer so und nicht zu verhindern. Ich habe mir natürlich nichts anmerken lassen, sondern sie gefragt, was wir ihrer Meinung nach jetzt unternehmen sollten. Schließlich einigten wir uns, ein wenig spazierenzugehen und die Sache zu bereden. Ich habe ihr die krimi-nellen Aspekte ihrer Handlungsweise vor Augen geführt, und sie versprach, mit niemandem darüber zu reden. Versprechen sind leicht gegeben, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß nur die in einer stabilen Umwelt aufgewachsenen Menschen den Wert eines gegebenen Wortes und damit verbundenen Vertrauens kennen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, wenn Sie es genau wissen wollen. Und dann kamen wir zum Meer, und unter uns waren die Felsen. Ich schlug vor, ein Stück hinauszuklettern – das ist ja sehr verführerisch, wie Sie es selbst an jenem Tag in Maine demonstriert haben.«

»Ja«, sagte Kate, »es hat mir Spaß gemacht. Sie hatten nur vorgeschlagen, einen Blick auf die Felsen zu werfen, aber ich wollte unbedingt selbst auf ihnen herumklettern. Sie brauchten es mir nicht einmal vorzuschlagen.«

»Keine Bitterkeit, meine Liebe. Es sagt ganz wunderbare Dinge über Ihren Elan und den der Miss Marston aus – auch wenn Ihrer gewiß nicht dazu führt, daß Sie in Häuser einbrechen und anderer Leute Briefe lesen – zumindest nicht außerhalb von Bibliotheken.

Sie rutschte auf dem Felsen aus. Sie trug zwar Hosen, aber ziemlich ungeeignete Schuhe und wußte nicht, wie glatt die Felsen und die Algen waren. Sie rutschte aus, schlug mit dem Kopf auf und fiel mit dem Gesicht nach unten in eine der Mulden. Und selbst da wurde ich nicht zum Mörder. Ich habe versucht, sie hochzuziehen. Aber sie hatte ein ordentliches Gewicht, und ich fand keinen Halt. So ließ ich sie schließlich, wo sie war.«

»Und beschlossen, mich wie ein dummes Kind dorthin zu locken, damit ich die Leiche fand und identifizierte. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es das Gefühl, manipuliert zu werden.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe ganz einfach nur Ihre Gesellschaft für diese Fahrt gesucht. Aber das werden Sie mir niemals glauben.

Und jetzt kommt wohl alles heraus. Alles über die Briefe.«

»Nicht, wenn ich sie haben kann«, sagte Kate.

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»Ich verstehe. Ich soll Ihnen die Waffe in die Hand geben, mit der Sie mich erpressen können, und Sie versprechen mir, sie nicht zu benutzen.«

»Genau. Meine Vorfahren sind wohl so fein gewesen, daß Sie mir das glauben.«

»Die Bemerkung habe ich verdient, und ich nehme sie hin. Was haben Sie denn mit den Briefen vor, wenn Sie sie bekommen?«

»Sie der Sammlung in Wallingford einzuverleiben – versiegelt und mit einem späteren Öffnungsdatum. Niemand wird Ihr schreckliches Geheimnis erfahren, solange dieses Wissen Ihnen schaden könnte.«

»Und wie vielen Menschen haben Sie die Geschichte schon er-zählt?«

»Nur zwei Personen. Reed, auf dessen Diskretion Sie sich verlassen können und müssen, und einer Freundin, der ich vertraue und der auch Sie vertrauen müssen.«

»Ich verstehe. Meinen Bruder Herbert haben Sie also nicht hi-neingezogen?«

»Nein, Max, da habe ich mich zurückgehalten. Meine Fragen an Herbert strotzten zwar nicht gerade vor Diskretion, aber er hat mit Sicherheit keine Ahnung, wonach ich suchte. Bestimmt hat er alles als ziemlich hitziges amerikanisches Interesse an englischer Kultur-geschichte abgetan. Wahrscheinlich ist er lange genug in Amerika, um zu wissen, daß die meisten Amerikaner mit der größten Selbstverständlichkeit höchst persönliche Fragen stellen.«

Sie kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. »Wissen Sie, Max, ich bin extra nach London in die Tate Gallery gefahren, um mir das Porträt von Dorothy Whitmore anzuschauen, das ich an jenem Tag in Maine zum erstenmal gesehen hatte. Sie wirkte wie eine Göt-tin, blond und stark und mutig. Anständig, wie Sie.«

»Aber, aber, meine Liebe! Mein Vater – Reston meine ich – war auch anständig. Die Engländer lieben Fairneß, das wird Ihnen aufgefallen sein.«

»Wie oft müssen Sie das Porträt gesehen haben, Max, wenn Sie als Junge aus England kamen und Cecily besuchten. Und all die Besuche später. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Sie stolz sein könnten auf diese Mutter?«

»Nie. Selbst wenn ich gewußt hätte, daß sie meine Mutter war, was aber nicht der Fall war, denken Sie daran. Erst an dem Tag, als ich diese Briefe zusammen mit Ihrer Miss Marston las, erfuhr ich es.

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Ich hatte nicht einmal einen Verdacht in der Richtung. Und hätte ich eine Ahnung gehabt, ich hätte sie so nachdrücklich wie möglich aus meinem Kopf verbannt. Wer wünscht sich schon eine Mutter, wie göttlich auch immer, die zugleich Feministin, Freidenkerin, Sozialistin und Pazifistin ist? Lauter Dinge, die ich hasse. Ich bin auch nicht zu bekehren, was Frauen angeht. Ich liebe sie als Damen, als Ehefrauen und Mütter oder, schlimmstenfalls, als exzentrische und nette alte Jungfern. Wenn sie, wie Cecily, Romane schreiben, sollten sie das erst tun, nachdem sie ihre Pflichten als Frau erfüllt haben. Noch besser wäre, sie schrieben überhaupt keine Romane, wie etwa meine Mutter – ich meine die Frau, an die ich als meine Mutter denke. Sie sprach bloß exzellent französisch und hat ihren Mann und ihre Kinder ungeheuer glücklich gemacht.«

»Es muß ein Schock für Sie gewesen sein«, sagte Kate, die Zeit gewinnen wollte. Sie sah Reed an, aber er merkte offensichtlich nicht, daß sie Hilfe brauchte. Er spielte weiter die Rolle des stummen Zeugen.

»Kein größerer als der, den ich hier erlebe«, sagte Max. »Also gut, Kate. Sie halten alle Trümpfe in der Hand. Angenommen, ich verspreche, Ihnen diese Briefe in ein paar Wochen zu geben – ich habe sie fortgeschafft und kann nicht einfach hingehen und sie mir schnell wieder besorgen, obwohl ich mich bemühen werde –, und überlasse sie Ihnen zur Aufbewahrung und Entsiegelung. Habe ich Ihr und Reeds Wort, daß von alldem nichts nach außen dringt, nie wieder, was auch passiert?«

»Warum sollte ich mein Wort geben? Bedenken Sie, daß ich die Trümpfe in der Hand halte.«

»Weil ich hier bei Ihnen bin und nicht gerade offiziellen Besuch von der Bezirksstaatsanwaltschaft bekommen habe. Oder wäre das Büro der obersten Ermittlungsbehörde von Maine zuständig, wie immer das auch heißen mag? Müssen wir alles Schritt für Schritt durchgehen? Sie wollen die Briefe der Nachwelt erhalten sehen, obwohl ich nicht glaube, daß dies notgedrungen der einzige Weg ist, um an sie heranzukommen. Ich will sicher sein, daß ich niemals des Mordes beschuldigt werde. Geht es etwa noch komplizierter?«

»Na gut«, sagte Kate, die sich bewußt war, daß sie in dieser Aus-einandersetzung von Anfang bis Ende keine besonders gute Figur gemacht hatte. »Lassen wir es dabei. Ich werde mit Mr. Sparrow besprechen, daß die versiegelten Briefe bei ihm hinterlegt werden.

Und ich werde auch in Zukunft keine weiteren Zahlungen von Ihnen 138

fordern. Meine Erpressung ist eine einmalige Angelegenheit.«

»Das sagen ohne Zweifel die meisten Erpresser.«

»Ohne Zweifel. Aber ich bin ich. Das werden Sie mir glauben müssen, falls Sie überhaupt etwas glauben.«

»Das sind Sie, Kate. Das stimmt. Sie haben mein Wort: Die Briefe werden bald in Ihren Händen sein. Und ich habe Ihr Wort, daß sie zu meinen Lebzeiten niemand anderem in die Hände fallen.«

»Einverstanden«, sagte Kate, ergriff aber seine ausgestreckte Hand nicht. Langsam und errötend zog er sie zurück und ging durch das ungemähte Gras hinaus zu seinem Wagen, in dem der Chauffeur auf ihn wartete.

»Und was wird er jetzt tun?« wandte Kate sich an Reed. »Angenommen, er vernichtet die Briefe einfach und leugnet die ganze Geschichte? Was wird dann aus meinen Beweisen?«

»Das wird nicht passieren, es sei denn, es ist ihm das Gerede über Mord und seine uneheliche Geburt wert. Nach deiner Schlußfolgerung will er aber verhindern, daß die Wahrheit ans Licht kommt, solange er lebt und sich ihr stellen müßte. Also wird er kaum wollen, daß du sie zusammen mit dem Mordvorwurf herumerzählst.«

»Reed. Hältst du es etwa für möglich, daß er sich umbringt?«

»Ich glaube kaum. Aber wird in dem Spiel, das du da spielst, der Missetäter nicht immer mit einem alten Armeerevolver in der Bibliothek alleingelassen?«

»Reed, du magst Max nicht. Ich habe das nie gemerkt.«

»Ich auch nicht. Nun, da du es erwähnst: nein, ich mag ihn überhaupt nicht. Aber es wäre kein guter Vorschlag, überhaupt nicht mehr an ihn zu denken, also laß uns zumindest nicht mehr über ihn reden. Schaffen wir das?«

»Könnte sein«, sagte Kate.

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Vierter Teil