Drei

Stunden später – oder Tage oder Wochen? vielleicht waren es auch nur Minuten? – saßen Kate und Max auf dem Rücksitz eines Polizeiautos und wurden von Cecilys Haus zum Polizeirevier gebracht. Kates Wagen, den man nach Gott weiß was durchsucht hatte oder noch durchsuchen wollte, folgte ihnen; am Steuer saß ein junger Polizeibeamter. Man konnte natürlich auch mal auf die Uhr sehen.

Kate tat es. Es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, seit sie wie eine verdammte Bergziege die Felsen hinuntergeklettert war. Wäre sie doch oben am Ufer bei Max geblieben, wie man das von einer angesehenen Literaturprofessorin mittleren Alters erwarten konnte.

Kate und Max waren mit der Polizei an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Einige der Beamten hatten eine Wette abgeschlossen, ob man sie wegen eines schlechten Scherzes, der Rettung eines Ver-unglückten oder einer Halluzination gerufen hatte. Doch dann hatten sie tatsächlich eine Leiche gefunden, und würde es der Dame und dem Herrn etwas ausmachen, oben im Haus zu warten, bis die Leiche geborgen sei. Anschließend werde man sich gemeinsam und vorschriftsgemäß auf den Weg zum Polizeirevier machen. In der Wartezeit wurden sie von einem Polizisten ausgefragt, der jedoch mit keiner ihrer Antworten zufrieden schien. Max’ Identität hatte sich noch leicht feststellen lassen, aber alles andere ergab zumindest für diesen kurz angebundenen, phantasielosen Kleinstadtpolizisten aus Maine keinen Sinn. Sie waren ganz spontan nach Maine gefahren? Sie waren nicht miteinander verwandt? Sie waren Freunde und Kollegen? Das konnten sie ihm nicht weismachen, sagte sein Benehmen. Sie hatten nichts im Schilde geführt, als sie herkamen? Sie hatten nur nachschauen und sich nach einem Schlüssel für die Akten umsehen wollen? Berichte über Landstreicher und Herumtreiber?

Die Polizei hatte nichts davon gehört, und wenn sie nichts wußte, wer dann? Was für Nachbarn? Hatten sie den Schlüssel für die Akten denn gefunden? Ach, sie hatten beschlossen, einen Blick auf das Meer zu werfen, und dann erst zu suchen? Hatten sie erwartet, das Meer werde den Schlüssel an Land spülen? Er hatte sie seinen Sarkasmus und seine Zweifel eher versteckt spüren lassen, als die Dinge beim Namen zu nennen, aber Kates Phantasie arbeitete auf vollen Touren und brauchte kaum mehr als eine hochgezogene Augenbraue, um loszulegen.

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Währenddessen erging sich Max in einer Flut von Selbstbeschul-digungen. Er hätte nie hierherfahren, sie nie herbringen dürfen. Er, Max Reston, hatte einen spontanen Entschluß gefaßt, und das waren nun die Folgen! Man könnte den Fall fast als eine Warnung nehmen.

Daß Max, dem Weitblick und Vernunft zur zweiten Natur geworden waren, sich wie einer dieser rebellischen Studenten aufgeführt haben sollte, fand er schrecklicher, als er in Worte fassen konnte. Dennoch sagte er es. Er war noch immer Max genug, um sich nicht nur in Reue zu suhlen, sondern zusammenzureißen und Kate zu beruhigen.

Er versuchte, sie zu einem Brandy oder noch einem Glas von dem hervorragenden Weißwein zu überreden. Egal, was der Polizist davon hält, hatte Max gesagt. Er hielt sie offenbar sowieso für üble Leute, würde aber noch rechtzeitig erfahren, mit wem er es zu tun hatte. Inzwischen konnte man nur sein Bestes tun, um sein Gleich-gewicht wiederzuerlangen. Mit Max’ Hilfe gelang das Kate einigermaßen.

Als sie im Polizeirevier angekommen waren, erhielt Kate die Erlaubnis, Reed anzurufen. Er riet ihr, der Polizei gegenüber seine Beziehungen zum Büro des Bezirksstaatsanwalts zu erwähnen, und bot ihr an, nach Maine zu kommen und sie auszulösen. Dann sprach er selber mit einem Beamten des Reviers und erreichte, daß sie und Max zum Logan Airport in Boston fahren und von dort nach New York fliegen durften. Diese Lösung half, die Atmosphäre etwas zu entspannen. Die Polizei mußte sich nun, egal ob widerwillig oder zufrieden, der Tatsache stellen, daß sie es weder mit Hippies zu tun hatte, noch auf ein Liebesnest gestoßen war und auch nicht auf eine Bande von Sodomiten mittleren Alters, sondern zwei sehr reputierli-che Personen vor sich hatte, deren gutes Recht es war, sich aufzuhal-ten, wo sie sich aufgehalten hatten. Dabei hatten sie eine Leiche gefunden und diese der Polizei sofort und auf denkbar korrekte Weise gemeldet.

»Da ist nur noch eines«, verkündete der Chef des Polizeireviers, dessen Benehmen so herzlich geworden war, wie seine ausdruckslose Stimme und sein ausdrucksloses Gesicht das zuließen. »Bevor Sie uns verlassen, muß ich Sie bitten, sich die Leiche anzusehen. Das wird kein angenehmer Anblick sein, denn sie hat einige Zeit im Wasser gelegen, möglicherweise mehrere Tage. Genau werden wir das erst nach der Autopsie wissen. Aber falls einer von Ihnen die junge Frau kennt – vielleicht war es eine Freundin von Miss Hutchins?« wandte er sich hoffnungsvoll an Max, »würde uns das ein 31

gutes Stück weiterhelfen.«

»Jetzt können wir unsere gute Erziehung zeigen«, sagte Max leise zu Kate, als sie dem Chef in das Kellergeschoß des Gebäudes folgten. »Wir nehmen all unseren Mut zusammen, stehen die Sache zügig durch, zeigen nicht mehr Gefühle als absolut notwendig und agieren sie dann in unseren Träumen aus.«

»Woher sollten wir die Frau denn kennen?« fragte Kate.

»Eine gute Frage.« Max blieb im Korridor stehen. »Sir«, rief er dem Mann zu, der vor ihm herging. »Natürlich besteht die Möglichkeit, daß ich in der Leiche eine Person erkenne, die in irgendeiner Verbindung zu Miss Hutchins steht, wenngleich das ziemlich unwahrscheinlich ist. Aber Miss Fansler wird in der Leiche auf keinen Fall jemanden erkennen können, denn sie ist vor dem heutigen Tag noch nie hier gewesen. Könnten wir ihr diese Tortur nicht ersparen?«

»Routine«, hieß die knappe Antwort.

Tatsächlich behandelten sie Max und Kate so rücksichtsvoll, wie es die Umstände erlaubten. Die Leiche wurde aus einer Art Schubfach gezogen, in der sie zugedeckt und kühl gehalten wurde. Das Laken wurde nur so weit weggezogen, daß das Gesicht sichtbar wurde, das, wie man ihnen erklärte, »in Ordnung gebracht« worden war. »Sie ist Anfang Zwanzig«, sagte der Chef. »Das könnte helfen, sie irgendwo einzuordnen.«

Kate gab sich einen Ruck, und Max legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Kate würde sich immer an das Gefühl der Erleichterung erinnern, weil das Gesicht zwar schrecklich, aber doch nicht ganz so schrecklich aussah, wie sie befürchtet hatte. Sie erkannte es sofort. Dieses Erkennen ließ sie für einen Moment die Wirklichkeit ausblenden, bis ihr Verstand ihr sagte, daß die junge Frau da vor ihr tot war, und das schon seit einigen Tagen.

»Ich kenne sie«, sagte Kate. »Sie ist eine meiner Studentinnen.

Höheres Semester. Ihr Name ist Marston, Geraldine Marston, von ihren Freunden Gerry genannt…«

»Sehr gut«, schoß der Polizist mit lauter Stimme dazwischen. Er hat recht, dachte Kate, ich habe angefangen zu schwatzen. »Gehen wir wieder hinauf. Boyd, besorgen Sie der Lady einen Brandy. Hier entlang, bitte.« Das Schubfach wurde wieder geschlossen, und der Polizist griff nach Kates Arm, führte sie hinauf und begleitete sie zu einem Sessel. »Trinken Sie das«, sagte er. Boyd muß ein schneller Junge sein, dachte Kate. Gerry Marston!

Schließlich wurde Max gebeten, am Ort des Geschehens zu blei-32

ben, da er derzeit am ehesten eine Verfügung über das Haus hatte.

Ein Polizist würde Kate zum Logan Airport fahren und ihrem Mann übergeben, der schon unterwegs nach Boston war. Dieser Polizist hielt einen Ehemann jetzt für den richtigen Trost, selbst für eine Frau, die offenbar keinen Wert darauflegte, seinen Namen zu tragen.

Wenn er denn überhaupt ihr Ehemann war. Sie schwiegen während der Fahrt, Kate, weil sie fürchtete (wie es einer ihrer Kollegen einmal eher präzise als elegant ausgedrückt hatte), ihr würde sonst vor Angst der Mund überlaufen, und der Polizist, weil er – typisch für diese Gegend – ein Gespräch mit Fremden am liebsten vermied.

Erst als sie neben Reed im Flugzeug saß und einen Wodka Martini schlürfte, hatte Kate das Gefühl, sprechen zu können. Natürlich fing sie statt dessen an zu weinen, nicht laut, aber die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Macht nichts«, sagte Reed und zog ein großes Taschentuch hervor. »Weine nur. Nein, die Stewardeß wird dich schon nicht für betrunken halten, nur für am Ende deiner Nerven.

Vielleicht vermutet sie, ich hätte dir gerade von meiner Leidenschaft für eine andere Frau erzählt, und du versuchst gerade, mich zu überreden, daß ich unser glückliches Zuhause nicht zerstöre. So ist es besser. Ein schwaches Lächeln, aber immerhin ein Lächeln.«

»Ich denke dauernd an sie und erinnere mich. Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich so genau an sie erinnern kann, in solchen Ein-zelheiten, und daß meine Gespräche mit ihr noch so lebendig sind.

Das ist ohne Zweifel das, was uns die Dichter immer über das Leben sagen – wir nehmen es nie intensiv genug wahr, bis jemand ertrunken in einer Mulde zwischen den Felsen liegt. Zumindest pflegten die Dichter uns das zu sagen, bevor sie selbst Intensität und Syntax aufgegeben haben. Ich klinge wie einer dieser besonders konservativen Kongreßabgeordneten aus dem Mittelwesten. Aber was kann sie dort nur gewollt haben, Reed? Sie stammte aus dem Mittelwesten.

Hatte sie das überwältigende Bedürfnis, einmal das Meer zu sehen?

Gewiß hat sie Cecily nicht beraubt. Ich meine nicht ihr Silber, sondern ihre Papiere und so weiter. So ein Mensch war sie, glaube ich, nicht. Und warum hätte sie auf den Felsen herumklettern sollen?

Aber man könnte genauso fragen: Warum habe ich es getan? Könnte es sein, daß man ihre Leiche dort hinuntergeworfen hat?«

»Wir sollten nicht spekulieren, bevor wir nicht die Ergebnisse der Autopsie kennen. Stimmt es, daß Max sie nicht gekannt hat?«

»Ja. Warum, um Himmels willen, sollte er auch?«

»Naja, sie war an der Universität. Er könnte ihr auf dem Campus 33

begegnet sein.«

»Ich bin sicher, Max hat niemals eine Person zur Kenntnis genommen, die ihm nicht in aller Form vorgestellt worden ist, und schon gar nicht eine von Tausenden Studentinnen, die dort herum-schwärmen. Sie war ein nettes Mädchen, Reed – was für eine altmodische Phrase. Ein altmodisches nettes Mädchen. Sie hatte nebenher einen Job, um weiterstudieren zu können, obwohl sie eine Art Stipendium für ihr Schulgeld hatte. Sie hatte arme Eltern – die übliche herzzerreißende Geschichte. Ich hoffe zu Gott, daß sie nicht das einzige Kind war, aber ich habe das dumpfe Gefühl, sie war es.

Reed, wieso kommt man bloß auf den Gedanken, es wäre leichter zu ertragen, wenn sie es nicht war? Kannst du mir das sagen?«

»An dieser Nachricht wird nichts leicht zu ertragen sein«, sagte Reed. »Jemand ist jetzt gerade auf dem Weg, sie zu überbringen, Meilen von hier entfernt, sogar in einer anderen Zeitzone. Kate, du mußt dich jetzt zusammenreißen und begreifen, wie absolut ungewöhnlich deine ganze Geschichte ist. Ich kann der Polizei von Maine nicht verdenken, daß sie dich und Max in finsterster und ruchloser Sündhaftigkeit vermuteten. Wie auch nicht unter diesen Umständen?

Als Max mir erzählte, daß er dich aufstöbern wollte, habe ich wohl kaum zugehört. Um so schlimmer. Ich hätte ihm erzählen sollen, daß du gerade in Minneapolis eine Rede vor einer Gruppe von homose-xuellen Aktivisten hältst. Das hätte ihn bestimmt abgeschreckt.«

»Vermutlich hat Max die Konsequenzen aus dem Tod Cecilys befürchtet. Schließlich betrachtet man die Entscheidung, nicht zu heiraten oder sich in das Leben eines anderen Menschen zu drängen, als eine Art Versicherung gegen derartige Dinge. Ich finde es rührend, daß Max an die Hand genommen werden wollte, und das von der unmütterlichsten Frau im weiten Umkreis.«

Reed griff nach der zweiten kleinen Flasche Wodka Martini, die ihnen die Fluggesellschaft kredenzt hatte. Er füllte Kates Glas und rührte um. »Dir ist doch klar, mein Liebling, warum vielleicht gerade du es sein mußtest, die Max bei dieser rührenden Mission begleitete?

Weil du für ihn die Leiche identifizieren und so jeden Verdacht hübsch in eine andere Richtung lenken konntest.«

Kate spülte diese Feststellung mit dem ersten Schluck ihres zweiten Martini hinunter. Dann schüttelte sie den Kopf. »Viel zu schlau«, sagte sie. »Wenn ich dich recht verstehe, dann unterstellst du, daß Max, nachdem er die Leiche in die Mulde geworfen hat, wollte, daß eine Person sie identifiziert, auf die ein Verdacht fallen könnte. A-34

ber, Reed, wenn er für die Leiche verantwortlich wäre, was nach Lage der Dinge lächerlich ist, dann hätte er doch jede Verbindung mit ihr vermieden. Außerdem, was hätte es ihm nützen können, mich dorthin zu schleppen, um die Leiche zu identifizieren. Egal wann das Mädchen gestorben ist, ich war nicht in der Nähe von Maine und könnte das auch beweisen. Aber weißt du, es gibt da eine Verbindung, zwar nicht zwischen Max und Gerry, aber zwischen Gerry und dem Haus. Natürlich. Dieses Porträt! Sie schrieb an ihrer Dissertation über Dorothy Whitmore und wollte sich vielleicht das Gemälde ansehen. Ein außergewöhnliches Porträt. Deswegen war sie dort, Reed. Das muß es gewesen sein. Das oder weil sie auf der Suche nach Papieren der Whitmore war, obwohl sie mir überhaupt nicht wie eine Schnüfflerin vorgekommen ist.«

»Da hast du zweifellos recht. Und in einem weniger angeheiter-ten Moment mußt du mir von Dorothy Whitmore, Cecily Hutchins und der Geschichte der englischen Romanschriftstellerinnen des vergangenen Jahrhunderts erzählen. Inzwischen könnte es sein, daß, falls deine Vermutung richtig ist, sie jemand entdeckt hat, der selber hinter dem Silber her war. Der könnte sie auf die Felsen gelockt oder geschubst und dort getötet haben. Die Polizei wird diesen Strauch-dieb finden müssen. Jedenfalls steht fest, daß er ein ziemlich energi-scher Mensch gewesen sein muß.«

»Oder ein verführerischer.«

»Hast du nicht gesagt, daß sie ein nettes Mädchen war, altmodisch und so weiter?«

»Genau deswegen hätte er verführerisch sein müssen, auf eine ganz subtile Art«, sagte Kate. Sie fühlte sich ein bißchen besser.

Aber der Schmerz über Gerrys Tod war immer noch da und würde nie ganz verschwinden.

In den folgenden Wochen kam die Polizei von Maine offenbar zu der gleichen Schlußfolgerung wie Reed und Kate im Flugzeug. Sie machten sich auf die Suche nach diesem Herumtreiber, und dabei half ihnen die Todeszeit, die die medizinischen Sachverständigen erstaunlicherweise schon nach ein oder zwei Tagen festgestellt hatten. Das Mädchen war ertrunken, nachdem es einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte oder, wahrscheinlicher, nachdem es ausgerutscht und mit dem Kopf gegen einen Felsen geschlagen war. Sie war, und das stellte die Expertenmeinung so eindeutig fest, wie Expertenmei-nungen das eben tun müssen, nicht weniger als drei und nicht mehr als fünf Tage tot, als man ihre Leiche fand. Starke Flut und rauhe 35

See hatten den Körper gegen die Felsen geschleudert, als er in dem kleinen Tümpel lag, aber diese Verletzungen wurden als nach dem Tod erlittene identifiziert. Sie war bei guter Gesundheit gewesen –

litt jedenfalls an nichts, was eine andere Todesursache nahegelegt hätte. Und, ja, natürlich, es war durchaus möglich, daß sie allein und durch einen Unfall gestorben war. Sicher wäre es dumm gewesen, auf diese Felsen hinauszuklettern, wenn niemand wußte, was sie vorhatte oder sie vielleicht vermissen konnte. Aber wenn sie das getan hatte, so war es sehr wohl möglich, daß sie ausgerutscht, mit dem Kopf aufgeschlagen, in den Tümpel gestürzt und ertrunken war.

Alles in allem eine unbefriedigende Theorie, aber da es kein erkennbares Motiv gab, schien es sinnlos, einen Mord zu vermuten. Ein unglücklicher Zufall. Schilder, die Besucher vor der Küste warnen sollten, wurden vorgeschlagen, aber die Bewohner hielten dagegen, daß die Küste Privatbesitz war und daß Eindringlinge – das wurde natürlich nicht laut ausgesprochen – es nicht anders verdienten.

Und damit war es offenbar abgetan. Der Landstreicher wurde nicht gefunden, obwohl alle eindringlich befragt wurden, die solch eine Person gesehen haben könnten. Niemand hatte irgendwen gesehen. Woher hatte Maximillian Reston überhaupt von einem Herumtreiber gehört? Auch diese Frage klärte sich auf ganz unschuldige Weise. Eine alte Dame, eine Nachbarin und Freundin Cecilys, hatte bei ihrem nachmittäglichen Verdauungsspaziergang – der sie immer an Cecilys Haus vorbeiführte und den sie auch nach Cecilys Tod beibehielt – einen Mann gesehen. Nein, sie konnte ihn nicht näher beschreiben. Aber sie hatte sich verpflichtet gefühlt, Max davon zu berichten. Sie war Ende Siebzig und bei guter Gesundheit, aber ebenso allein und exzentrisch (die Polizei gebrauchte inoffiziell ein anderes Wort) wie Cecily. Max reagierte auf diese Warnung, weil er ein schlechtes Gewissen wegen der Papiere hatte. Da die alte Dame auch mit Cecilys Anwalt in Verbindung stand, einem alteingesesse-nen Einwohner der Stadt, den sie gut kannte, hatte sich der Druck auf Max, sich der Sache anzunehmen, noch verstärkt. Es paßte alles nahtlos zusammen, und der Fall schien sich nach und nach aufzulö-

sen.

Was nun Kate Fansler betraf, so befand sie sich zur Todeszeit ganz zweifelsfrei anderswo, wo immer das auch gewesen sein mochte. Die Tatsache, daß sie sich bereitgefunden hatte, einen Mann nach Maine zu begleiten und mit ihm dort die Nacht in einem Gasthaus zu verbringen, stand auf einem anderen Blatt. Die Polizei bedauerte das, 36

wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Diese Dame wäre eine so wunderbare Lösung gewesen. Doch während all der Tage und Stunden, die als Todeszeit von Geraldine Marston in Frage kamen, hatte Kate Fansler in der Gesellschaft verschiedener Leute Reden gehalten. Und die Nächte hatte sie mit ihrem sogar in Maine respektein-flößenden Mann verbracht, was dieser auch beschwören wollte. Zu allem Überfluß hatte sich herausgestellt, daß Kate Fansler eine ziemlich berühmte Englisch-Professorin an einer berühmten Universität war und über weitreichende Verbindungen verfügte.

An dem Punkt ruhte der Fall mehrere Monate lang. Erst Ende März wurde der Gedanke an Geraldine Marston für Kate wieder mehr als ein dumpfer, ständiger Schmerz und eine traurige Erinnerung.

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