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So ließ sich Kate in einer der Fensternischen der Somerville-Bibliothek mit Blick auf die Tennisplätze und die großen Buchen dahinter nieder und widmete sich den Briefen der Whitmore. Vor allem die Briefe, die Dorothy aus Frankreich, wo sie im Frauenkorps der britischen Army diente, an ihre Familie geschrieben hatte, faszi-nierten sie. Nachts hatte sie bei Kerzenschein ihre Geschichten geschrieben und sie den Männern zum Spaß erzählt. Natürlich war sie aus dem Krieg zurückgekehrt mit der Vorstellung, sie könnte die Welt retten. Der Völkerbund und all diese Dinge… Niemand konnte die Welt retten. Aber wie wunderbar, es wenigstens für eine kurze Zeit geglaubt zu haben.
Kate las die Briefe, blickte hinaus in das Hofviereck und versuchte sich vorzustellen, wie es damals ausgesehen haben mochte, als die Whitmore am Michaelstag 1919 zurückgekommen war. Das folgende Jahr war das letzte ihres Studiums. Das Statut, nach dem auch Frauen Examina ablegen durften, trat in Kraft, und die erste feierli-che Diplomverleihung, an der Frauen teilnahmen, hatte das Sheldonian gewiß verändert, dachte Kate. Sie war wohl eine Zeremonie geworden, wie sie Regisseure in den unschuldigen Tagen des Holly-wood-Films gern ans Ende ihrer Streifen stellten. Mit den Worten von Vera Brittain: »Von den Rängen der Aula des Sheldonian, wo alles erfüllt war von dem Bewußtsein eines erfüllten Traumes, sahen junge und ältere Zuschauer hinab… auf eine komplizierte Zeremonie. Dann öffneten sich die großen Türen am Südflügel, und die fünf ersten examinierten Frauen betraten in Barett und Talar den Saal…
Nach einem Moment der Stille hallte die Aula wider von spontanem Applaus, und der Vizekanzler erhob sich, um an diesem historischen Platz die ersten Frauen in den Kreis der ›Masters of Arts‹ aufzuneh-men.« Für die Welt draußen hatte das Parlament den Frauen das Stimmrecht zugestanden und Oxford damit von der Gefahr der Ex-zentrizität befreit. Kate stellte sich vor, wie 1920 der ungewohnte Anblick von Frauen, die in Talaren und Studententrachten auf Fahrrädern durch die Stadt sausten und genau wie heute beim Läuten der Glocken in Säle eilten, die Hoffnung auf Fortschritt beflügelt haben mochte. Es mußte tatsächlich eine Zeit voller Erwartungen gewesen sein. Und der Krieg war natürlich vorüber und würde nie zurückkehren.
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Morgens, bevor Kate ihr Hotel verließ und ins Somerville fuhr, wurde ihre Post zugestellt. Auch darin hatte England sich, wenn auch widerstrebend, dem allgemeinen Standard angepaßt. Es gab nicht mehr mehrere Zustellungen pro Tag. Nur wenige erinnerten sich noch an Zeiten, als man beim Lebensmittelhändler per Postkarte bestellte und der noch am selben Tag lieferte. Immerhin kam die Post vor neun Uhr morgens, so daß man bei Tagesbeginn wußte, woran man war.
Am Morgen des sechsten Tages erhielt Kate drei Briefe. Als ersten öffnete sie den von Reed. Im vorletzten Absatz versicherte er ihr, daß der Wirbel am St. Anthony’s sich entwickelte wie erwartet. Die Lehrerschaft zeigte sich von den Neuigkeiten wie betäubt, und das nach Reeds Vermutung nicht zuletzt deswegen, weil sie durch Schü-
ler davon erfahren hatte. Ihre Reaktionen waren unterschiedlich ausgefallen, und Leo und die übrigen Schüler hatten, wie Reed vo-rausgesehen hatte, eine Reihe spitzer Bemerkungen einstecken müssen. Das werde aber, meinte er, vorbeigehen. Sie solle sich keine Sorgen machen. Er habe Leo gebeten, ihr zu schreiben.
Leos Brief, den Kate als nächsten öffnete, war außerordentlich beruhigend, weil er auf die Angelegenheit mit keinem Wort einging.
Leo hatte offenbar begriffen, daß sein Brief sie in erster Linie beruhigen sollte. »Liebe Kate«, schrieb er, »hier läuft alles prima. Keine besonderen Vorkommnisse, obwohl Reed sagt, er würde Dir schreiben, was los ist. Ich habe alle Bücher gelesen, die ich erst für die Schlußexamen Ende Mai hätte lesen müssen. Wie Du weißt, habe ich im letzten Semester nur Mistkurse belegt (mit denen er – und er wußte, daß Kate wußte – Literaturkurse meinte). Warum schaust Du Dir trotz all Deiner hochtrabenden Unternehmungen nicht mal ein richtiges Fußballspiel an? Fußball ist in Europa und Südamerika das Spiel der Spiele, und Du solltest Dir ein Match ansehen, auch wenn es kein Spiel der Tabellenersten ist. Ist wirklich super. Wenn es geht, setz Dich neben einen, der Dir die Spielzüge erklären kann. Du schaffst das bestimmt. Herzlich, Leo.« Kate bewunderte Leos Beru-higungstalent und die Art, wie er mit dem nächsten Schlenker selbst aus der Ferne wieder den sicheren Boden des Sports erreichte.
Der dritte Brief war um einiges dicker und stammte von Crackthorne.
»Liebe Kate«, schrieb er, »das Ende der Basketball-Saison gibt mir die Zeit, für Sie ein paar literarische Recherchen anzustellen. Ich habe einiges von Graves wiedergelesen, und natürlich war er mit 109
Ihrem Verein nicht nur in Oxford, sondern auch am Somerville!
Nicht, daß er die Whitmore, die Hutchins oder andere Studentinnen erwähnt, aber man bekommt auf alle Fälle ein anderes Bild von dem Leben dort, wenn es das ist, was Sie suchen. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß Somerville ein Lazarett war, als Graves vor seiner Demobilisierung dorthin kam. Eine Zeitlang war er in Wadham, wo er Offiziere ausbildete. Aber die deprimierende und harte Arbeit setzte ihm so zu, daß er wieder in Somerville landete. Dort lümmelten sich die Männer in Pyjama und Morgenmantel herum, und manchmal schlenderten sie in diesem Aufzug sogar die St. Giles hinunter. Was war nur aus Oxford geworden? Aber das gesellschaftliche Leben war – wie Graves in diesem Zusammenhang betont –
aus den Fugen geraten. Der Lehrer, der ihm bei seinem Eintritt ins College (wohl gleichzeitig mit Ihrer Clique) als Tutor zugewiesen wurde, war nun Korporal und salutierte bei jeder Begegnung mit Graves, dem Captain. Aldous Huxley, über den wir uns bei dem großen Basketball-Sieg von St. Anthony’s unterhalten haben, war auch dort – als eines der wenigen im Hause lebenden Erstsemester.
Graves pflegte Garsington zu besuchen, wohin jeder, aber wirklich jeder, ging, meine Liebe. Clive Bell hat den Krieg als Kuhhirt auf der Garsington-Farm hinter sich gebracht. Alle Kriegsdienstverwei-gerer versammelten sich dort, offenbar weil die Morrells Pazifisten waren. Aber ich werde mich nicht von Graves’ Geschichten mitrei-
ßen lassen.
Als Graves schließlich den Dienst quittierte und nach Oxford zu-rückging, besuchte er das St. John’s College, wohnte aber mit all den anderen Dichtern auf Boar’s Hill. Ich wette, Ihr Trio ist auch dort gewesen. Und mehr noch: Graves heiratete eine Feministin, die sich erstaunlich modern anhört und Whitmore & Co. ziemlich gut gekannt haben muß. Graves’ Frau behielt ihren Mädchennamen, war Atheistin (›Gott ist ein Mann, also kann das alles nur Quatsch sein‹, war ihr unvergeßlicher Kommentar) und hätte sich fast geweigert zu heiraten, als sie am Tag ihrer Hochzeit zum erstenmal den Text der vorgesehenen Trauzeremonie las, ganz wie die Lady in Shaws Stück.
Ich wünschte, Graves hätte Ihre Leute einmal erwähnt, aber er kam offenbar nicht mehr nach Somerville zurück; er hatte zuviel zu tun damit, T. E. Lawrence am All Souls zu treffen, dem frauenfeindli-chen Ort par excellence. All das wäre sicher eher ein Gespräch bei einem Basketball-Spiel wert als einen Briefwechsel zwischen zwei Wissenschaftlern oder gar zwischen einem Doktoranden und seiner 110
Sponsorin. Aber Sie haben inzwischen ohne Zweifel bemerkt, daß mir Frivolitäten liegen. Um noch einmal auf All Souls zurückzukommen: Graves und Lawrence (wieder T. E. D. H. widmete sich stets ernsteren und wichtigeren Dingen) hatten einmal vor, dem Magdalen College die Rehe zu stehlen und sie in den kleinen Innen-hof von All Souls zu schaffen. Der Plan platzte leider, sonst wäre den Rehen vielleicht etwas geglückt, was den Frauen nie gelungen ist. Lassen Sie es sich wohl ergehen, liebe Kate, und schicken Sie einmal eine Postkarte an ihren ergebenen Freund und Verehrer John Crackthorne«
Kate kicherte. Entweder hatte Crackthorne noch nichts von Leos Kalamitäten gehört, oder er hatte sich entschlossen, sie zu ignorieren.
Vielleicht dachte er auch, Kate wüßte noch nichts davon. Ein Brief über den Atlantik war kaum das richtige Medium für so ein delikates Thema. Kate verließ das Hotel und holte sich hinter dem Haus ihr Fahrrad, ein Transportmittel, dessen die Gäste des teuersten Hotels von Oxford sich in der Regel nicht zu bedienen pflegten. Mit entsprechender Mißbilligung sahen die Angestellten denn auch auf ihr Fahrrad herab, bis die Höhe des Trinkgelds sie in Verwirrung stürzte.
Kate war es ein Vergnügen, nun von ihren Briefen zu denen der Whitmore zu radeln, und sie freute sich schon auf den Nachmittags-tee bei Phyllis und Hugh.
»Wir können, wenn du unbedingt willst, Tee trinken«, sagte Phyllis, »aber ich habe auch etwas Härteres in petto, falls Hugh nicht erscheint.« Doch Hugh erschien. Es war Kates erste Begegnung mit ihm in Oxford. Als sie an jenem Abend aus Binsey zurückkamen, war er nicht zu Hause gewesen. Er begrüßte Kate mit einer Geste, die für ihn wohl schon Überschwang bedeutete. (Kate dachte auto-matisch an Watsons Schilderung von seiner Versöhnung mit Hol-mes: »Er zeigte nicht gerade Überschwang. Das tat er selten. Aber ich glaube, er war froh, mich zu sehen.«)
»Du mußt mir verzeihen, Kate«, sagte Hugh, »und mir deine Nachsicht dadurch beweisen, daß ich etwas für dich tun darf. Soll ich mit dir und Phyllis Boot fahren, euch zu einem Cricket-Spiel mit-nehmen oder zu einem Bootsrennen – was darf es sein?«
»Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, Sir«, antwortete Kate und dachte an Leos Brief, »dann würde ich gern ein Fußballspiel der Profiliga sehen.«
»Ein was bitte?« fragte Phyllis.
»Um Gottes willen, Phyllis«, sagte Hugh, »wo lebst du denn? Je-111
der redet doch darüber. Aber ich wußte nicht, daß Leute auch wirklich hingehen. Ich dachte, diese Spiele wären gefährlich und arteten in Schlägereien aus, bei denen die Leute sich gegenseitig die Tor-pfosten auf die Köpfe hauen.«
»Prima«, sagte Phyllis. »Das hört sich nach Randale und damit furchtbar unenglisch an. Da gehen wir hin.«
»Phyllis, mein Liebes«, sagte Hugh und griff nach einem Rosi-nenbrötchen, »ich weiß nicht, was in diesem Jahr über dich gekommen ist. Du hast früher nie etwas nur deswegen unternommen, weil ich dagegen war.«
»Ich weiß, mein armer Hugh, ich weiß. Ich werde das Fußball-match also lassen«, sagte Phyllis und sank so tief in die zusamm-menbruchgefährdete Couch, daß ihre Schultern und Knie auf einer Höhe waren. »Es ist diese schrecklich maskuline Lebensart hier, die mich fertigmacht. Vielleicht würde ein Mann, der in Oxford lebt, nicht das geringste mit der Universität zu tun hat und dann eine Professorin heiratet, genauso leiden. Aber ich bezweifle das, selbst wenn solch eine Situation denkbar wäre. Er wäre dann Schriftsteller oder Laborgehilfe oder Busfahrer oder sonst etwas: Du machst dir keine Vorstellung, wie zufrieden die Frauen in England mit ihrem Sklavin-nendasein sind, wenn sie keinen Beruf ausüben.«
Hugh kicherte, und während Kate ihm zuhörte, spürte sie plötzlich mit großer Gefühlsaufwallung, warum diese Ehe fünfundzwanzig Jahre so triumphal überdauert hatte. »Ich liebe es gar nicht, der anderen Seite recht zu geben«, sagte er, »aber weißt du, ich finde es auch erstaunlich – hilfsbereiter und liebevoller amerikanischer Ehemann, der ich bin, und verheiratet mit einer Frau, die neben anderen Qualitäten Verstand und einen eigenen Willen besitzt. Ich werde zum Beispiel zum Tee eingeladen – meine Liebe, du hast keine Vorstellung, wie oft. Die armen Kerle glauben, sie müßten mich wenigstens einmal zu sich nach Hause einladen, und ein Dinner ist zweifellos eine teure Angelegenheit und ein Horror. Und, Kate, es ist wirklich so, als hätten diese Männer eine perfekt funktionierende Dienerin. Wir kommen an, werden charmant begrüßt, die Frau benimmt sich wie eine kleine Geisha, der die Faszination, die dieser Job eigentlich erfordert, abhanden gekommen ist. Dann wird der Tee serviert. Ich meine, da wird wirklich aufgefahren, alle möglichen Sorten Kuchen und Sandwiches und was sie sonst noch in stundenlanger Arbeit zusammengebruzzelt hat, und nachdem wir uns vollgestopft und ihr gesagt haben, wie gut der Tee war, stehen wir auf und gehen.
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Ich bedanke mich höflich, und ihr Mann, mein Kollege, gibt ihr einen flüchtigen Kuß und sagt übersetzt: ›Warte nicht auf mich, wenn ich da bin, bin ich da.‹ Ich will es nicht leugnen: Als die Frauenbewegung in den Staaten in Gang kam, träumte ich oft von einer kleinen, fügsamen Frau, deren Leben sich nur um mich dreht, aber weißt du, ich habe entdeckt, daß das nicht nur peinlich ist, sondern auch schlecht für den Charakter. In unserem Labor arbeitet eine Frau, mit der ich mich darüber unterhalten habe. Sie ist eine sehr wichtige Frau, die ihren Job versteht. ›Ach, ja‹, sagte sie, als hätte ich sie gefragt, warum manche Männer in Oxford während der Achter-Woche nichts mit Ruderbooten zu tun haben wollen: ›Die meisten englischen Frauen haben kein Interesse an Befreiung‹. Es klang, als spräche sie über Backgammon oder, mehr von oben herab, über eine neue, vorübergehende Mode. Und dabei ist sie, um das schreckliche Wort zu gebrauchen, weitaus befreiter als jede amerikanische Frau, der ich bisher in meinem Beruf begegnet bin. Macht ihre Arbeit, ist froh, sie zu haben, und fertig.«
»Hugh«, sagte Phyllis und starrte ihn an, »das ist die längste Re-de, die du jemals in meiner Gegenwart gehalten hast, seit deinen ersten Ausbrüchen des Entzückens über mich seinerzeit. Mehr noch, es ist der größte Tribut, der je der amerikanischen Frauenbewegung gezollt worden ist. Vergib mir, daß ich überhaupt an das Fußballspiel gedacht habe.«
»Ich hätte dir dabei ohnehin keine Hilfe sein können, meine Liebe. Ich mache mir nicht viel aus dem Herumgehüpfe der unteren Klassen. Mein Angebot bezog sich nur auf elegante Oxforder Ereignisse. Ich hatte so etwas wie einen angenehmen Nachmittag auf dem Balliol-Cricketfeld im Sinn. Das Angebot gilt noch immer. Leben Sie wohl, meine Damen. Ich bin froh, Kate, dich endlich wiedergesehen zu haben.«
»Auf diese Weise verschwindet er immer«, sagte Phyllis, als Hugh gegangen war.
»So läuft das also mit den Einladungen zum Tee. Vielleicht sollte jede Frau ein Jahr das Heimchen am Herd spielen. Danke deinem Schicksal, daß es für dich keine lebenslange Verpflichtung wird.
Aber ich muß zugeben«, lachte Kate, »er ist mit unziemlicher Hast in seine gepflegte männliche Welt zurückgeschlüpft. Immerhin hat sie aus ihm einen Feministen gemacht, das sollten wir nicht vergessen.«
»Stimmt. Erzähl mir von der Whitmore – das ist schöner als jede Seifenoper.«
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»Ich hoffe, ihr Leben war nicht so«, sagte Kate.
»Ich meine Seifenoper nur als tägliche Fortsetzungsgeschichte.
Außerdem weiß ich nicht, was diese ganzen Vorurteile gegen Sei-fenopern sollen. Sie sind bloß die weibliche Version des Melodrams und oft viel besser. Jedenfalls habe ich von deiner Whitmore und ihren Freundinnen Cecily und Frederica Tupe – was für ein sagen-hafter Name! – den Eindruck, daß sie zumindest anfangs, bevor die Tupe eine Reston wurde und Cecily eine Ricardo, eine klarere Vorstellung von ihrem Leben hatten als wir heutzutage von unserem.
Oder entwirft man sich da ein falsches Bild von dieser Zeit?«
»Ich glaube nicht, daß es damals so anders war als heute«, sagte Kate. »Als die Whitmore, die Hutchins und die Tupe nach London gingen und als Freischaffende von eigenen Einkünften und einer kleinen Unterstützung ihrer Familien lebten, haben bestimmt genauso viele Leute die Augenbrauen hochgezogen wie heute. Es scheint klarer, weil sie ungewöhnlich genau wußten, was sie wollten. Leute, die wissen, was sie wollen, sind immer ungewöhnlich, vor allem dann, wenn das, was sie wollen, nicht auf den Wegen liegt, die die Gesellschaft ihrer Jugend vorschreibt. Die Schule von Dorothy Whitmore wurde im Krieg bombardiert – ich meine, von feindlicher Schiffsartillerie beschossen. Sie entdeckte nicht nur, wie aufregend das alles war, wie aufregend es war, eine von denen zu sein, die in der Schule an der Küste zurückgeblieben war, als ängstliche Eltern ihre nach Ansicht der Whitmore weniger glücklichen Töchter dort abgeholt hatten. Sie erlebte, daß Mut keine den Männern vorbehalte-ne Tugend ist. Ich meine Mut, wenn rundherum geschossen wird.
Ein junger Mann aus der nahegelegenen Stadt griff sich damals, als die Bombardierung begann, ein Pferd und ritt fast eine Gruppe Kinder über den Haufen, als er sich davonmachte. Gleichzeitig halfen die Frauen in der Schule allen ruhig und besonnen. Später hat sie dann einen Bruder im Krieg verloren und wußte, daß sie den gleichen Mut aufbringen mußte wie er, also ihr Leben einsetzen und der Welt beweisen, daß er seines nicht umsonst eingesetzt hatte. Das war natürlich auch der Grund, warum sie zur Army ging.«
»Was hat sie im Krieg eigentlich gemacht? Krankenpflege?«
»Nein, sie war richtig in der Army – Queen Mary’s Hilfskorps hieß es exakt. Das war alles sehr gewagt und neu damals, und sie war Sergeant. Ließ die Mädels in Reih und Glied marschieren und bellte Befehle: ›Links marsch, marsch, Augen rechts‹ – es muß ein großer Spaß gewesen sein für eine Frau, die nie damenhaft sein woll-114
te, wie eine Walküre gebaut war und aussah wie Pallas Athene.«
»Einen Offiziersrang hatte sie also nicht, obwohl sie vom Somerville kam?«
»Nein. Ich glaube, den hatten nicht viele Frauen, bis auf die Krankenschwestern, die fürchterlich isoliert waren, die armen Dinger. Sie durften nicht mit den Soldaten in die Kneipe gehen und sich auch nicht mit den Offizieren treffen. Als die Whitmore schließlich in Frankreich in einer Nachrichteneinheit landete, gab es dort nur einen einzigen weiblichen Offizier. Sie waren Telegrafistinnen, muß-
ten Telefonleitungen reparieren und Büroarbeiten erledigen – lauter solche Dinge. Sie waren einer männlichen Nachrichteneinheit ange-schlossen und in einem schwer bombardierten Gebiet stationiert.
Deswegen waren die beiden Einheiten – vielleicht waren sie in Wirklichkeit auch nur eine; in militärischen Fragen bin ich ziemlich schwach – im Hinterland verborgen, und die Whitmore pflegte mit ein paar Soldaten auszureiten. Ihre Briefe sind bemerkenswert. Offen gesagt, wenn ich mir ein männliches Armeekorps von Amerikanern vorstelle, gehe ich davon aus, daß sie jede Frau vergewaltigen, die ihnen über den Weg läuft, wie man das immer im Theater und in Filmen sieht; aber dort hat scheinbar über allem eine gewisse Unschuld gelegen. Bei dem, was die Franzosen gewöhnlich von den Engländern halten, vermuteten sie natürlich das Schlimmste, aber da lagen sie, zumindest nach Darstellung der Whitmore, völlig falsch.
Die weiblichen Soldaten und die ›Tommies‹ stellten so etwas wie eine Einheit dar. Und natürlich ging gerade eine Welt unter.«
»Und dann ging sie zurück nach Somerville?«
»Zum Herbstsemester 1919. Und sie teilte sich mit der Tupe oder der Hutchins oder vielleicht beiden ein Eisenbahnabteil. Jedenfalls trafen sie sich. Im folgenden Jahr wohnten sie zusammen in möblier-ten Wohnungen, wahrscheinlich nicht weit von deinem Hotel. Dann gingen sie zusammen nach London, fingen an zu schreiben, trafen interessante Leute und genossen die goldenen Zwanziger. Die Tupe verkümmerte zum Eheweib, aber die beiden anderen machten noch eine Reihe von Jahren weiter. Schließlich heiratete die Hutchins ihren Ricardo und ging nach Amerika. Sie entdeckte das Geheimnis von Kunst und Einsamkeit, aber die Whitmore? Die kämpfte weiter für die beiden Ideen, die sie nicht losließen: Die Frauen sollten aufhören zu glauben, Gott habe sie zu Dienerinnen bestimmt, und sie sollten mehr aus ihrem Leben machen. Alle ihre Romane und Gedichte waren Versuche, das Leben einzufangen, und zwar unter der 115
Oberfläche des Alltags. Die Kritiker haben sie, abgesehen von ihrem letzten Roman, nicht zur Kenntnis genommen, und den haben sie ignoriert, weil er populär war. Sie hielt durch, bis sie ›North Country Wind‹ vollendet hatte, darauf gibt es eine Menge Hinweise. Nun ja«, schloß Kate schwach, »jetzt sind alle tot.«
»Aber weißt du«, sagte Phyllis, »mit den Klassenunterschieden sieht das heute noch genauso aus. Hugh hat überhaupt keinen Witz gemacht, als er in seiner neuen Oxford-Manier über die unteren Klassen beim Fußball sprach. Wie er mir sagte, hat er sich im Leh-rerzimmer einmal nach einem jüngeren Kollegen erkundigt und als Antwort erhalten, dessen Vorfahren seien nicht eben kultivierte Leute gewesen.«
»Es fällt mir zwar jetzt erst auf«, sagte Kate, »aber ich möchte behaupten, daß die meisten Profisportler in Amerika nicht eben aus höheren Gesellschaftskreisen stammen – nur fühlt sich kein Mensch bemüßigt, das zu erwähnen. Ist England immer noch so irrsinnig klassenfixiert wie früher, oder bekommt Hugh zufällig bei seiner Arbeit nur mit verknöcherten Leuten zu tun?«
»Ganz und gar nicht. Da gab es zum Beispiel einen ganz jungen Mann in Hughs Labor, der ursprünglich mit dem Stipendium einer staatlichen Schule nach Oxford gekommen war. Kaum hatte er mit dem Studium angefangen, ging er zu einem Treffen eines sozialisti-schen Clubs. Die erste Frage, die ihm einer der Anwesenden stellte, war, auf welche Privatschule er gegangen sei. Er hat bis heute nicht aufgehört, sich zu ärgern, sagt Hugh. Und er hat seitdem einen akademischen Erfolg nach dem anderen.«
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