Neun

Ein englischer Schriftsteller, selbst Cambridge-Absolvent, schrieb vor einigen Jahren in seiner Autobiographie: »Jeder Oxfordi-aner geht mit wenigstens einem Buch über Oxford schwanger und bringt es im allgemeinen auch zur Welt.« Niemand, der in Cambridge war, verspürt dagegen den Drang, darüber zu schreiben. Die Verallgemeinerung stimmte zwar nicht, enthielt aber wie alle Verall-gemeinerungen ziemlich viel Wahrheit. Kate jedenfalls war, als sie vor dem Martyrs Memorial stand, geneigt, dieser Behauptung zuzu-stimmen. Oxford schien ihr weniger aus eigenen Erinnerungen zu bestehen als aus denen berühmter oder auch nur gebildeter Leute, deren Berichte sie gelesen hatte. (Nicht zu reden von all dem, was in die Romane und Gedichte jener eingeflossen war, die die Stadt mit ihren träumenden Türmen nie hatten vergessen können.) Auch Kate war zu ihrer Zeit im Boot über den Cam gestakt, durch die Seiten-straßen von Cambridge gewandert und hatte, nicht immer religiöse, Ehrfurcht in der Kings College Chapel gespürt. Sicher, Cambridge war von großartiger Schönheit. Aber Oxford war für sie der Nabel der wissenschaftlichen Welt, nicht zuletzt, weil es, obwohl Industrie-stadt, so doch ein Ort voller Geheimnisse war. Jedes seiner Colleges hatte Höfe und Gärten, die ineinander übergingen, nur den Einge-weihten bekannt und oft nur geladenen Gästen zugänglich waren.

Kate fragte sich, wie wohl das Leben in einer amerikanischen Universität aussähe, wenn jede Fakultät ihren eigenen Garten hätte, in dem man sich treffen und eine Natur genießen konnte, die sich dem Betrachter in sorgsam gepflegten Blumenbeeten und alten Bäumen darbot. Wenn auch die Blumen in den Gärten der Colleges schöner blühten denn je – die Gebäude und der Verkehr ließen den Gedanken nicht aufkommen, daß Oxford zu einem Museum geworden sein könnte. Auch das dazu gehörige alte Lagerhaus gegenüber konnte nicht verhindern, daß Blackwell’s Schiffahrtsgebäude an der Parkend Street mit seinem Glas und der Klimaanlage aussah wie für das Zentrum von Detroit entworfen. Wenigstens war man klug genug gewesen, keine Hochhäuser zu bauen, tröstete sich Kate. Die Türme be-herrschten noch immer den Himmel, dazu gehörte auch dieses gräß-

liche Ding in Nuffield, das man 1958 als Bibliothek und ohne Gefühl für Angemessenheit und Zurückhaltung gebaut hatte.

Kate griff nach dem Fahrrad, das sie sich gerade geliehen und 98

hinter dem Denkmal abgestellt hatte. Sie hatte ihren Abscheu gegen das Auto mitgebracht in eine Stadt, die am Verkehr zu ersticken drohte. Sie hatte vor, durch Oxford zu radeln, und hoffte, entsprechend exzentrisch zu wirken. Sie streckte den linken Arm aus, wollte in die St. Giles einbiegen, von dort in die Woodstock Road und am Eingang zum Somerville vorbei, wo Cecily und Dorothy Whitmore und Max’ Mutter ihre Freundschaft bald besiegelt hatten.

Tatsächlich hatte Kate die Materie weit genug erforscht, um zu wissen, daß 1918 die SomervilUaner noch im St. Mary Hall Quadrangle des Oriel College untergebracht waren, während die männlichen Bewohner dieses geheiligten Bezirks ausgezogen waren, um sich bei Ypern und Neuve Chapelle abschlachten zu lassen. Das Somerville College hatte man, weil es neben dem Radcliffe-Krankenhaus lag, in ein Militärhospital umgewandelt. In St. Mary Hall hatte man währenddessen den Verbindungsgang zwischen dem Wohnbereich der männlichen und der weiblichen Studenten zugemauert. Nach der Oxforder Legende hatten ein paar unerschrockene Seelen von der einen Seite aus (oder von beiden) die Backsteine wieder weggeräumt, und bis das Loch erneut zugemauert werden konnte, bewachten die Direktorin des Somerville ihre Seite des Lochs und der Domherr des Oriel die seine.

Kate fuhr am Somerville vorbei, nicht ohne einen schmachtenden Blick darauf zu werfen, der sie beinahe teuer zu stehen gekommen wäre, denn im selben Augenblick schoß ein Lastwagen aus dem Gelände des Radcliffe-Krankenhauses. Als Somerville 1919 wieder College wurde, studierten die Whitmore und die Hutchins im zweiten Jahr dort. Die Whitmore, die zwei Jahre in der britischen Army gedient hatte, war die ältere. Während diese Dinge Kate durch den Kopf gingen, fuhr sie am Observatorium vorbei, bog nicht in die Observatory Street ein – Phyllis hatte ihr das sehr eindringlich erklärt

–, fuhr an der kleinen Ladenzeile an der Woodstock Road vorbei –

Kate hakte sie in Gedanken nacheinander ab: eine Drogerie (bei den Einheimischen hieß sie Apotheke), eine Reinigung, ein Lebensmit-telgeschäft, ein Laden, der Postkarten und ähnliches verkaufte – und bog dann nach links in die St. Bernard’s Road. Phyllis’ Haus lag auf der linken Seite, etwa nach einem Drittel der Straße, leicht zu erkennen, hatte Phyllis gesagt, weil es das einzige war, bei dem weder vor noch hinter dem Haus der Rasen gemäht war. »Man runzelt darüber sehr heftig die Stirn.« Kate lehnte ihr Fahrrad gegen den Zaun und schloß es mit einer Kette an, die der Fahrradverleih ihr gegeben 99

hatte. Mußte man in Oxford früher auch die Fahrräder anketten? Sie läutete.

»Was du jetzt brauchst, ist ein Drink«, sagte Phyllis. »Herzlich willkommen im schäbigsten Wohnzimmer von Oxford, und das will schon einiges heißen. Nein, setz dich nicht auf die Couch, du wirst bis auf den Fußboden durchsinken und im Lotussitz enden. Immer wenn ich diese Couch sehe, denke ich an diese Szene in ›Private Lives‹, als Elyots derzeitige Frau schockiert ist, weil Elyot mit Amanda davonrennt und sie sich fühlt, als sei schleimiges Ungeziefer über sie hinweggekrochen; darauf sagt Elyot: ›Das kann schon sein, das Sofa ist sehr alt.‹ Der Sessel ist häßlich, riesig und erstaunlich bequem. Kate, ich kann mich nicht erinnern, jemals über einen Besuch so froh gewesen zu sein. Aber jetzt höre ich auf zu schwätzen und frage dich erst einmal, wie es dir geht. Also, wie geht es dir?

Magst du einen Scotch? Wir haben einen Kühlschrank mit dem Fas-sungsvermögen eines Schminkköfferchens. Aber in der Vorfreude auf deine Ankunft ist es mir gelungen, zwei Eiswürfel zu produzie-ren. Nach deinem ersten Drink kannst du den Whisky dann lauwarm trinken, so, wie das britische Empire auf- und untergegangen ist. Ich bin gleich zurück. Die Küche, das brauche ich wohl nicht erst zu betonen, liegt eine steile Treppe tiefer und direkt neben dem Klo.«

Kate ließ sich glücklich in den so riesigen wie häßlichen Sessel sinken und dachte, wenn man schon nicht 1920 in Oxford sein und die Whitmore zur Freundin haben konnte, dann war man ein halbes Jahrhundert später mit Phyllis als Freundin doch glücklich dran.

Selbst in einem Zimmer wie diesem. Denn seine Schäbigkeit war wirklich so bemerkenswert, als hätten einige Tausend Leos die Sprungfedern traktiert und ihre Schuhe an den Schonbezügen abge-putzt. Im Kamin stand ein Gasofen, dessen Heizleistung schon enorm sein mußte, um für seinen scheußlichen Anblick zu entschädigen. In der Ecke stand ein Fernsehapparat. Auf dem Boden lag ein Läufer, dessen Existenzberechtigung die Wärme sein mußte; ästheti-sche Gründe konnte es nicht geben. Aber, so dachte Kate glücklich, es war ein wunderbarer Raum für Gespräche, denn sein einziges Mobiliar bestand aus zwei üppig gepolsterten Sofas und zwei ebenso ausladenden Sesseln sowie einer trüben Stehlampe in der Ecke. Da Phyllis nicht arm war, war dieses Haus aus Gründen gewählt worden, die nichts mit seiner Einrichtung zu tun hatten.

Phyllis’ Freude über Kates Ankunft in Oxford war zwar nicht ü-

berraschend, aber dennoch rührend. Am Telefon hatte sie Kate von 100

einem Buch erzählt, in dem die Frau eines amerikanischen Gastpro-fessors ihre Erlebnisse in Oxford schildert. Es trug den Titel ›These Ruins Are Inhabited‹, und sie hatte gesagt, wäre der Titel nicht schon vergeben, sie hätte dieses Buch sicher selbst geschrieben. Da sie genauso närrisch anglophil war wie Kate, war nun die Zeit für einen ersten Austausch ihrer Eindrücke gekommen.

»Dieu que la vie est quotidienne«, zitierte Phyllis, als sie mit zwei steifen Drinks zurückkam, einer davon mit Eis. »Laforgue hätte gewußt, wovon er sprach, wenn er nur einmal zur Vorlesungszeit in Oxford gewesen wäre, ohne mit der Universität zu tun zu haben. Du kannst es dir nicht vorstellen. Man trottet von einem kleinen Laden zum anderen, um seine Lebensmittel einzukaufen, hier Brot, dort Fleisch, im nächsten Laden Salat, und alle sind ungeheuer freundlich. Nur das macht das Ganze erträglich. Die englischen Ladenbe-sitzer sind furchtbar nett, nicht wie die in New York, die offenbar der Meinung sind, daß du ihren Laden nur deshalb betrittst, weil du beleidigt werden willst. Aber es zermürbt dich trotzdem. Manchmal gehe ich auf den Markt und stelle mich in einer ewigen Schlange an, um bei Palme’s richtig guten Käse und ein hervorragendes Brot zu kaufen. Aber meistens gehe ich zu Marks & Spencer und kaufe fertigen Shepherd’s Pie aus Hackfleisch und Kartoffelbrei. Hugh murrt dann zwar ein bißchen, aber er wird ständig eingeladen zu eleganten Dinners irgendwo, und sogar er gibt zu, daß in dieser Küche nur ein viktorianischer Koch funktionieren könnte. Höhepunkt der Woche ist schließlich mein Besuch im Waschsalon. Man geht entweder abends hin und trifft die Erstsemester, oder man geht tagsüber und begegnet den Frauen junger Dozenten. Am Abend ist die Gesellschaft besser.

Diese Ehefrauen! Ich kann mir nicht vorstellen, wie England je eine Germaine Greer assimilieren konnte. Ich habe noch kein Land gesehen, in dem die Frauen so ein Sklavendasein führen. Natürlich sind amerikanische Frauen als Gäste kaum besser. Sieh mich an. Ach, Kate, du bist eine herrliche Abwechslung. Und du wirst sicher unendlich erleichtert sein zu hören, daß wir zum Dinner ausgehen.

Also, was ist das für eine alte Geschichte, die du da ausgräbst, und warum? Und wie geht es Reed?«

»Reed geht es gut. Die anderen Fragen brauchen etwas mehr Zeit und etwas mehr Whisky. Wie um alles in der Welt bist du an dieses außergewöhnliche Haus geraten, Phyllis?«

Phyllis gluckste. »Ich antworte wie dieses Mädchen aus Vassar, das auf die Frage, wie es zur Prostitution gekommen sei, antwortet: 101

reine Glücksache. Den Ausschlag haben die Badezimmer gegeben, außerdem herrscht hier während des Semesters ein unglaublicher Wohnungsmangel. Dazu muß ich noch sagen, Hugh hat sich natürlich erst dann entschlossen, ein ganzes Jahr am Clarendon zu verbringen, als wir praktisch schon auf dem Weg zum Flughafen waren; und dieses Haus war kurzfristig zu mieten. Irgendwer muß beim bloßen Gedanken an die vielen Treppen zusammengeklappt sein. Das einzige, was ich von dem Haus vorher wußte, war, daß es drei Klos und zwei Badezimmer hat. Das andere Haus, das wir hätten mieten können, hatte bloß ein stilles Örtchen im Erdgeschoß und ein Badezimmer ohne Örtchen im zweiten Stock, und man schlief, sicher schön unruhig, oben unter dem Dach. Ich bin einfach zu sehr Amerikanerin, um ohne ein eigenes Badezimmer auszukommen, wenn ich auch, wie du siehst, auf die meisten anderen Annehmlich-keiten verzichten kann. Ich glaube, die Lady, der das Haus gehört, hatte ursprünglich vor, mehrere Wohnungen daraus zu machen; deshalb so viele Badezimmer. Die Engländer, habe ich festgestellt, betreten es einmal morgens nach dem Aufstehen und dann den ganzen Tag nicht mehr. Man sollte das nicht für möglich halten bei all dem Tee, aber ihre Blasen werden ohne Zweifel von Geburt an darauf trainiert. Außerdem haben wir hier eine hervorragende Heizung, das heißt: Wenn man über Nacht ein Glas Wasser hinstellt, ist es am anderen Morgen nur beinahe zu Eis geworden. Und es gibt jede Menge heißes Wasser, eine großartige Sache, jedenfalls bis man merkt, wie es erzeugt wird – von einem Monstrum von Heißwasser-gerät, das so viel Krach macht wie eine Düsenmaschine und himmel-schreiende Kosten verursacht. Wir haben ein Erdgeschoß und drei Stockwerke, zwei Zimmer pro Etage, was sehr praktisch ist, wenn man Gäste hat; man kann sie schichtweise einlagern. Hugh nennt es eine vertikale Ranch. Da ich dem wunderbaren englischen Bier in den wunderbaren Pubs nicht widerstehen kann, ist es tröstlich zu wissen, daß man sich die Kalorien täglich auf den Treppen wieder abstrampelt. Und deshalb bin ich hier. Unsere Straße ist übrigens eine Art Zwischenzone: Wenn ein Lehrer soweit war, daß er heiraten konnte, dann wohnte er zuerst hier, am Woodstock-Ende. Die Arbeiterklasse wohnt am Walton-Ende. Der Neubau da drüben ist für das St. John’s; aus der St. Bernard’s Road wird also noch etwas. So, jetzt bist du dran. Laß hören, was du zu erzählen hast. Hoffentlich sind es hübsch ausgefallene Sachen.«

Kate schleuderte die Schuhe weg und zog die Füße unter sich auf 102

den Sessel. Daß es keine Tische gab, erklärte sich zum Teil dadurch, daß man ein Glas leicht auf den breiten Armlehnen der alten Sessel abstellen konnte. In einem Buch hatte sie gelesen, daß die von ihr ungeheuer bewunderte Colette gesagt hatte, Freundschaft drücke sich, genau wie die Liebe, am wahrhaftigsten im Zwiegespräch aus.

Ihr wurde klar, daß eines ihrer Probleme in den vergangenen Jahren daher rührte, daß der Alltag solche Gespräche nicht mehr zuließ.

Diejenigen, mit denen sich ein Gespräch lohnte, waren zu beschäftigt, und die, die Zeit hatten, waren zu langweilig. Um zu sich selbst zu finden, hatte sie dann gelegentlich die Einsamkeit der Hütte gesucht, die ihr Reed, vielleicht als Ersatz für nicht vorhandene Freundschaften, geschenkt hatte. Oder fand man, wenn die Jugend erst einmal vorüber war, nur noch zu Gesprächen mit Menschen, die ähnliche Interessen hatten oder denen man, wie Phyllis, außerhalb des eigenen Dunstkreises begegnete, also dort, wo beide nicht gleich wieder der gewohnten Schwerkraft unterlagen? Sie fragte Phyllis.

»Du gleichst immer mehr einem Psychiater oder einem dieser jü-

dischen Komödianten, der ständig eine Frage mit der nächsten beantwortet. Natürlich weiß ich genau, was du meinst. Nie in meinem Leben bin ich so einsam gewesen, und ich habe nicht, wie du gerade, ein paar Schriftstellerinnen entdeckt, um die ich meine Gedanken kreisen lassen kann. Ich muß dir gestehen, mein größtes Ziel ist es, einmal im Speisesaal eines dieser Männer-Colleges zu essen. Hugh sagt, das ist immer noch unmöglich, und selbst wenn er für mich eine Einladung in eines dieser Colleges ergattern könnte, die zugeben, daß Frauen existieren – schließlich bin ich berufstätig, eine für ein Jahr beurlaubte Schuldirektorin, was aber niemanden zu interessieren scheint –, wäre es einziger Krampf, und ich würde mich sehr verlassen fühlen. Die lieben armen Dozenten haben seit Ewigkeiten nicht mehr mit Frauen an einem Tisch gesessen, sagt Hugh; denen würde bestimmt das Essen im Halse steckenbleiben. Entweder sind es nämlich Junggesellen, die in ihrem College leben, oder es sind verheiratete Männer, die ihre armen Frauen und Kinder daheim bei Milch und Cornflakes zurücklassen und selbst in den Speisesaal gehen, um fein zu essen und sich ordentlich bedienen zu lassen. Schließlich gehört ein ausgedehntes und raffiniertes Dinner zu den persönlichen Vorrechten eines Oxforder Universitätslehrers. All diese Regeln entstanden, bevor Lehrer überhaupt heirateten. Ich denke, daß sie mit Erleichterung ihre Häuslichkeit verlassen und sich in sichere männliche Gefilde zurückziehen… Aber auch die sind – zu meiner Freude –

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in Gefahr und können nicht länger als ein sicherer Zufluchtsort gelten. Einige Colleges, wie zum Beispiel Exeter, haben nie eine Frau in ihren Speisesaal gelassen und beteuern, das auch in Zukunft nicht zu tun. Was nicht heißen soll, daß die lieben Engländer ihren männlichen Gästen gegenüber besonders gastfreundlich wären. Einige prominente amerikanische Professoren sind an sozialer Kälte gestorben.

Und doch, verdammt noch mal, liebe ich die Bäume und Gärten und Rasen noch immer abgöttisch. Manchmal sehe ich mir im Magdalen-Park die Rehe an und denke, daß man sie hergebracht hat, damit die Jungs von den großen Landsitzen sich wie zu Hause fühlten. Und wahrscheinlich glauben die Nachkommen dieser Jungen, daß Frauen genauso gehalten werden sollten wie Rehe: nett und eingesperrt.

Diese Welt ist nicht mehr, aber sie hatte ihre Reize.«

»Und was für Reize«, seufzte Kate. »Stell dir einmal das Leben in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vor. Da wurden ge-mischte Gesellschaften nach festen Regeln abgehalten, und damals war, wie L.P. Hartley es ausgedrückt hat, Hoffnung auf die Zukunft noch ebenso selbstverständlich wie heute die Angst vor ihr. Phyllis, wenn ich noch ein nostalgisches Wort sage, gib mir eins hinter die Ohren.«

»Ich gebe dir höchstens noch einen neuen Scotch«, sagte Phyllis.

Sie ging hinaus und kam mit der Flasche zurück. Eis gab es, wie angekündigt, nicht mehr. Sie stellte die Flasche zwischen ihnen auf den Boden. Kate schenkte ein. »Aber ich verstehe nicht«, sagte Phyllis, »was du hier vorhast, außer mich zu retten. Müßte ich von Dorothy Whitmore gehört haben?«

»Eigentlich nicht. Wir waren beide zu jung für den Film, der nach ihrem Roman gedreht wurde. Sie war eine gute Freundin von Cecily Hutchins. Also, am besten lege ich die Karten auf den Tisch und erzähle dir die ganze Geschichte. Kennst du Max Reston?«

»Aber sicher. Er kennt Hugh durch seinen Bruder, Restons Bruder, meine ich. Ab und zu taucht er auch im Cosmopolitan Club auf, ich meine Reston, nicht seinen Bruder.«

»Vor kurzem ist er dort sogar mit mir aufgetaucht, aber das kommt später. Begonnen hat es im März, als ich draußen in dem Landhaus war, das Reed mir geschenkt hat. Aber davon habe ich dir wohl auch noch nicht erzählt. Langsam höre ich mich an wie meine älteste Schwägerin, die beim Erzählen immer so weit zurückgreift und keinen Punkt ausläßt, daß ich mich frage, ob sie absichtlich langweilig ist. Niemand kann nur aus Versehen so ein Langweiler 104

sein.«

»Du langweilst mich nicht. Was Langeweile wirklich bedeutet, habe ich erst in den letzten Monaten hier gelernt.«

Kate erzählte schließlich ihre Geschichte, und zwar, wie sie fand, fast auf Schwägerinnen-Art. Sie schloß mit dem Geständnis ihrer abgrundtiefen Aufregung bei dem Gedanken an die Lektüre der Briefe von Dorothy Whitmore, die, das hatte sie bereits herausge-funden, in der Somerville-Bibliothek lagen. »Die Whitmore hat ihre Briefe der Mutter von Max hinterlassen, und der hat sie dem Somerville College übergeben. Ich bin ganz ungeduldig, sie während meines Besuchs hier lesen zu können. In Sachen Whitmore ist deine Situation eine äußerst glückliche Fügung.« Das brachte sie auf Gerry Marston. Kates Bericht war, wie unter Freundinnen, die sich auf Konversation verstanden, üblich, voller Abschweifungen. Doch stets fand sie wieder zum Hauptstrom zurück, ganz wie in der mittelalterlichen Literatur.

»Willst du damit sagen, daß Max sie getötet hat?« fragte Phyllis.

»Nein, natürlich nicht. Zumindest glaube ich das nicht. Max mag jemanden durch Verachtung zu Eis erstarren lassen, aber Gewalttä-

tigkeit ist nicht sein Stil. Selbst wenn er einen noch so geringfügigen Grund gehabt hätte, sie zu töten. Was ja nicht der Fall war. Max ist ein wahrer Gentleman, das heißt, er ist nie zufällig unhöflich zu jemandem, aber bestimmt gehen noch nicht einmal seine vernich-tendsten Gedanken bis zur schweren Körperverletzung. Seltsam ist das Ganze allerdings schon. Und deswegen bin ich so wild darauf, mehr über die Whitmore und die Hutchins zu erfahren. Phyllis, müssen wir wirklich ausgehen? Könnten wir nicht hier eine Shepherd’s Pie von Marks & Spencer vertilgen und uns in aller Ruhe einen an-trinken?«

»Warum nicht? Ich habe sogar Bier im Haus, in Pfandflaschen, Gott segne die Engländer. Ich schalte jetzt den Herd ein, dann können wir in drei Stunden essen. Die Explosion, die du gleich hören wirst, gehört zur häuslichen Inszenierung, also keine Panik bitte.«

Als sie nach wenigen Augenblicken zurückkam und die angekündigte Explosion ausgeblieben war, verkündete sie, daß ihr eine Idee gekommen sei. »Wir essen kein Shepherd’s Pie und trinken kein Flaschenbier, sondern bummeln den Fluß entlang nach Binsey und essen im Garten von Perch Sandwiches mit Käse und Pickles.

Bist du immer noch die größte Wanderin aller Zeiten?«

»Immer noch. Ich erinnere mich an den Weg, an die Boote und 105

die Schwäne.«

»Die gibt es immer noch«, versicherte Phyllis, »und dazu eine Menge herumliegenden Abfall, wie leider überall auf der Welt. Ich brauche dir ja nicht zu sagen, daß man in England nicht zurecht-kommt, wenn man sich nicht als erstes die Öffnungszeiten merkt –

warum sollten uns die Engländer das Leben auch leicht machen und zulassen, daß man dann einen Schluck trinkt, wenn einem danach zumute ist? Aber so bekommt mein Tag wenigstens eine Struktur.

Das sieht dann so aus: Ich gehe zum Markt, und auf dem Rückweg hat das Lamb & Flag auf, wo ich ein Bier trinke. Jetzt haben wir noch Zeit für einen Drink, und um uns etwas zurechtzumachen.

Wenn wir zurückkommen, wird Hugh zu Hause sein, und von ihm erfährst du dann alles über Oxford aus der Sicht des Mannes. Glaube mir, verglichen mit dem Leben einer Frau hier, die nicht das Glück hat, irgendwo dazuzugehören, ist es der Himmel auf Erden; auch wenn Hugh permanent darüber stöhnt, daß englische Tierliebe aus einer Labormaus gleich eine Staatsaffäre macht. Irgendwer aus Hughs Labor ist jedenfalls wegen Tierquälerei von Garnelen vor den Kadi gekommen, ob du es glaubst oder nicht.«

Sie brachen in eine Richtung auf, die man gewöhnlich keinem Gast empfiehlt, der nach All Souls eingeladen ist. Sie wanderten dem

– wie Phyllis es genannt hatte – Arbeiterklassen-Ende der St. Bernard’s Road entgegen und kamen an einem Pub vorbei, das offensichtlich der Treffpunkt der dortigen Jugend war. Weder Abfall noch Lärm ließen den Schluß zu, Englands Heranwachsende könnten in Fragen der Ordentlichkeit und Zurückhaltung ihren amerikanischen Generationsgenossen etwas voraus haben. »Leo würde es gefallen«, sagte Kate, »daß man in England offenbar mit dem Biertrinken schon vor der Pubertät anfangen kann. In den Staaten muß er dauernd nachweisen, daß er schon achtzehn ist, und das ist schwierig, weil er es eben noch nicht ist.«

Sie überquerten die Walton Street und gingen die Walton Well Road hinunter. Unmittelbar danach kamen sie zu der Brücke, die über die Bahngeleise führte. Von dort hatten sie einen ungehinderten Blick auf eine Fabrik – was sie produzierte, war nicht auszumachen

–, und schon waren sie auf dem Land. Dieser schnelle Übergang von gepflasterten Straßen zu Feldern gehörte für Kate zum Wesen Englands (was immer das hieß), und sie fragte sich, wie lange England diesen Charakter wohl gegen das Ausufern der Vorstädte und Wohnblocks würde bewahren können. Bisher war die Stadtplanung 106

in England ebenso wie der Rundfunk dem amerikanischen System überlegen, die Architektur der Städte dagegen nicht. Sie überquerten den Fluß, gingen durch ein Tor und waren nun auf dem Treidelpfad zum Perch. Das ganze Anwesen wirkte, zumindest von außen, so pittoresk, daß Kate sich, wie stets in solchen Momenten, fragte, ob sie sich nicht eine Arbeit in England suchen sollte und ein Landhaus in der Nähe. Vielleicht hatte Phyllis, die jetzt an der St. Bernard’s Road auf den Sandbänken der Langeweile gestrandet war, einmal den gleichen Traum gehabt.

Sie gingen hinein, wo alles recht modern war, bekamen ihre Sandwiches mit Käse und Pickles, bestellten jede ein Pint Bier und gingen durch einen Raum voll lauter Unbeschwertheit in den Garten.

Hier waren sie, so wollte es der Zufall, allein, wahrscheinlich, weil die Engländer ordentlich und zivilisiert ihr Bier nur in geschlossenen Räumen trinken. Auf dem Dach des Pubs hockten zwei große weiße Tauben mit zu Fächern gespreizten Schwanzfedern und sahen aus wie auf einer Zeichnung von Blake.

»Das ist keine Halluzination«, sagte Phyllis, als sie Kates Blick folgte. »Die leben hier. Sie mausern oder brüten oder machen gerade sonst etwas, wobei sie stillsitzen müssen. Deshalb sehen sie wie Statuen aus. Hugh und ich haben vor kurzem mit ihrem Besitzer gesprochen. Also, Kate, jetzt beginnen deine Abenteuer mit der Oxforder Nachkriegs-Generation. Du hältst mich doch auf dem laufenden, ja? Ich komme mir vor wie eine dieser gelangweilten Frauen, die anfangen zu töpfern oder zu backen, wenn die Kinder in die Schule kommen, weil niemand sie mehr braucht, außer sie selbst.

Wir glauben immer, wir wünschen uns ein Leben voll Spontaneität und Improvisation, wenn wir in die Jahre gekommen sind, aber so improvisiert wie das hier hatte ich es mir nicht vorgestellt.« Für einen Moment konnte man die Langeweile und die Niedergeschla-genheit hinter ihrem munteren Gerede spüren.

»Ganz sicher halte ich dich auf dem laufenden«, sagte Kate.

»Teilen wir uns noch ein Sandwich mit Käse und Pickles?«

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